Michael Ende. MOMO

Im Dunkel scheint dein Licht.

Woher, ich weiß es nicht.

Es scheint so nah und doch so fern.

Ich weiß nicht, wie du heißt.

Was du auch immer seist:

Schimmere, schimmere, kleiner Stern!

(Nach einem alten irischen Kinderlied)

ERSTER TEIL:

MOMO UND IHRE FREUNDE

ERSTES KAPITEL

Eine große Stadt und ein kleines Mädchen

In alten, alten Zeiten, als die Menschen noch in ganz anderen Sprachen redeten, gab es in den

warmen Ländern schon große und prächtige Städte. Da erhoben sich die Paläste der Könige

und Kaiser, da gab es breite Straßen, enge Gassen und winkelige Gäßchen, da standen

herrliche Tempel mit goldenen und marmornen Götterstatuen, da gab es bunte Märkte, wo

Waren aus aller Herren Länder feilgeboten wurden, und weite schöne Plätze, wo die Leute

sich versammelten, um Neuigkeiten zu besprechen und Reden zu halten oder anzuhören. Und

vor allem gab es dort große Theater.

Sie sahen ähnlich aus, wie ein Zirkus noch heute aussieht, nur daß sie ganz und gar aus

Steinblöcken gefügt waren. Die Sitzreihen für die Zuschauer lagen stufenförmig übereinander

wie in einem gewaltigen Trichter. Von oben gesehen waren manche dieser Bauwerke

kreisrund, andere mehr oval und wieder andere bildeten einen weiten Halbkreis. Man nannte

sie Amphitheater.

Es gab welche, die groß waren wie ein Fußballstadion, und kleinere, in die nur ein paar

hundert Zuschauer paßten. Es gab prächtige, mit Säulen und Figuren verzierte, und solche, die

schlicht und schmucklos waren. Dächer hatten diese Amphitheater nicht, alles fand unter

freiem Himmel statt. In den prachtvollen Theatern waren deshalb golddurchwirkte Teppiche

über die Sitzreihen gespannt, um das Publikum vor der Glut der Sonne oder vor plötzlichen

Regenschauern zu schützen. In den einfachen Theatern dienten Matten aus Binsen und Stroh

dem gleichen Zweck. Mit einem Wort: die Theater waren so, wie die Leute es sich leisten

konnten. Aber haben wollten sie alle eins, denn sie waren leidenschaftliche Zuhörer und

Zuschauer.Und wenn sie den ergreifenden oder auch den komischen Begebenheiten

lauschten, die auf der Bühne dargestellt wurden, dann war es ihnen, als ob jenes nur gespielte

Leben auf geheimnisvolle Weise wirklicher wäre, als ihr eigenes, alltägliches. Und sie liebten

es, auf diese andere Wirklichkeit hinzuhorchen.

Jahrtausende sind seither vergangen. Die großen Städte von damals sind zerfallen, die Tempel

und Paläste sind eingestürzt. Wind und Regen, Kälte und Hitze haben die Steine abgeschliffen

und ausgehöhlt, und auch von den großen Theatern stehen nur noch Ruinen. Im geborstenen

Gemäuer singen nun die Zikaden ihr eintöniges Lied, das sich anhört, als ob die Erde im

Schlaf atmet.

Aber einige dieser alten, großen Städte sind große Städte geblieben bis auf den heutigen Tag.

Natürlich ist das Leben in ihnen anders geworden. Die Menschen fahren mit Autos und

Straßenbahnen, haben Telefon und elektrisches Licht. Aber da und dort zwischen den neuen

Gebäuden stehen noch ein paar Säulen, ein Tor, ein Stück Mauer, oder auch ein Amphitheater

aus jenen alten Tagen. Und in einer solchen Stadt hat sich die Geschichte von Momo begeben.

Draußen am südlichen Rand dieser großen Stadt, dort, wo schon die ersten Felder beginnen

und die Hütten und Häuser immer armseliger werden, liegt, in einem Pinienwäldchen

versteckt, die Ruine eines kleinen Amphitheaters. Es war auch in jenen alten Zeiten keines

von den prächtigen, es war schon damals sozusagen ein Theater für ärmere Leute. In unseren

Tagen, das heißt um jene Zeit, da die Geschichte von Momo ihren Anfang nahm, war die

Ruine fast ganz vergessen. Nur ein paar Professoren der Altertumswissenschaft wußten von

ihr, aber sie kümmerten sich nicht weiter um sie, weil es dort nichts mehr zu erforschen gab.

Sie war auch keine Sehenswürdigkeit, die sich mit anderen,

die es in der großen Stadt gab, messen konnte. So verirrten sich nur ab und zu ein paar

Touristen dort hin, kletterten auf den grasbewachsenen Sitzreihen umher, machten Lärm,

knipsten ein Erinnerungsfoto und gingen wieder fort. Dann kehrte die Stille in das steinerne

Rund zurück, und die Zikaden stimmten die nächste Strophe ihres endlosen Liedes an, die

sich übrigens in nichts von der vorigen unterschied. Eigentlich waren es nur die Leute aus der

näheren Umgebung, die das seltsame runde Bauwerk kannten. Sie ließen dort ihre Ziegen

weiden, die Kinder benutzten den runden Platz in der Mitte zum Ballspielen, und manchmal

trafen sich dort am Abend die Liebespaare. Aber eines Tages sprach es sich bei den Leuten

herum, daß neuerdings jemand in der Ruine wohne. Es sei ein Kind, ein kleines Mädchen

vermutlich. So genau könne man das allerdings nicht sagen, weil es ein bißchen merkwürdig

angezogen sei. Es hieße Momo oder so ähnlich. Momos äußere Erscheinung war in der Tat

ein wenig seltsam und konnte auf Menschen, die großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung

legen, möglicherweise etwas erschreckend wirken. Sie war klein und ziemlich mager, so daß

man beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie erst acht oder schon zwölf Jahre alt

war. Sie hatte einen wilden, pechschwarzen Lockenkopf, der so aussah, als ob er noch nie mit

einem Kamm oder einer Schere in Berührung gekommen wäre. Sie hatte sehr große,

wunderschöne und ebenfalls pechschwarze Augen und Füße von der gleichen Farbe, denn sie

lief fast immer barfuß. Nur im Winter trug sie manchmal Schuhe, aber es waren zwei

verschiedene, die nicht zusammenpaßten und ihr außerdem viel zu groß waren. Das kam

daher, daß Momo eben nichts besaß, als was sie irgendwo fand oder geschenkt bekam. Ihr

Rock war aus allerlei bunten Flicken zusammengenäht und reichte ihr bis auf die Fußknöchel.

Darüber trug sie eine alte, viel zu weite Männerjacke, deren Ärmel an den Handgelenken

umgekrempelt waren. Abschneiden wollte Momo sie nicht, weil sie vorsorglich daran dachte,

daß sie ja noch wachsen würde. Und wer konnte wissen, ob sie jemals wieder eine so schöne

und praktische Jacke mit so vielen Taschen finden würde.

Unter der grasbewachsenen Bühne der Theaterruine gab es ein paar halb eingestürzte

Kammern, die man durch ein Loch in der Außenmauer betreten konnte. Hier hatte Momo sich

häuslich eingerichtet. Eines Mittags kamen einige Männer und Frauen aus der näheren

Umgebung zu ihr und versuchten sie auszufragen. Momo stand ihnen gegenüber und guckte

sie ängstlich an, weil sie fürchtete, die Leute würden sie wegjagen. Aber sie merkte bald, daß

es freundliche Leute waren. Sie waren selber arm und kannten das Leben. »So«, sagte einer

der Männer, »hier gefällt es dir also?« »Ja«, antwortete Momo. »Und du willst hier bleiben?«

»Ja, gern.«

»Aber wirst du denn nirgendwo erwartet?« »Nein.«

»Ich meine, mußt du denn nicht wieder nach Hause?« »Ich bin hier zu Hause«, versicherte

Momo schnell. »Wo kommst du denn her, Kind?«

Momo machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, die irgendwohin in die Ferne

deutete.

»Wer sind denn deine Eltern?« forschte der Mann weiter. Das Kind schaute ihn und die

anderen Leute ratlos an und hob ein wenig die Schultern. Die Leute tauschten Blicke und

seufzten. »Du brauchst keine Angst zu haben«, fuhr der Mann fort, »wir wollen dich nicht

vertreiben. Wir wollen dir helfen.« Momo nickte stumm, aber noch nicht ganz überzeugt. »Du

sagst, daß du Momo heißt, nicht wahr?« »Ja.«

»Das ist ein hübscher Name, aber ich hab’ ihn noch nie gehört. Wer hat dir denn den Namen

gegeben?« »Ich«, sagte Momo. »Du hast dich selbst so genannt?« »Ja.«

»Wann bist du denn geboren?«

Momo überlegte und sagte schließlich: »Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon

da.«

»Hast du denn keine Tante, keinen Onkel, keine Großmutter, überhaupt keine Familie, wo du

hin kannst?«

Momo schaute den Mann nur an und schwieg eine Weile. Dann murmelte sie: »Ich bin hier zu

Hause.«

»Na ja«, meinte der Mann, »aber du bist doch ein Kind —wie alt bist du eigentlich?«

»Hundert«, sagte Momo zögernd. Die Leute lachten, weil sie es für einen Spaß hielten. »Also,

ernsthaft, wie alt bist du?«

»Hundertzwei«, antwortete Momo, noch ein wenig unsicherer. Es dauerte eine Weile, bis die

Leute merkten, daß das Kind nur ein paar Zahlwörter kannte, die es aufgeschnappt hatte, sich

aber nichts Bestimmtes darunter vorstellen konnte, weil niemand es Zählen gelehrt hatte.

»Hör mal«, sagte der Mann, nachdem er sich mit den anderen beraten hatte, »wäre es dir

recht, wenn wir der Polizei sagen, daß du hier bist? Dann würdest du in ein Heim kommen,

wo du zu essen kriegst und ein Bett hast und wo du rechnen und lesen und schreiben und noch

viel mehr lernen kannst. Was hältst du davon, eh?« Momo sah ihn erschrocken an.

»Nein«, murmelte sie, »da will ich nicht hin. Da war ich schon mal. Andere Kinder waren

auch da. Da waren Gitter an den Fenstern, jedenTag gab’s Prügel – aber ganz ungerecht. Da

bin ich nachts über die Mauer und weggelaufen. Da will ich nicht wieder hin.« »Das kann ich

verstehen«, sagte ein alter Mann und nickte. Und die anderen Leute konnten es auch

verstehen und nickten. »Also gut«, sagte eine Frau, »aber du bist doch noch klein. Irgendwer

muß doch für dich sorgen.« »Ich«, antwortete Momo erleichtert. »Kannst du das denn?«

fragte die Frau.

Momo schwieg eine Weile und sagte dann leise: »Ich brauch’ nicht viel. «

Wieder wechselten die Leute Blicke, seufzten und nickten. »Weißt du, Momo«, ergriff nun

wieder der Mann das Wort, der zuerst gesprochen hatte, »wir meinen, du könntest vielleicht

bei einem von uns unterkriechen. Wir haben zwar selber alle nur wenig Platz, und die meisten

haben schon einen Haufen Kinder, die gefüttert sein wollen, aber wir meinen, auf eines mehr

kommt es dann auch schon nicht mehr an. Was hältst du davon, eh?«

»Danke«, sagte Momo und lächelte zum ersten Mal, »vielen Dank! Aber könntet ihr mich

nicht einfach hier wohnen lassen?« Die Leute berieten lange hin und her, und zuletzt waren

sie einverstanden. Denn hier, so meinten sie, könne das Kind schließlich genausogut wohnen

wie bei einem von ihnen, und sorgen wollten sie alle gemeinsam für Momo, weil es für alle

zusammen sowieso einfacher wäre, als für einen allein.

Sie fingen gleich an, indem sie zunächst einmal die halb eingestürzte steinerne Kammer, in

der Momo hauste, aufräumten und instandsetzten, so gut es ging. Einer von ihnen, der Maurer

war, baute sogar einen kleinen steinernen Herd. Ein rostiges Ofenrohr wurde auch

aufgetrieben. Ein alter Schreiner nagelte aus ein paar Kistenbrettern ein Tischchen und zwei

Stühle zusammen. Und schließlich brachten die Frauen

noch ein ausgedientes, mit Schnörkeln verziertes Eisenbett, eine Matratze, die nur wenig

zerrissen war, und zwei Decken. Aus dem steinernen Loch unter der Bühne der Ruine war ein

behagliches kleines Zimmerchen geworden. Der Maurer, der künstlerische Fähigkeiten besaß,

malte zuletzt noch ein hübsches Blumenbild an die Wand. Sogar den Rahmen und den Nagel,

an dem das Bild hing, malte er dazu. Und dann kamen die Kinder der Leute und brachten, was

man an Essen erübrigen konnte, das eine ein Stückchen Käse, das andere einen kleinen

Brotwecken, das dritte etwas Obst und so fort. Und da es sehr viele Kinder waren, kam an

diesem Abend eine solche Menge zusammen, daß sie alle miteinander im Amphitheater ein

richtiges kleines Fest zu Ehren von Momos Einzug feiern konnten. Es war ein so vergnügtes

Fest, wie nur arme Leute es zu feiern verstehen. So begann die Freundschaft zwischen der

kleinen Momo und den Leuten der näheren Umgebung.

ZWEITES KAPITEL

Eine ungewöhnliche Eigenschaft und ein ganz gewöhnlicher Streit

Von nun an ging es der kleinen Momo gut, jedenfalls nach ihrer eigenen Meinung. Irgend

etwas zu essen hatte sie jetzt immer, mal mehr, mal weniger, wie es sich eben fügte und wie

die Leute es entbehren konnten. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, sie hatte ein Bett und sie

konnte sich, wenn es kalt war, ein Feuer machen. Und was das Wichtigste war: sie hatte viele

gute Freunde.

Man könnte nun denken, daß Momo ganz einfach großes Glück gehabt hatte, an so

freundliche Leute geraten zu sein -, und Momo selbst war durchaus dieser Ansicht. Aber auch

für die Leute stellte sich schon bald heraus, daß sie nicht weniger Glück gehabt hatten. Sie

brauchten Momo, und sie wunderten sich, wie sie früher ohne sie ausgekommen waren. Und

je länger das kleine Mädchen bei ihnen war, desto unentbehrlicher wurde es ihnen, so

unentbehrlich, daß sie nur noch fürchteten, es könnte eines Tages wieder auf und davon

gehen. So kam es, daß Momo sehr viel Besuch hatte. Man sah fast immer jemand bei ihr

sitzen, der angelegentlich mit ihr redete. Und wer sie brauchte und nicht kommen konnte,

schickte nach ihr, um sie zu holen. Und wer noch nicht gemerkt hatte, daß er sie brauchte, zu

dem sagten die ändern: »Geh doch zu Momo!«

Dieser Satz wurde nach und nach zu einer feststehenden Redensart bei den Leuten der

näheren Umgebung. So wie man sagt: »Alles Gute!« oder »Gesegnete Mahlzeit!« oder »Weiß

der liebe Himmel!«, genauso sagte man also bei allen möglichen Gelegenheiten: »Geh doch

zu Momo!« Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, daß sie jedem

Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand

Trost brauchte? Konnte sie weise und gerechte Urteile fällen?

Nein, das alles konnte Momo ebensowenig wie jedes andere Kind. Konnte Momo dann

vielleicht irgend etwas, das die Leute in gute Laune versetzte? Konnte sie zum Beispiel

besonders schön singen? Oder konnte sie irgendein Instrument spielen? Oder konnte sie – weil

sie doch in einer Art Zirkus wohnte – am Ende gar tanzen oder akrobatische Kunststücke

vorführen? Nein, das war es auch nicht.

Konnte sie vielleicht zaubern ? Wußte sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man

alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonstwie die

Zukunft voraussagen? Nichts von alledem.

Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts

Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.

Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie

Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.

Momo konnte so zuhören, daß dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen.

Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte,

nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme.

Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende

fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in

ihm steckten. Sie konnte so zuhören, daß ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz

genau wußten, was sie wollten. Oder daß Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten.

Oder daß Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand

meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter

Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden

kann wie ein kaputter Topf- und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann

wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, daß er sich gründlich

irrte, daß es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und daß

er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören !

Eines Tages kamen zwei Männer zu ihr ins Amphitheater, die sich auf den Tod zerstritten

hatten und nicht mehr miteinander reden wollten, obwohl sie Nachbarn waren. Die anderen

Leute hatten ihnen geraten, doch zu Momo zu gehen, denn es ginge nicht an, daß Nachbarn in

Feindschaft lebten. Die beiden Männer hatten sich anfangs geweigert und schließlich

widerwillig nachgegeben.

Nun saßen sie also im Amphitheater, stumm und feindselig, jeder auf einer anderen Seite der

steinernen Sitzreihen, und schauten finster vor sich hin.

Der eine war der Maurer, von dem der Ofen und das schöne Blumenbild in Momos

»Wohnzimmer« stammte. Er hieß Nicola und war ein starker Kerl mit einem schwarzen,

aufgezwirbelten Schnurrbart. Der andere hieß Nino. Er war mager und sah immer ein wenig

müde aus. Nino war Pächter eines kleinen Lokals am Stadtrand, in dem meistens nur ein paar

alte Männer saßen, die den ganzen Abend an einem einzigen Glas Wein tranken und von

ihren Erinnerungen redeten. Auch Nino und dessen dicke Frau gehörten zu Momos Freunden

und hatten ihr schon oft etwas Gutes zu essen gebracht. Da Momo nun merkte, daß die beiden

böse aufeinander waren, wußte

sie zunächst nicht, zu welchem sie zuerst hingehen sollte. Um keinen zu kränken, setzte sie

sich schließlich in gleichem Abstand von beiden auf den Rand der steinernen Bühne und

schaute die zwei abwechselnd an. Sie wartete einfach ab, was geschehen würde. Manche

Dinge brauchen ihre Zeit – und Zeit war ja das einzige, woran Momo reich war. Nachdem die

Männer lang so gesessen hatten, stand Nicola plötzlich auf und sagte: »Ich geh’. Ich hab’

meinen guten Willen gezeigt, indem ich überhaupt gekommen bin. Aber du siehst, Momo, er

ist verstockt. Wozu soll ich noch länger warten?« Und er wandte sich tatsächlich zum Gehen.

»Ja, mach, daß du wegkommst!« rief Nino ihm nach. »Du hättest erst gar nicht zu kommen

brauchen. Ich versöhne mich doch nicht mit einem Verbrecher!«

Nicola fuhr herum. Sein Gesicht war puterrot vor Zorn. »Wer ist hier ein Verbrecher?« fragte

er drohend und kam wieder zurück.

»Sag das noch mal!«

»Sooft du nur willst ! « schrie Nino. »Du glaubst wohl, weil du stark und brutal bist, wagt

niemand, dir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen? Aber ich, ich sage sie dir und allen, die sie

hören wollen! Ja, nur zu, komm doch her und bring mich um, wie du es schon mal tun

wolltest!« »Hält’ ich’s nur getan !« brüllte Nicola und ballte die Fäuste. »Aber da siehst du,

Momo, wie er lügt und verleumdet! Ich hab’ ihn nur beim Kragen genommen und in die

Spülwasserpfütze hinter seiner Spelunke geschmissen. Da drin kann nicht mal eine Ratte

ersaufen. « Und wieder zu Nino gewandt, schrie er: »Leider lebst du ja auch noch, wie man

sieht!«

Eine Zeitlang gingen die wildesten Beschimpfungen hin und her und Momo konnte nicht

schlau daraus werden, worum es überhaupt ging und weshalb die beiden so erbittert

aufeinander waren. Aber nach und nach kam heraus, daß Nicola diese Schandtat nur begangen

hatte, weil Nino ihm zuvor in Gegenwart einiger Gäste eine Ohrfeige gegeben hatte. Dem war

allerdings wieder vorausgegangen, daß Nicola versucht hatte, Ninos ganzes Geschirr zu

zertrümmern.

»Ist ja überhaupt nicht wahr !« verteidigte sich Nicola erbittert. »Einen einzigen Krug hab’ ich

an die Wand geschmissen, und der hatte sowieso schon einen Sprung!«

»Aber es war mein Krug, verstehst du?« erwiderte Nino. »Und überhaupt hast du kein Recht

zu so was!«

Nicola war durchaus der Ansicht, in gutem Recht gehandelt zu haben, denn Nino hatte ihn in

seiner Ehre als Maurer gekränkt. »Weißt du, was er über mich gesagt hat?« rief er Momo zu.

»Er hat gesagt, ich könne keine gerade Mauer bauen, weil ich Tag und Nacht betrunken sei.

Und sogar mein Urgroßvater wäre schon so gewesen, und er hätte am Schiefen Turm von Pisa

mitgebaut!« »Aber Nicola«, antwortete Nino, »das war doch nur Spaß!« »Ein schöner Spaß!«

grollte Nicola. »Über so was kann ich nicht lachen.«

Es stellte sich jedoch heraus, daß Nino damit nur einen anderen Spaß Nicolas zurückgezahlt

hatte. Eines Morgens hatte nämlich in knallroten Buchstaben auf Ninos Tür gestanden: »Wer

nichts wird, wird Wirt«. Und das fand wiederum Nino gar nicht komisch. Nun stritten sie eine

Weile todernst, welcher von den beiden Spaßen der bessere gewesen sei und redeten sich

wieder in Zorn. Aber plötzlich brachen sie ab.

Momo schaute sie groß an, und keiner der beiden konnte sich ihren Blick so recht deuten.

Machte sie sich im Inneren lustig über sie? Oder war sie traurig? Ihr Gesicht verriet es nicht.

Aber den Männern war plötzlich, als sähen sie sich selbst in einem Spiegel, und sie fingen an,

sich zu schämen.

»Gut«, sagte Nicola, »ich hätte das vielleicht nicht auf deine Tür schreiben sollen, Nino. Ich

hätte es auch nicht getan, wenn du dich nicht geweigert hättest, mir nur ein einziges Glas

Wein auszuschenken. Das war gegen das Gesetz, verstehst du ? Denn ich habe immer bezahlt,

und du hattest keinen Grund, mich so zu behandeln.« »Und ob ich den hatte!« gab Nino

zurück. »Erinnerst du dich nicht mehr an die Sache mit dem heiligen Antonius ? Ah, jetzt

wirst du blaß ! Da hast du mich nämlich nach Strich und Faden übers Ohr gehauen, und so

was muß ich mir nicht bieten lassen.« »Ich dich?« rief Nicola und schlug sich wild vor den

Kopf. »Umgekehrt wird ein Schuh draus ! Du wolltest mich hereinlegen, nur ist es dir nicht

gelungen ! «

Die Sache war die: In Ninos kleinem Lokal hatte ein Bild an der Wand gehangen, das den

heiligen Antonius darstellte. Es war ein Farbdruck, den Nino irgendwann einmal aus einer

Illustrierten ausgeschnitten und gerahmt hatte.

Eines Tages wollte Nicola Nino dieses Bild abhandeln – angeblich, weil er es so schön fand.

Und Nino hatte Nicola durch geschicktes Feilschen schließlich dazu gebracht, daß dieser

seinen Radioapparat zum Tausch bot. Nino lachte sich ins Fäustchen, denn natürlich schnitt

Nicola dabei ziemlich schlecht ab. Das Geschäft wurde gemacht. Nun stellte sich aber heraus,

daß zwischen dem Bild und der Rückwand aus Pappdeckel ein Geldschein steckte, von dem

Nino nichts gewußt hatte. Jetzt war er plötzlich der Übervorteilte, und das ärgerte ihn. Kurz

und bündig verlangte er von Nicola das Geld zurück, weil es nicht zu dem Tausch gehört

habe. Nicola weigerte sich, und daraufhin wollte Nino ihm nichts mehr ausschenken. So hatte

der Streit angefangen. Als die beiden die Sache nun bis zum Anfang zurückverfolgt hatten,

schwiegen sie eine Weile. Dann fragte Nino: »Sag mir jetzt einmal ganz ehrlich, Nicola —

hast du schon vor dem Tausch von dem Geld gewußt oder nicht?« »Klar, sonst hätte ich doch

den Tausch nicht gemacht.« »Dann mußt du doch zugeben, daß du mich betrogen hast!«

»Wieso? Hast du denn von dem Geld wirklich nichts gewußt?« »Nein, mein Ehrenwort!«

»Na, also. Dann wolltest du mich doch hereinlegen. Wie konntest du mir sonst für das

wertlose Stück Zeitungspapier mein Radio abnehmen, he?«

»Und wieso hast du von dem Geld gewußt?«

»Ich hab’ gesehen, wie es zwei Abende vorher ein Gast als Opfergabe für den heiligen

Antonius dort hineingesteckt hat.« Nino biß sich auf die Lippen. »War es viel?«

»Nicht mehr und nicht weniger, als mein Radio wert war«, antwortete Nicola.

»Dann geht unser ganzer Streit«, meinte Nino nachdenklich, »eigentlich bloß um den heiligen

Antonius, den ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe.«

Nicola kratzte sich am Kopf. »Eigentlich ja«, brummte er, »du kannst ihn gern wiederhaben,

Nino.«

»Aber nicht doch!« antwortete Nino würdevoll. »Getauscht ist getauscht! Ein Handschlag gilt

unter Ehrenmännern!« Und plötzlich fingen beide gleichzeitig an zu lachen. Sie kletterten die

steinernen Stufen hinunter, trafen sich in der Mitte des grasbewachsenen runden Platzes,

umarmten einander und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Dann nahmen sie beide

Momo in den Arm und sagten : »Vielen Dank!«

Als sie nach einer Weile abzogen, winkte Momo ihnen noch lange nach. Sie war sehr

zufrieden, daß ihre beiden Freunde nun wieder gut miteinander waren.

Ein anderes Mal brachte ihr ein kleiner Junge seinen Kanarienvogel, der nicht singen wollte.

Das war eine viel schwerere Aufgabe für Momo. Sie mußte ihm eine ganze Woche lang

zuhören, bis er endlich wieder zu trillern und zu jubilieren begann.

Momo hörte allen zu, den Hunden und Katzen, den Grillen und Kröten, ja, sogar dem Regen

und dem Wind in den Bäumen. Und alles sprach zu ihr auf seine Weise.

An manchen Abenden, wenn alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch

lange allein in dem großen steinernen Rund des alten Theaters, über dem sich der

sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach auf die große Stille.Dann kam es ihr

so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in die Sternenwelt hinaushorchte.

Und es war ihr, als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu

Herzen

ging-

In solchen Nächten hatte sie immer besonders schöne Träume. Und wer nun noch immer

meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut

kann.

DRITTES KAPITEL

Ein gespielter Sturm und ein wirkliches Gewitter

Es versteht sich wohl von selbst, daß Momo beim Zuhören keinerlei Unterschied zwischen

Erwachsenen und Kindern machte. Aber die Kinder kamen noch aus einem anderen Grund so

gern in das alte Amphitheater. Seit Momo da war, konnten sie so gut spielen wie nie zuvor. Es

gab einfach keine langweiligen Augenblicke mehr. Das war nicht etwa deshalb so, weil

Momo so gute Vorschläge machte. Nein, Momo war nur einfach da und spielte mit. Und eben

dadurch – man weiß nicht wie – kamen den Kindern selbst die besten Ideen. Täglich erfanden

sie neue Spiele, eines schöner als das andere.

Einmal, an einem schwülen, drückenden Tag, saßen etwa zehn, elf Kinder auf den steinernen

Stufen und warteten auf Momo, die ein wenig ausgegangen war, um in der Gegend

umherzustreifen, wie sie es manchmal tat. Am Himmel hingen dicke schwarze Wolken.

Wahrscheinlich würde es bald ein Gewitter geben.

»Ich geh’ lieber heim«, sagte ein Mädchen, das ein kleines Geschwisterchen bei sich hatte,

»ich hab’ Angst vor Blitz und Donner.« »Und zu Hause?« fragte ein Junge, der eine Brille

trug, »hast du zu Hause vielleicht keine Angst davor?« »Doch«, antwortete das Mädchen.

»Dann kannst du genausogut hier bleiben«, meinte der Junge. Das Mädchen zuckte die

Schultern und nickte. Nach einer Weile sagte sie: »Aber Momo kommt vielleicht gar nicht.«

»Na und?« mischte sich nun ein Junge ins Gespräch, der etwas verwahrlost aussah.

»Deswegen können wir doch trotzdem irgendwas spielen — auch ohne Momo.«»Gut, aber

was?«

»Ich weiß auch nicht. Irgendwas eben.« »Irgendwas ist nichts. Wer hat einen Vorschlag?«

»Ich weiß was«, sagte ein dicker Junge mit einer hohen Mädchenstimme, »wir könnten

spielen, daß die ganze Ruine ein großes Schiff ist, und wir fahren in unbekannte Meere und

erleben Abenteuer. Ich bin der Kapitän, du bist der Erste Steuermann, und du bist ein

Naturforscher, ein Professor, weil es nämlich eine Forschungsreise ist, versteht ihr? Und die

anderen sind Matrosen.« »Und wir Mädchen, was sind wir?« »Matrosinnen. Es ist ein

Zukunftsschiff.«

Das war ein guter Plan ! Sie versuchten zu spielen, aber sie konnten sich nicht recht einig

werden, und das Spiel kam nicht in Fluß. Nach kurzer Zeit saßen alle wieder auf den

steinernen Stufen und warteten. Und dann kam Momo.

Hoch rauschte die Bugwelle auf. Das Forschungsschiff »Argo« schwankte leise in der

Dünung auf und nieder, während es in ruhiger Fahrt mit voller Kraft voraus in das südliche

Korallenmeer vordrang. Seit Menschengedenken hatte kein Schiff es mehr gewagt, diese

gefährlichen Gewässer zu befahren, denn es wimmelte hier von Untiefen, von Korallenriffen

und von unbekannten Seeungeheuern. Und vor allem gab es hier den sogenannten »Ewigen

Taifun«, einen Wirbelsturm, der niemals zur Ruhe kam. Immerwährend wanderte er auf

diesem Meer umher und suchte nach Beute wie ein lebendiges, ja sogar listiges Wesen. Sein

Weg war unberechenbar. Und alles, was dieser Orkan einmal in seinen riesenhaften Klauen

hatte, das ließ er nicht eher wieder los, als bis er es in streichholzdünne Splitter zertrümmert

hatte. Freilich, das Forschungsschiff »Argo« war in besonderer Weise für eine Begegnung mit

diesem »Wandernden Wirbelsturm« ausgerüstet. Es

bestand ganz und gar aus blauem Alamont-Stahl, der biegsam und unzerbrechlich war wie

eine Degenklinge. Und es war durch ein besonderes Herstellungsverfahren aus einem

einzigen Stück gegossen, ohne Naht- und Schweißstelle.

Dennoch hätte wohl schwerlich ein anderer Kapitän und eine andere Mannschaft den Mut

gehabt, sich diesen unerhörten Gefahren auszusetzen. Kapitän Gordon jedoch hatte ihn. Stolz

blickte er von der Kommandobrücke auf seine Matrosen und Matrosinnen hinunter, die alle

erprobte Fachleute auf ihren jeweiligen Spezialgebieten waren. Neben dem Kapitän stand sein

Erster Steuermann, Don Melú, ein Seebär von altem Schrot und Korn, der schon

hundertsiebenundzwanzig Orkane überstanden hatte.

Weiter hinten auf dem Sonnendeck sah man Professor Eisenstein, den wissenschaftlichen

Leiter der Expedition, mit seinen Assistentinnen Maurin und Sara, die ihm beide mit ihrem

enormen Gedächtnis ganze Bibliotheken ersetzten. Alle drei standen über ihre

Präzisionsinstrumente gebeugt und beratschlagten leise miteinander in ihrer komplizierten

Wissenschaftlersprache.

Ein wenig abseits von ihnen saß die schöne Eingeborene Momosan mit untergeschlagenen

Beinen. Ab und zu befragte der Forscher sie wegen besonderer Einzelheiten dieses Meeres,

und sie antwortete ihm in ihrem wohlklingenden Hula-Dialekt, den nur der Professor

verstand. Ziel der Expedition war es, die Ursache für den »Wandernden Taifun« zu finden

und, wenn möglich, zu beseitigen, damit dieses Meer auch für andere Schiffe wieder

befahrbar werden würde. Aber noch war alles ruhig, und von dem Sturm war nichts zu

spüren. Plötzlich riß ein Schrei des Mannes im Ausguck den Kapitän aus seinen Gedanken.

»Käptn !« rief er durch die hohle Hand herunter, »entweder bin ich verrückt, oder ich sehe

tatsächlich eine gläserne Insel da vorn!«Der Kapitän und Don Melú blickten sofort durch ihre

Fernrohre. Auch Professor Eisenstein und seine Assistentinnen kamen interessiert herbei. Nur

die schöne Eingeborene blieb gelassen sitzen. Die rätselhaften Sitten ihres Volkes verboten es

ihr, Neugier zu zeigen. Die gläserne Insel war bald erreicht. Der Professor stieg über die

Strickleiter an der Außenwand des Schiffes hinunter und betrat den durchsichtigen Boden.

Dieser war außerordentlich glitschig und Professor Eisenstein hatte alle Mühe, sich auf den

Beinen zu halten. Die ganze Insel war kreisrund und hatte schätzungsweise zwanzig Meter

Durchmesser. Nach der Mitte zu stieg sie an wie ein Kuppeldach. Als der Professor die

höchste Stelle erreicht hatte, konnte er deutlich einen pulsierenden Lichtschein tief im Innern

dieser Insel wahrnehmen.

Er teilte seine Beobachtung den anderen mit, die gespannt wartend an der Reling standen.

»Demnach«, meinte die Assistentin Maurin, »muß es sich wohl um ein Oggelmumpf

bistrozinalis handeln.«

»Möglich«, erwiderte die Assistentin Sara, »aber es kann auch ebensogut eine Schluckula

tapetozifera sein.«

Professor Eisenstein richtete sich auf, rückte seine Brille zurecht und rief hinauf: »Nach

meiner Ansicht haben wir es hier mit einer Abart des gewöhnlichen Strumpfus

quietschinensus zu tun. Aber das können wir erst entscheiden, wenn wir die Sache von unten

erforscht haben.« Daraufhin sprangen drei Matrosinnen, die außerdem weltberühmte

Sporttaucherinnen waren und sich in der Zwischenzeit bereits Taucheranzüge angezogen

hatten, ins Wasser und verschwanden in der blauen Tiefe.

Eine Weile lang erschienen nur Luftblasen an der Meeresoberfläche, aber dann tauchte

plötzlich eines der Mädchen, Sandra mit Namen, auf und rief keuchend: »Es handelt sich um

eine Riesenqualle! Die beiden

anderen hängen in ihren Fangarmen fest und können sich nicht mehr befreien. Wir müssen

ihnen zu Hilfe kommen, ehe es zu spät ist!« Damit verschwand sie wieder.

Sofort stürzten sich hundert Froschmänner unter der Führung ihres erfahrenen Hauptmannes

Franco, genannt »der Delphin«, in die Fluten. Ein ungeheurer Kampf entbrannte unter

Wasser, dessen Oberfläche sich mit Schaum bedeckte. Aber es gelang selbst diesen Männern

nicht, die beiden Mädchen aus der schrecklichen Umklammerung zu befreien. Zu gewaltig

war die Kraft dieses riesenhaften Quallentieres ! »Irgend etwas«, sagte der Professor mit

gerunzelter Stirn zu seinen Assistentinnen, »irgend etwas scheint in diesem Meer eine Art

Riesenwachstum zu verursachen. Das ist hochinteressant!« Inzwischen hatten Kapitän

Gordon und sein Erster Steuermann Don Melú sich beraten und waren zu einer Entscheidung

gekommen. »Zurück!« rief Don Melú, »alle Mann wieder an Bord! Wir werden das Untier in

zwei Stücke schneiden, anders können wir die beiden Mädchen nicht befreien.«

»Der Delphin« und seine Froschmänner kletterten an Bord zurück. Die »Argo« fuhr nun

zunächst ein wenig rückwärts und dann mit voller Kraft voraus, auf die Riesenqualle zu. Der

Bug des stählernen Schiffes war scharf wie ein Rasiermesser. Lautlos und beinahe ohne

fühlbare Erschütterung teilte er die Riesenqualle in zwei Hälften. Das war zwar nicht ganz

ungefährlich für die beiden in den Fangarmen festgehaltenen Mädchen, aber der Erste

Steuermann Don Melú hatte deren Lage haargenau berechnet und fuhr mitten zwischen ihnen

hindurch. Sofort hingen die Fangarme beider Quallenhälften schlaff und kraftlos herunter, und

die Gefangenen konnten sich herauswinden.

Freudig wurden sie auf dem Schiff empfangen. Professor Eisenstein trat auf die beiden

Mädchen zu und sprach : » Es war meine Schuld. Ich hätte euch nicht hinunterschicken

dürfen. Verzeiht mir, daß ich euch in Gefahr gebracht habe!«

»Nichts zu verzeihen, Professor«, antwortete das eine Mädchen und lachte fröhlich, »dazu

sind wir schließlich mitgefahren.« Und das andere Mädchen setzte hinzu: »Die Gefahr ist

unser Beruf.« Zu einem längeren Wortwechsel blieb jedoch keine Zeit mehr. Über den

Rettungsarbeiten hatten Kapitän und Besatzung gänzlich vergessen, das Meer zu beobachten.

Und so wurden sie erst jetzt, in letzter Minute, gewahr, daß inzwischen der »Wandernde

Wirbelsturm« am Horizont aufgetaucht war und sich mit rasender Geschwindigkeit auf die

»Argo« zubewegte.

Eine erste gewaltige Sturzwelle packte das stählerne Schiff, riß es in die Höhe, warf es auf die

Seite und stürzte es in ein Wellental von gut fünfzig Metern Tiefe hinab. Schon bei diesem

ersten Anprall wären weniger erfahrene und tapfere Seeleute als die der »Argo« zweifellos

zur einen Hälfte über Bord gespült worden und zur anderen in Ohnmacht gefallen. Kapitän

Gordon jedoch stand breitbeinig auf der Kommandobrücke, als sei nichts geschehen, und

seine Mannschaft hatte ebenso ungerührt standgehalten. Nur die schöne Eingeborene

Momosan, an solche wilden Seefahrten nicht gewöhnt, war in ein Rettungsboot geklettert.

In wenigen Sekunden war der ganze Himmel pechschwarz. Heulend und brüllend warf sich

der Wirbelsturm auf das Schiff, schleuderte es turmhoch hinauf und abgrundtief hinunter.

Und es war, als steigere sich seine Wut von Minute zu Minute, weil er der stählernen »Argo«

nichts anhaben konnte.

Mit ruhiger Stimme gab der Kapitän seine Anweisungen, die dann vom Ersten Steuermann

laut ausgerufen wurden. Jedermann stand an seinem Platz. Sogar Professor Eisenstein und

seine Assistentinnen hatten ihre Instrumente nicht im Stich gelassen. Sie berechneten, wo der

innerste Kern des Wirbelsturmes sein mußte, denn dorthin sollte die Fahrt ja gehen. Kapitän

Gordon bewunderte im stillen die Kaltblütigkeit dieser Wissenschaftler, die ja nicht wie er

und seine Leute mit dem Meer auf du und du standen.

Ein erster Blitzstrahl zuckte hernieder und traf das stählerne Schiff, welches daraufhin

natürlich ganz und gar elektrisch geladen war. Wo man hinfaßte, sprangen einem die Funken

entgegen. Aber darauf war jeder an Bord der »Argo« in monatelangen harten Übungen

trainiert worden. Es machte keinem mehr etwas aus.

Nur, daß die dünneren Teile des Schiffes, Stahltrossen und Eisenstangen zu glühen begannen,

wie der Draht in einer elektrischen Birne, das erschwerte der Besatzung doch etwas die

Arbeit, obgleich alle Asbest-Handschuhe anzogen. Aber zum Glück wurde diese Glut schnell

wieder gelöscht, denn nun stürzte der Regen hernieder, wie ihn noch keiner der Teilnehmer-

Don Melú ausgenommen – je erlebt hatte, ein Regen, der so dicht war, daß er bald die ganze

Luft zum Atmen verdrängte. Die Besatzung mußte Tauchermasken und Atemgeräte anlegen.

Blitz auf Blitz und Donnerschlag auf Donnerschlag ! Heulender Sturm ! Haushohe Wogen

und weißer Schaum !

Meter für Meter kämpfte sich die »Argo«, alle Maschinen auf Volldampf, gegen die Urgewalt

dieses Taifuns vorwärts. Die Maschinisten und Heizer in der Tiefe der Kesselräume leisteten

Übermenschliches. Sie hatten sich mit dicken Tauen festgebunden, um nicht von dem

grausamen Schlingern und Stampfen des Schiffes in den offenen Feuerrachen der

Dampfkessel geschleudert zu werden. Und dann endlich war der innerste Kern des

Wirbelsturms erreicht. Aber welch ein Anblick bot sich ihnen da!

Auf der Meeresoberfläche, die hier spiegelglatt war, weil alle Wellen einfach von der Gewalt

des Sturmes flachgefegt wurden, tanzte ein riesenhaftes Wesen. Es stand auf einem Bein,

wurde nach oben immerdicker und sah tatsächlich so aus wie ein Brummkreisel von der

Größe eines Berges. Es drehte sich mit solcher Schnelligkeit um sich selbst, daß Einzelheiten

nicht auszumachen waren.

»Ein Schum-Schum gummilastikum!« rief der Professor begeistert und hielt seine Brille fest,

die ihm der stürzende Regen immer wieder von der Nase spülte.

»Können Sie uns das vielleicht näher erklären?« brummte Don Melú. »Wir sind einfache

Seeleute und . . .«

»Lassen Sie den Professor jetzt ungestört forschen«, fiel ihm die Assistentin Sara ins Wort.

»Es ist eine einmalige Gelegenheit. Dieses Kreiselwesen stammt wahrscheinlich noch aus den

allerersten Zeiten der Erdentwicklung. Es muß über eine Milliarde Jahre alt sein. Heute gibt

es davon nur noch eine mikroskopisch kleine Abart, die man manchmal in Tomatensoße, noch

seltener in grüner Tinte findet. Ein Exemplar dieser Größe ist vermutlich das einzige seiner

Art, das es noch gibt.« »Aber wir sind hier«, rief der Kapitän durch das Heulen des Sturms,

»um die Ursache des >Ewigen Taifuns< zu beseitigen. Der Professor soll uns also sagen, wie

man dieses Ding da zum Stillstehen bringt!« »Das«, sagte der Professor, »weiß ich allerdings

auch nicht. Die Wissenschaft hat ja noch keine Gelegenheit gehabt, es zu erforschen.« »Gut«,

meinte der Kapitän, »wir werden es erst einmal beschießen, dann werden wir ja sehen, was

passiert.«

»Es ist ein Jammer !« klagte der Professor. »Das einzige Exemplar eines Schum-Schum

gummilastikum beschießen!«

Aber die Kontrafiktions-Kanone war bereits auf den Riesenkreisel eingestellt.

»Feuer!« befahl der Kapitän.

Eine blaue Stichflamme von einem Kilometer Länge schoß aus dem Zwillingsrohr. Zu hören

war natürlich nichts, denn eine Kontrafiktions-Kanone schießt ja bekanntlich mit Proteinen.

Das leuchtende Geschoß flog auf das Schum-Schum zu, wurde aber von dem riesigen Wirbel

erfaßt und abgelenkt, umkreiste das Gebilde einige Male immer schneller und wurde

schließlich in die Höhe gerissen, wo es im Schwarz der Wolken verschwand.

»Es ist zwecklos !« rief Kapitän Gordon. »Wir müssen unbedingt näher an das Ding heran!«

»Näher kommen wir nicht mehr !« schrie Don Melú zurück. »Die Maschinen laufen schon auf

Volldampf. Aber das genügt gerade, um vom Sturm nicht zurückgeblasen zu werden.«

»Haben Sie einen Vorschlag, Professor?« wollte der Kapitän wissen. Aber Professor

Eisenstein zuckte nur die Schultern, und auch seine Assistentinnen wußten keinen Rat. Es sah

so aus, als müsse man diese Expedition erfolglos abbrechen.

In diesem Augenblick zupfte jemand den Professor am Ärmel. Es war die schöne

Eingeborene.

»Malumba!« sagte sie mit anmutigen Gebärden, »Malumba oisitu sono! Erweini samba

insaltu lolobindra. Kramuna heu béni béni sadogau.

«

»Babalu?« fragte der Professor erstaunt. »Didi maha feinosi intu ge

doinen malumba?«

Die schöne Eingeborene nickte eifrig und erwiderte: »Dodo um aufu

schulamat wawada.«

»Oi-oi«, antwortete der Professor und strich sich gedankenvoll das

Kinn.

»Was will sie denn?« erkundigte sich der Erste Steuermann.

»Sie sagt«, erklärte der Professor, »es gebe in ihrem Volk ein uraltes

Lied, das den >Wandernden Taifun< zum Einschlafen bringen könne,

falls jemand den Mut hätte, es ihm vorzusingen.«

»Daß ich nicht lache!« brummte Don Melú. »Ein Schlafliedchen für

einen Orkan!«»Was halten Sie davon, Professor?« wollte die Assistentin Sara wissen. »Wäre

so etwas möglich?«

»Man darf keine Vorurteile haben«, meinte Professor Eisenstein. »Oft steckt in den

Überlieferungen der Eingeborenen ein wahrer Kern. Vielleicht gibt es bestimmte

Tonschwingungen, die einen Einfluß auf das Schum-Schum gummilastikum haben. Wir

wissen einfach noch zu wenig über dessen Lebensbedingungen.«

»Schaden kann es nichts«, entschied der Kapitän. »Darum sollten wir’s einfach versuchen.

Sagen Sie ihr, sie soll singen.« Der Professor wandte sich an die schöne Eingeborene und

sagte: »Malumba didi oisafal huna-huna, wawadu?«

Momosan nickte und begann sogleich einen höchst eigentümlichen Gesang, der nur aus

wenigen Tönen bestand, die immerfort wiederkehrten:

»Eni meni allubeni

wanna tai susura tenu«

Dazu klatschte sie in die Hände und sprang im Takt herum. Die einfache Melodie und die

Worte waren leicht zu behalten. Andere stimmten nach und nach ein, und bald sang die ganze

Mannschaft, klatschte dazu in die Hände und sprang im Takt herum. Es war ziemlich

erstaunlich anzusehen, wie auch der alte Seebär Don Melú und schließlich der Professor

sangen und klatschten, als seien sie Kinder auf einem Spielplatz.

Und tatsächlich, was keiner von ihnen geglaubt hatte, geschah ! Der riesenhafte Kreisel drehte

sich langsamer und langsamer, blieb schließlich stehen und begann zu versinken. Donnernd

schlössen sich die Wassermassen über ihm. Der Sturm ebbte ganz plötzlich ab, der Regen

hörte auf, der Himmel wurde klar und blau, und die Wellen des Meeres beruhigten sich. Die

»Argo« lag still auf dem glitzernden Wasserspiegel, als sei hier nie etwas anderes gewesen als

Ruhe und Frieden. »Leute«, sagte Kapitän Gordon und blickte jedem einzelnen anerkennend

ins Gesicht, »das hätten wir geschafft ! « Er sagte nie viel, das wußten alle. Um so mehr

zählte es, daß er diesmal noch hinzufügte: »Ich bin stolz auf euch!«

»Ich glaube«, sagte das Mädchen, das sein kleines Geschwisterchen mitgebracht hatte, »es hat

wirklich geregnet. Ich bin jedenfalls patschnaß . «

In der Tat war inzwischen das Gewitter niedergegangen. Und vor allem das Mädchen mit dem

kleinen Geschwisterchen wunderte sich, daß es ganz vergessen hatte, sich vor Blitz und

Donner zu fürchten, solange es auf dem stählernen Schiff gewesen war.

Sie sprachen noch eine Weile über das Abenteuer und erzählten sich gegenseitig Einzelheiten,

die jeder für sich erlebt hatte. Dann trennten sie sich, um heimzugehen und sich zu trocknen.

Nur einer war mit dem Verlauf des Spiels nicht ganz zufrieden, und das war der Junge mit der

Brille. Beim Abschied sagte er zu Momo: »Schade ist es doch, daß wir das Schum-Schum

gummilastikum einfach versenkt haben. Das letzte Exemplar seiner Art! Ich hätte es wirklich

gern noch etwas genauer erforscht.«

Aber über eines waren sich nach wie vor alle einig: So wie bei Momo konnte man sonst

nirgends spielen.

VIERTES KAPITEL

Ein schweigsamer Alter und ein zungenfertiger junger

Wenn jemand auch sehr viele Freunde hat, so gibt es darunter doch immer einige wenige, die

einem ganz besonders nahestehen und die einem die allerliebsten sind. Und so war es auch bei

Momo. Sie hatte zwei allerbeste Freunde, die beide jeden Tag zu ihr kamen und alles mit ihr

teilten, was sie hatten. Der eine war jung, und der andere war alt. Und Momo hätte nicht

sagen können, welchen von beiden sie lieber hatte.

Der Alte hieß Beppo Straßenkehrer. In Wirklichkeit hatte er wohl einen anderen Nachnamen,

aber da er von Beruf Straßenkehrer war und alle ihn deshalb so nannten, nannte er sich selbst

auch so. Beppo Straßenkehrer wohnte in der Nähe des Amphitheaters in einer Hütte, die er

sich aus Ziegelsteinen, Wellblechsrücken und Dachpappe selbst zusammengebaut hatte. Er

war ungewöhnlich klein und ging obendrein immer ein bißchen gebückt, so daß er Momo nur

wenig überragte. Seinen großen Kopf, auf dem ein kurzer weißer Haarschopf in die Höhe

stand, hielt er stets etwas schräg, und auf der Nase trug er eine kleine Brille.

Manche Leute waren der Ansicht, Beppo Straßenkehrer sei nicht ganz richtig im Kopf. Das

kam daher, daß er auf Fragen nur freundlich lächelte und keine Antwort gab. Er dachte nach.

Und wenn er eine Antwort nicht nötig fand, schwieg er. Wenn er aber eine für nötig hielt,

dann dachte er über diese Antwort nach. Manchmal dauerte es zwei Stunden, mitunter aber

auch einen ganzen Tag, bis er etwas erwiderte. Inzwischen hatte der andere natürlich

vergessen, was er gefragt hatte, und Beppos Worte kamen ihm wunderlich vor.Nur Momo

konnte so lange warten und verstand, was er sagte. Sie wußte, daß er sich so viel Zeit nahm,

um niemals etwas Unwahres zu sagen. Denn nach seiner Meinung kam alles Unglück der

Welt von den vielen Lügen, den absichtlichen, aber auch den unabsichtlichen, die nur aus Eile

oder Ungenauigkeit entstehen.

Er fuhr jeden Morgen lange vor Tagesanbruch mit seinem alten, quietschenden Fahrrad in die

Stadt zu einem großen Gebäude. Dort wartete er in einem Hof zusammen mit seinen

Kollegen, bis man ihm einen Besen und einen Karren gab und ihm eine bestimmte Straße

zuwies, die er kehren sollte.

Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine

Arbeit gern und gründlich. Er wußte, es war eine sehr notwendige Arbeit.

Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug

und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt-Atemzug-Besenstrich. Schritt-Atemzug-

Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich

vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter – Schritt – Atemzug – Besenstrich—.

Während er sich so dahinbewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die saubere,

kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedanken, die sich so

schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich nur gerade eben noch

erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat. Nach der Arbeit, wenn er bei Momo

saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da sie auf ihre besondere Art zuhörte, löste

sich seine Zunge, und er fand die richtigen Worte.

»Siehst du, Momo«, sagte er dann zum Beispiel, »es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange

Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt

man.«

Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: »Und dann fängt man an,

sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, daß es

gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man

kriegt es mit der Angst, und zum Schluß ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und

die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.«

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: »Man darf nie an die ganze Straße auf

einmal denken, verstehst du? Man muß nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten

Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.« Wieder hielt

er inné und überlegte, ehe er hinzufügte: »Dann macht es Freude ; das ist wichtig, dann macht

man seine Sache gut. Und so soll es sein.«

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: »Auf einmal merkt man, daß man Schritt

für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht

außer Puste.« Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: »Das ist wichtig.« Oder ein

anderes Mal kam er, setzte sich schweigend neben Momo, und sie sah, daß er nachdachte und

etwas ganz Besonderes sagen wollte. Plötzlich blickte er ihr in die Augen und begann: »Ich

hab’ uns Wiedererkannt.« Es dauerte lange, ehe er mit leiser Stimme fortfuhr: »Das gibt es

manchmal – am Mittag -, wenn alles in der Hitze schläft. – Dann wird die Welt durchsichtig. –

Wie ein Fluß, verstehst du?- Man kann auf den Grund sehen.«

Er nickte und schwieg ein Weilchen, dann sagte er noch leiser: »Da liegen andere Zeiten, da

unten auf dem Grund.« Wieder dachte er lange nach und suchte nach den richtigen Worten.

Aber er schien sie noch nicht zu finden, denn er erklärte auf einmal in ganz gewöhnlichem

Ton : »Heute war ich an der alten Stadtmauer zum Kehren. Da sind fünf Steine von einer

anderen Farbe in der Mauer. So, verstehst du?«

Und er zeichnete mit dem Finger in den Staub ein großes T. Er betrachtete es mit schrägem

Kopf, dann flüsterte er plötzlich: »Ich hab’ sie wiedererkannt, die Steine.«

Nach einer weiteren Pause fuhr er stockend fort: »Das waren solche anderen Zeiten, damals,

als die Mauer gebaut wurde. – Viele haben da gearbeitet. – Aber zwei waren dabei, die haben

die Steine dort hineingemauert. – Es war ein Zeichen, verstehst du? – Ich hab’s

wiedererkannt.«

Er strich sich mit der Hand über die Augen. Es schien ihn anzustrengen, was er sagen wollte,

denn als er nun weitersprach, klangen seine Worte mühsam: »Sie haben anders ausgesehen,

die zwei damals, ganz anders. « Dann stieß er in abschließendem Ton und beinahe zornig

hervor: »Aber ich habe uns wiedererkannt – dich und mich. Ich habe uns wiedererkannt!«

Man kann es den Leuten nicht verübeln, daß sie lächelten, wenn sie Beppo Straßenkehrer so

reden hörten, und manche tippten sich hinter seinem Rücken an die Stirn. Aber Momo hatte

ihn lieb und bewahrte alle seine Worte in ihrem Herzen.

Der andere beste Freund, den Momo hatte, war jung und in jeder Hinsicht das genaue

Gegenteil von Beppo Straßenkehrer. Er war ein hübscher Bursche mit verträumten Augen,

aber einem schier unglaublichen Mundwerk. Er steckte immer voller Spaße und Flausen und

konnte so leichtsinnig lachen, daß man einfach mitlachen mußte, ob man wollte oder nicht.

Sein Name war Girolamo, aber er wurde einfach Gigi gerufen.

Da wir den alten Beppo nach seinem Beruf genannt haben, wollen wir es bei Gigi genauso

halten, obwohl er überhaupt keinen richtigen Beruf

hatte. Nennen wir ihn also Gigi Fremdenführer. Aber wie gesagt, Fremdenführer war nur

einer von vielen Berufen, die er je nach Gelegenheit ausübte, und er war es durchaus nicht

von Amts wegen. Die einzige Voraussetzung, die er für diese Tätigkeit besaß, war eine

Schirmmütze. Die setzte er sofort auf, wenn sich tatsächlich einmal ein paar Reisende in diese

Gegend verirrten. Dann trat er mit ernster Miene auf sie zu und bot ihnen an, sie

herumzuführen und ihnen alles zu erklären. Wenn die Fremden sich darauf einließen, dann

legte er los und erzählte das Blaue vom Himmel herunter. Er warf mit erfundenen

Ereignissen, Namen und Jahreszahlen um sich, daß den armen Zuhörern ganz wirr im Kopf

wurde. Manche merkten es und gingen ärgerlich davon, aber die meisten nahmen alles für

bare Münze und bezahlten deshalb auch in barer Münze, wenn Gigi zuletzt seine

Schirmmütze hinhielt.

Die Leute aus der näheren Umgebung lachten über Gigis Einfälle, aber manchmal machten

sie auch bedenkliche Gesichter und meinten, es ginge doch eigentlich nicht an, sich für

Geschichten, die bloß erfunden seien, auch noch gutes Geld geben zu lassen.

»Das machen doch alle Dichter«, sagte Gigi dann. »Und haben die Leute vielleicht nichts

bekommen für ihr Geld ? Ich sage euch, sie haben genau das bekommen, was sie wollten !

Und was macht es für einen Unterschied, ob das alles in einem gelehrten Buch steht oder

nicht? Wer sagt euch denn, daß die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß

erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr?« Oder ein anderes Mal meinte er: »Ach,

was heißt überhaupt wahr oder nicht wahr? Wer kann schon wissen, was hier vor tausend oder

zweitausend Jahren passiert ist? Wißt ihr es vielleicht?« »Nein«, gaben die ändern zu.

»Na also!« rief Gigi Fremdenführer. »Wieso könnt ihr dann einfach behaupten, daß meine

Geschichten nicht wahr sind? Es kann doch zufällig genauso passiert sein. Dann habe ich die

pure Wahrheit gesagt !« Dagegen war schwer etwas einzuwenden. Ja, was das Mundwerk

betraf, konnte mit Gigi nicht leicht einer fertig werden. Leider kamen allerdings nur sehr

selten Reisende, die das Amphitheater besichtigen wollten, und so mußte Gigi häufig andere

Berufe ergreifen. Je nach Gelegenheit war er Parkwächter, Trauzeuge, Hundespazierenführer,

Liebesbrief träger, Beerdigungsteilnehmer, Andenkenhändler,

Katzenfutterverkäufer und noch vieles andere. Aber Gigi träumte davon, einmal berühmt und

reich zu werden. Er würde in einem märchenhaft schönen Haus wohnen, umgeben von einem

Park; er würde von vergoldeten Tellern essen und auf seidenen Kissen schlafen. Und sich

selbst sah er im Glanz seines zukünftigen Ruhms wie eine Sonne, deren Strahlen ihn schon

jetzt in seiner Armseligkeit, sozusagen aus der Entfernung, wärmten. »Und ich werde es

schaffen!« rief er, wenn die anderen über seine Träume lachten, »ihr alle werdet noch an

meine Worte denken!« Womit er das allerdings schaffen wollte, hätte er selbst nicht sagen

können. Denn von unermüdlichem Fleiß und harter Arbeit hielt er nicht sehr viel.

»Das ist kein Kunststück«, sagte er zu Momo, »damit soll reich werden, wer will. – Schau sie

dir doch an, wie sie aussehen, die für ein bißchen Wohlstand ihr Leben und ihre Seele

verkauft haben ! Nein, da mach’ ich nicht mit, so nicht. Und wenn ich auch oft nicht mal das

Geld habe, eine Tasse Kaffee zu bezahlen – aber Gigi bleibt Gigi ! « -Eigentlich sollte man

denken, es sei ganz unmöglich gewesen, daß zwei so verschiedene Leute, mit so

verschiedenen Ansichten über die Welt und das Leben, wie Gigi Fremdenführer und Beppo

Straßenkehrer sich miteinander anfreundeten. Und doch war es so. Seltsamerweise war der

einzige, der Gigi niemals wegen seiner Leichtfertigkeit tadelte, gerade der alte Beppo. Und

ebenso seltsamerweise war es gerade der zungenfertige Gigi, der als einziger niemals über

den wunderlichen alten Beppo spottete.

Das lag wohl auch an der Art, wie die kleine Momo ihnen beiden zuhörte. –

Keiner von den dreien ahnte, daß schon bald ein Schatten über ihre Freundschaft fallen

würde. Und nicht nur über ihre Freundschaft, sondern über die ganze Gegend – ein Schatten,

der wuchs und wuchs und sich schon jetzt, dunkel und kalt, über die große Stadt ausbreitete.

Es war wie eine lautlose und unmerkliche Eroberung, die tagtäglich weiter vordrang, und

gegen die sich niemand wehrte, weil niemand sie so recht bemerkte. Und die Eroberer – wer

waren sie? Sogar der alte Beppo, der doch manches sah, was andere nicht sehen, bemerkte die

grauen Herren nicht, die immer zahlreicher in der großen Stadt umherstreiften und

unermüdlich beschäftigt schienen. Dabei waren sie keineswegs unsichtbar. Man sah sie-, und

man sah sie doch nicht. Sie verstanden es auf unheimliche Weise, sich unauffällig zu machen,

so daß man einfach über sie hinwegsah oder ihren Anblick sofort wieder vergaß. So konnten

sie im geheimen arbeiten, gerade weil sie sich nicht versteckten. Und da sie niemand

auffielen, fragte sich natürlich auch niemand, woher sie gekommen waren und noch immer

kamen, denn es wurden täglich mehr.

Sie fuhren in eleganten grauen Autos auf den Straßen, sie gingen in alle Häuser, sie saßen in

allen Restaurants. Oft schrieben sie etwas in ihre kleinen Notizbüchlein.

Es waren Herren, die ganz in spinnwebfarbenes Grau gekleidet waren. Selbst ihre Gesichter

sahen aus wie graue Asche. Sie trugen runde steife Hüte auf den Köpfen und rauchten kleine,

aschenfarbene Zigarren. Jeder von ihnen hatte stets eine bleigraue Aktentasche bei sich. Auch

Gigi Fremdenführer hatte nicht bemerkt, daß schon einige Male mehrere dieser grauen Herren

die Gegend um das Amphitheater durchstreift und dabei allerlei in ihre Notizbüchlein

geschrieben hatten.

Nur Momo hatte sie beobachtet, als eines Abends ihre dunklen Silhouetten auf dem obersten

Rand der Ruine aufgetaucht waren. Sie hatten einander Zeichen gemacht und später die Köpfe

zusammengesteckt, als ob sie sich berieten. Zu hören war nichts gewesen, aber Momo hatte es

plötzlich auf eine Art gefroren, die sie noch nie empfunden hatte. Es nützte auch nichts, daß

sie sich fester in ihre große Jacke wickelte, denn es war keine gewöhnliche Kälte.

Dann waren die grauen Herren wieder fortgegangen und seither nicht mehr erschienen.

An diesem Abend hatte Momo die leise und doch gewaltige Musik nicht hören können wie

sonst. Aber am nächsten Tag war das Leben weitergegangen wie immer, und Momo machte

sich keine Gedanken mehr über die seltsamen Besucher. Auch sie hatte sie vergessen.

FÜNFTES KAPITEL

Geschichten für viele und Geschichten für eine

Nach und nach war Momo für Gigi Fremdenführer ganz unentbehrlich geworden. Er hatte,

sofern man das von einem so unsteten leichtherzigen jungen Kerl überhaupt sagen kann, eine

tiefe Liebe zu dem struppigen kleinen Mädchen gefaßt und hätte es am liebsten überallhin

mitgeschleppt.

Geschichtenerzählen war, wie wir ja schon wissen, seine Leidenschaft. Und gerade in diesem

Punkt war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, die er selbst sehr deutlich fühlte. Früher

waren seine Erzählungen manchmal etwas kümmerlich geraten, es war ihm einfach nichts

Rechtes eingefallen, er hatte manches wiederholt oder auf irgendeinen Film, den er gesehen,

oder eine Zeitungsgeschichte, die er gelesen hatte, zurückgegriffen. Seine Geschichten waren

sozusagen zu Fuß gegangen, aber seit er Momo kannte, hatten sie plötzlich Flügel bekommen.

Besonders dann, wenn Momo dabei war und ihm zuhörte, blühte seine Phantasie auf wie eine

Frühlingswiese. Kinder und Erwachsene drängten sich um ihn. Er konnte jetzt Geschichten

erzählen, die sich in vielen Fortsetzungen durch Tage und Wochen zogen, und er war

unerschöpflich an Hinfallen. Übrigens hörte er sich selbst ebenso gespannt zu, denn er hatte

keine Ahnung, wohin ihn seine Phantasie führen würde.

Als wieder einmal Reisende kamen, die das Amphitheater besichtigen wollten (Momo saß ein

wenig abseits auf den steinernen Stufen), da begann er folgendermaßen: »Hochverehrte

Damen und Herren! Wie Ihnen ja allen bekannt sein dürfte, führte die Kaiserin Strapazia

Augustina unzählige Kriege, um ihr Reich gegen die ständigen Angriffe der Zittern und

Zagen zu verteidigen.Als sie diese Völker wieder einmal unterworfen hatte, war sie so erzürnt

über die unaufhörliche Belästigung, daß sie drohte, die Angreifer mit Mann und Maus

auszurotten, es sei denn, deren König Xaxotraxolus überlasse ihr zur Strafe seinen Goldfisch.

Zu jener Zeit nämlich, meine Damen und Herren, waren Goldfische hierzulande noch

unbekannt. Die Kaiserin Strapazia hatte jedoch von einem Reisenden erfahren, jener König

Xaxotraxolus besitze einen kleinen Fisch, der sich, sobald er ausgewachsen sei, in pures Gold

verwandeln würde. Und diese Rarität wollte die Kaiserin nun also unbedingt haben.

Der König Xaxotraxolus lachte sich ins Fäustchen. Seinen Goldfisch, den er tatsächlich besaß,

versteckte er unter seinem Bett. Der Kaiserin aber ließ er statt dessen einen jungen Walfisch

in einer juwelengeschmückten Suppenterrine überbringen.

Die Kaiserin war zwar etwas überrascht von der Größe des Tiers, denn sie hatte sich den

Goldfisch kleiner vorgestellt. Aber, so sagte sie sich, je größer, desto besser, denn um so mehr

Gold würde der Fisch ja schließlich liefern. Allerdings schimmerte dieser Goldfisch kein

bißchen golden, und das beunruhigte sie. Aber der Abgesandte des Königs Xaxotraxolus

erklärte ihr, erst wenn der Fisch ausgewachsen sei, würde er sich in Gold verwandeln, vorher

nicht. Es sei deshalb unbedingt nötig, daß seine Entwicklung nicht gestört werde. Damit gab

sich die Kaiserin Strapazia zufrieden.

Der junge Fisch wuchs nun von Tag zu Tag und verbrauchte Unmengen Futter. Aber die

Kaiserin Strapazia war ja nicht arm, und der Fisch bekam so viel, wie er nur verdrücken

konnte, und wurde dick und fett. Bald war die Suppenterrine für ihn zu klein.

>]e größer, desto besser<, sagte die Kaiserin Strapazia und ließ ihn in ihre Badewanne

umquartieren. Aber schon kurze Zeit später paßte er auch in die Badewanne nicht mehr

hinein. Er wuchs und wuchs. Nun

wurde er in das kaiserliche Schwimmbecken gebracht. Das war bereits ein ziemlich

umständlicher Transport, denn der Fisch wog nun schon so viel wie ein Ochse. Einer der

Sklaven, die ihn schleppen mußten, rutschte aus, und die Kaiserin ließ den Unglücklichen

sofort den Löwen vorwerfen, denn der Fisch war nun ihr ein und alles. Jeden Tag saß sie viele

Stunden am Rand des Schwimmbeckens und sah ihm beim Wachsen zu. Sie dachte nur noch

an das viele Gold, denn sie führte ja bekanntlich ein sehr luxuriöses Leben und konnte daher

niemals genug Gold haben.

>Je größer, desto besser, murmelte sie immer wieder vor sich hin. Dieser Satz wurde zur

allgemeinen Richtschnur erklärt und in ehernen Lettern auf alle staatlichen Gebäude

geschrieben. Zuletzt war dem Fisch aber auch das kaiserliche Schwimmbecken zu eng

geworden. Da ließ Strapazia dieses Gebäude errichten, dessen Ruinen Sie hier vor sich sehen,

meine Damen und Herren. Es war ein gewaltiges, kreisrundes Aquarium, bis zum obersten

Rand mit Wasser gefüllt, und darin konnte der Fisch sich endlich so richtig ausstrecken. Nun

saß die Kaiserin höchstpersönlich bei Tag und Nacht auf jener Stelle dort und beobachtete den

Riesenfisch, ob er sich schon in Gold verwandle. Sie traute nämlich keinem mehr, weder

ihren Sklaven noch ihren Verwandten, und hatte Angst, der Fisch könne ihr gestohlen werden.

So saß sie also da, magerte vor Angst und Sorge mehr und mehr ab, tat kein Auge zu und

bewachte den Fisch, der lustig herumplätscherte und nicht daran dachte, sich in Gold zu

verwandeln. Und mehr und mehr vernachlässigte Strapazia ihre Regierungsgeschäfte. Genau

darauf hatten die Zittern und Zagen nur gewartet. Unter Führung ihres Königs Xaxotraxolus

unternahmen sie einen letzten Kriegszug und eroberten im Handumdrehen das ganze Reich.

Sie begegneten überhaupt keinem Soldaten mehr, und dem Volk war es sowieso gleich, wer

es beherrschte.Als die Kaiserin Strapazia schließlich von der Sache erfuhr, rief sie die

bekannten Worte >Weh mir ! O daß ich doch . . .< Der Rest ist uns leider nicht überliefert.

Sicher ist jedoch, daß sie sich in dieses Aquarium stürzte und neben dem Fisch, dem Grab all

ihrer Hoffnungen, ertrank. König Xaxotraxolus ließ zur Feier seines Sieges den Walfisch

schlachten, und acht Tage lang bekam das ganze Volk gebratenes Fischfilet. Sie sehen daraus,

meine Damen und Herren, wohin die Leichtgläubigkeit führen kann!«

Mit diesen Worten schloß Gigi die Führung, und die Zuhörer waren sichtlich beeindruckt. Sie

betrachteten die Ruine mit ehrfürchtigen Blicken. Nur einer von ihnen war mißtrauisch und

fragte: »Und wann soll das alles gewesen sein?«

Aber Gigi war niemals um eine Antwort verlegen und sagte: »Die Kaiserin Strapazia war

bekanntlich eine Zeitgenossin des berühmten Philosophen Noiosius, des Älteren.«

Der Zweifler mochte nun natürlich nicht zugeben, daß er keine Ahnung hatte, wann der

berühmte Philosoph Noiosius, der Ältere, gelebt hatte, und sagte deshalb nur: »Aha, vielen

Dank.« Alle Zuhörer waren tief befriedigt und sagten, diese Besichtigung habe sich wirklich

gelohnt, und so anschaulich und interessant hätte ihnen noch niemand jene alten Zeiten

dargestellt. Dann hielt Gigi bescheiden seine Schirmmütze hin, und die Leute zeigten sich

entsprechend freigebig. Sogar der Zweifler warf einige Münzen hinein. Übrigens erzählte

Gigi, seit Momo da war, nie mehr dieselbe Geschichte zweimal. Das wäre ihm viel zu

langweilig gewesen. Wenn Momo unter den Zuhörern war, dann kam es ihm vor, als sei eine

Schleuse in seinem Inneren geöffnet, und immer neue Erfindungen strömten und sprudelten

hervor, ohne daß er überhaupt nachdenken mußte, im Gegenteil, er mußte oft sogar

versuchen, sich zu bremsen, um nicht wieder zu weit zu gehen wie jenes eine Mal, als die

beiden vornehmen,

älteren Damen aus Amerika seine Dienste angenommen hatten. Denen hatte er nämlich

keinen schlechten Schrecken eingejagt, als er ihnen folgendes erzählte:

»Selbstverständlich ist es sogar bei Ihnen im schönen, freien Amerika bekannt, meine

hochverehrten Damen, daß der überaus grausame Tyrann Marxentius Communus, genannt der

Rote, den Plan gefaßt hatte, die gesamte damalige Welt nach seinen Vorstellungen zu ändern.

Aber was er auch tat, es zeigte sich, daß die Menschen trotz allem so ziemlich die gleichen

blieben und sich einfach nicht ändern ließen. Da verfiel Marxentius Communus auf seine

alten Tage in Wahnsinn. Damals gab es ja, wie Sie natürlich wissen, meine Damen, noch

keine Seelenärzte, die solche Erkrankungen heilen konnten. So mußte man den Tyrannen

eben rasen lassen, wie er wollte. In seinem Wahn verfiel Marxentius Communus nun auf die

Idee, die bestehende Welt hinfort sich selbst zu überlassen und lieber eine vollkommen

nagelneue Welt zu bauen. Er befahl also, einen Globus herzustellen, der genauso groß sein

sollte wie die alte Erde und auf dem alles, jedes Haus und jeder Baum und alle Berge, Meere

und Gewässer ganz naturgetreu dargestellt sein müßten. Die gesamte damalige Menschheit

wurde unter Androhung der Todesstrafe gezwungen, an dem ungeheuren Werk mitzuarbeiten.

Zuerst baute man einen Sockel, auf dem dieser Riesenglobus stehen sollte. Und die Ruine

dieses Sockels sehen Sie hier vor sich. Danach ging man daran, den Globus selbst zu bauen,

eine riesenhafte Kugel, ebensogroß wie die Erde. Und als diese Kugel schließlich fertig war,

wurde auf ihr sorgfältig alles nachgebildet, was sich auf der Erde befand.

Natürlich brauchte man sehr viel Material für diesen Globus, und dieses Material konnte man

ja nirgends anders hernehmen als von der Erde selbst. So wurde eben langsam die Erde immer

kleiner, während der Globus immer mehr wuchs.Und als die neue Welt schließlich fertig war,

hatte man dazu haargenau das letzte Steinchen, das von der alten Erde noch übriggeblieben

war, wegnehmen müssen. Und natürlich waren auch alle Menschen auf den neuen Globus

umgezogen, denn der alte war ja verbraucht. Als Marxentius Communus erkennen mußte, daß

nun trotz allem eigentlich alles beim alten geblieben war, hüllte er sein Haupt in die Togo und

ging davon. Wohin, hat man niemals erfahren.

Sehen Sie, meine Damen, diese trichterförmige Höhlung, welche die Ruine hier noch heute

erkennen läßt, war früher das Fundament, das auf der Oberfläche der alten Erde ruhte. Sie

müssen sich also das Ganze umgekehrt vorstellen.«

Die beiden feinen älteren Damen aus Amerika erbleichten, und eine fragte: »Und wo ist der

Globus geblieben?«

»Aber Sie stehen doch darauf!« antwortete Gigi. »Die heutige Welt, meine Damen, ist ja der

neue Globus.«

Da schrien die beiden feinen älteren Damen entsetzt auf und ergriffen die Flucht. Gigi hielt

vergebens seine Schirmmütze hin. -Am allerliebsten aber erzählte Gigi der kleinen Momo

allein, wenn niemand sonst zuhörte. Meistens waren es Märchen, denn die wollte Momo am

liebsten hören, und es waren fast immer solche, die von Gigi und Momo selbst handelten.

Und sie waren auch nur für sie beide bestimmt und hörten sich ganz anders an als alles, was

Gigi sonst erzählte. An einem schönen, warmen Abend saßen die beiden still nebeneinander

auf dem obersten Rand der steinernen Stufen. Am Himmel funkelten bereits die ersten Sterne,

und der Mond stieg groß und silbern über den schwarzen Umrissen der Pinien empor.

»Erzählst du mir ein Märchen?« bat Momo leise. »Gut«, sagte Gigi, »von wem soll es

handeln?« »Von Momo und Girolamo am liebsten«, antwortete Momo. Gigi überlegte ein

wenig und fragte dann: »Und wie soll es heißen?«

»Vielleicht – das Märchen vom Zauberspiegel?« Gigi nickte nachdenklich. »Das hört sich gut

  1. Wir wollen sehen, wie es geht.«

Er legte Momo einen Arm um die Schulter und fing an : »Es war einmal eine schöne

Prinzessin mit Namen Momo, die ging in Samt und Seide und wohnte hoch über der Welt auf

einem schneebedeckten Berggipfel in einem Schloß aus buntem Glas.

Sie hatte alles, was man sich nur wünschen kann, sie aß nur die feinsten Speisen und trank nur

den süßesten Wein. Sie schlief auf seidenen Kissen und saß auf Stühlen aus Elfenbein. Sie

hatte alles – aber sie war ganz allein.

Alles um sie herum, ihre Dienerschaft, ihre Kammerfrauen, ihre Hunde und Katzen und

Vögel und sogar ihre Blumen, alles das waren nur Spiegelbilder.

Prinzessin Momo hatte nämlich einen Zauberspiegel, der war groß und rund und aus feinstem

Silber. Den schickte sie jeden Tag und jede Nacht in die Welt hinaus. Und der große Spiegel

schwebte dahin über Länder und Meere, über Städte und Felder. Die Leute, die ihn sahen,

wunderten sich kein bißchen darüber, sie sagten einfach: >Das ist der Mond.<

Und jedesmal, wenn der Zauberspiegel zurückkam, dann schüttete er vor der Prinzessin alle

Spiegelbilder aus, die er auf seiner Reise aufgefangen hatte. Es waren schöne und häßliche,

interessante und langweilige, wie es eben gerade kam. Die Prinzessin suchte sich diejenigen

aus, die ihr gefielen, und die anderen warf sie einfach in einen Bach. Und viel schneller, als

du denken kannst, huschten die freigelassenen Spiegelbilder zurück durch die Gewässer der

Erde zu ihren Eigentümern. Daher kommt es, daß einem das eigene Spiegelbild

entgegenblickt, sooft man sich über einen Brunnen oder eine Pfütze beugt. Nun habe ich noch

vergessen zu sagen, daß Prinzessin Momo unsterblich war. Sie hatte nämlich noch nie sich

selbst in dem Zauberspiegel gesehen. Denn wer sein eigenes Spiegelbild darin erblickte, der

wurde davon sterblich. Das wußte Prinzessin Momo sehr wohl, und deshalb tat sie es nicht.

So lebte sie also mit all ihren vielen Spiegelbildern, spielte mit ihnen und war soweit ganz

zufrieden.

Eines Tages geschah es jedoch, daß der Zauberspiegel ihr ein Bild mitbrachte, das ihr mehr

bedeutete als alle anderen. Es war das Spiegelbild eines jungen Prinzen. Als sie es erblickt

hatte, bekam sie so große Sehnsucht nach ihm, daß sie unbedingt zu ihm wollte. Aber wie

sollte sie das anfangen? Sie wußte ja weder, wo er wohnte, noch wer er war, und sie kannte

noch nicht einmal seinen Namen. Da sie sich keinen anderen Rat wußte, beschloß sie, nun

doch in den Zauberspiegel zu blicken. Denn sie dachte: Vielleicht kann der Spiegel mein Bild

zu dem Prinzen bringen. Vielleicht blickt der gerade zufällig in die Höhe, wenn der Spiegel

am Himmel dahinschwebt, und dann sieht er mein Bild. Vielleicht folgt er dem Spiegel auf

seinem Weg und findet mich hier.

Nun schaute sie also lange in den Zauberspiegel und schickte ihn mit ihrem Bild über die

Welt. Aber dadurch war sie nun naturlich sterblich geworden.

Du wirst gleich hören, wie es ihr weitererging, jetzt muß ich dir aber zuerst von dem Prinzen

erzählen.

Dieser Prinz hieß Girolamo und herrschte über ein großes Reich, das er sich selbst erschaffen

hatte. Und wo war dieses Reich? Es war nicht im Gestern und es war nicht im Heute, sondern

es lag immer einen Tag in der Zukunft. Und darum hieß es das Morgen-Land. Und alle Leute,

die dort wohnten, liebten und bewunderten den Prinzen. Eines Tages nun sagten die Minister

zu dem Prinzen des Morgen-Landes : >Majestät, Ihr müßt heiraten, denn das gehört sich so.<

Prinz Girolamo hatte nichts dagegen einzuwenden, und so wurden die schönsten jungen

Damen des Morgen-Landes in den Palast gebracht, damit er sich eine aussuchen konnte. Sie

alle hatten sich so schön gemacht, wie sie nur konnten, denn jede wollte ihn natürlich haben.

Unter den Mädchen hatte sich aber auch eine böse Fee in den Palast geschlichen, die hatte

kein rotes, warmes Blut in den Adern, sondern grünes und kaltes. Das sah man ihr freilich

nicht an, denn sie hatte sich außerordentlich kunstvoll geschminkt.

Als nun der Prinz des Morgen-Landes in den großen goldenen Thronsaal trat, um seine Wahl

zu treffen, da flüsterte sie rasch einen Zauberspruch, und nun sah der arme Girolamo nur noch

sie und sonst keine. Und sie kam ihm so wunderschön vor, daß er sie auf der Stelle fragte, ob

sie seine Frau werden wolle.

>Gern<, zischelte die böse Fee, >aber ich habe eine Bedingung.« >Ich werde sie erfüllen<,

versetzte Prinz Girolamo unbedacht. >Gut<, antwortete die böse Fee und lächelte so süß, daß

dem unglückseligen Prinzen ganz schwindelig wurde, >du darfst ein Jahr lang nicht zu dem

schwebenden Silberspiegel hinaufschauen. Tust du es aber doch, so mußt du auf der Stelle

alles vergessen, was dein ist. Du mußt vergessen, wer du in Wirklichkeit bist, und du mußt ins

Heute-Land, wo niemand dich kennt, und dort mußt du als ein armer unbekannter Schlucker

leben. Bist du damit einverstanden?< >Wenn es nur das ist!< rief Prinz Girolamo, >die

Bedingung ist leicht !< Was war nun inzwischen mit Prinzessin Momo geschehen? Sie hatte

gewartet und gewartet, aber der Prinz war nicht gekommen. Da beschloß sie, selbst in die

Welt hinauszugehen und ihn zu suchen. Sie gab allen Spiegelbildern, die um sie waren, ihre

Freiheit wieder. Dann ging sie ganz allein auf ihren zarten Pantöffelchen aus ihrem Schloß

aus buntem Glas durch die schneebedeckten Berge in die Welt hinunter. Sie lief durch aller

Herren Länder, bis sie in das Heute-Land kam. Da waren ihre Pantöffelchen durchgelaufen,

und sie mußte barfuß gehen. Aber der Zauberspiegel mit ihrem Bild darin schwebte weiter

hoch über der Welt dahin.

Eines Nachts saß Prinz Girolamo auf dem Dach seines goldenen Palastes und spielte Dame

mit der Fee, die grünes, kaltes Blut hatte. Da fiel plötzlich ein winziges Tröpfchen auf des

Prinzen Hand. >Es beginnt zu regnen<, sagte die Fee mit dem grünen Blut. >Nein<,

antwortete der Prinz, »das kann nicht sein, denn es ist keine Wolke am Himmel.<

Und er blickte hinauf und schaute mitten in den großen, silbernen Zauberspiegel, der dort

oben schwebte. Da sah er das Bild der Prinzessin Momo und bemerkte, daß sie weinte und

daß eine ihrer Tränen auf seine Hand gefallen war. Und im gleichen Augenblick erkannte er,

daß die Fee ihn getäuscht hatte, daß sie nicht wirklich schön war und nur grünes, kaltes Blut

in ihren Adern hatte. Prinzessin Momo war es, die er in Wirklichkeit liebte.

>Nun hast du dein Versprechen gebrochen<, sagte die grüne Fee, und ihr Gesicht verzerrte

sich, daß es dem einer Schlange glich, >und nun mußt du mir bezahlen !<

Mit ihren grünen langen Fingern griff sie Prinz Girolamo, der wie erstarrt sitzen bleiben

mußte, in die Brust und machte einen Knoten in sein Herz. Und im gleichen Augenblick

vergaß er, daß er der Prinz des Morgen-Landes war. Er ging aus seinem Schloß und seinem

Reich wie ein Dieb in der Nacht. Und er wanderte weit über die Welt, bis er ins Heute-Land

kam, dort lebte er fortan als ein armer, unbekannter Taugenichts und nannte sich nur noch

Gigi. Das einzige, was er mitgenommen hatte, war das Bild aus dem Zauberspiegel. Der war

von da an leer.

Inzwischen waren auch Prinzessin Momos Kleider aus Samt und Seide ganz zerrissen. Sie

trug jetzt eine alte, viel zu große Männerjacke und

einen Rock aus bunten Flicken. Und sie wohnte in einer alten Ruine. Hier begegneten sich die

beiden eines schönen Tages. Aber Prinzessin Momo erkannte den Prinzen aus dem Morgen-

Land nicht, denn er war ja nun ein armer Schlucker. Und auch Gigi erkannte die Prinzessin

nicht, denn wie eine Prinzessin sah sie eigentlich nicht mehr aus. Aber in ihrem gemeinsamen

Unglück freundeten sich die beiden miteinander an und trösteten sich gegenseitig.

Eines Abends, als wieder der silberne Zauberspiegel, der nun leer war, am Himmel

dahinschwebte, holte Gigi das Spiegelbild hervor und zeigte es Momo. Es war schon sehr

zerknittert und verwischt, aber die Prinzessin erkannte doch sofort, daß es ihr eigenes Bild

war, das sie damals ausgeschickt hatte. Und nun erkannte sie auch unter der Maske des armen

Schluckers Gigi den Prinzen Girolamo, den sie immer gesucht hatte und für den sie sterblich

geworden war. Und sie erzählte ihm alles.

Aber Gigi schüttelte traurig den Kopf und sagte: >Ich kann nichts von dem verstehen, was du

sagst, denn in meinem Herzen ist ein Knoten, und deshalb kann ich mich an nichts erinnern.<

Da griff Prinzessin Momo in seine Brust und löste ganz leicht den Knoten seines Herzens auf.

Und nun wußte Prinz Girolamo plötzlich wieder, wer er war und wo er hingehörte. Er nahm

die Prinzessin bei der Hand und ging mit ihr weit fort – in die Ferne, wo das Morgen-Land

liegt.«

Nachdem Gigi geendet hatte, schwiegen sie beide ein Weilchen, dann fragte Momo: »Und

sind sie später Mann und Frau geworden?« »Ich glaube schon«, sagte Gigi, »-später.« »Und

sind sie inzwischen gestorben?«

»Nein«, sagte Gigi bestimmt, »das weiß ich zufällig genau. Der Zauberspiegel macht einen

nur sterblich, wenn man allein hineinblickte.Schaute man aber zu zweit hinein, dann wurde

man wieder unsterblich. Und das haben die beiden getan.«

Groß und silbern stand der Mond über den schwarzen Pinien und ließ die alten Steine der

Ruine geheimnisvoll glänzen. Momo und Gigi saßen still nebeneinander und blickten lange zu

ihm hinauf, und sie fühlten ganz deutlich, daß sie für die Dauer dieses Augenblicks beide

unsterblich waren.

 

ZWEITER TEIL:

DIE GRAUEN HERREN

SECHSTES KAPITEL

Die Rechnung ist falsch und geht doch auf

Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil,

jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es

einfach so hin und wundern sich kein bißchen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt

Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, daß

einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch

wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist

Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.

Und genau das wußte niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer

Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich

auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten

sie danach.

Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weitgesteckte und sorgfältig

vorbereitete Pläne.

Das Wichtigste war ihnen, daß niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig

hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für

Schritt, ohne daß jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von

den Menschen.

Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende

selbst etwas davon ahnte. Sie warteten nur den richtigen Augenblick ab, in dem sie ihn fassen

konnten. Und sie taten das ihre dazu, daß dieser Augenblick eintrat.Da war zum Beispiel Herr

Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut

angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war

klein, und er beschäftigte einen Lehrjungen.

Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der

Lehrjunge hatte frei, und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße

platschte, es war ein grauer Tag, und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter.

»Mein Leben geht so dahin«, dachte er, »mit Scherengeklapper und Geschwätz und

Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin,

wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.«

Es war nun durchaus nicht so, daß Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte es

sogar sehr, den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinanderzusetzen und von ihnen zu

hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er

nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ausgesprochenes Vergnügen, und er wußte, daß er sie gut

machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner

über. Aber es gibt eben manchmal Augenblicke, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht

jedem so.

»Mein ganzes Leben ist verfehlt«, dachte Herr Fusi. »Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur,

das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein

ganz anderer Mensch!«

Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er

stellte sich nur irgend etwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in

den Illustrierten sah. »Aber«, dachte er mißmutig, »für so etwas läßt mir meine Arbeit keine

Zeit. Denn für das richtige Leben muß man Zeit haben. Man muß frei

sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und

Seifenschaum.«

In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis

Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue

Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den

Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und

begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.

Herr Fusi schloß die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in

dem kleinen Raum.

»Womit kann ich dienen?« fragte er verwirrt, »Rasieren oder Haare schneiden?« und

verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte

eine spiegelnde Glatze. »Keines von beiden«, sagte der graue Herr, ohne zu lächeln, mit einer

seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme. »Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich

bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, daß Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.«

»Das ist mir neu«, erklärte Herr Fusi noch verwirrter. »Offengestanden, ich wußte bisher

nicht einmal, daß es ein solches Institut überhaupt gibt.«

»Nun, jetzt wissen Sie es«, antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein

und fuhr fort: »Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?«

»Ganz recht, der bin ich«, versetzte Herr Fusi.

»Dann bin ich an der rechten Stelle«, meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu. »Sie

sind Anwärter bei uns.« »Wie das?« fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt. »Sehen Sie, lieber

Herr Fusi«, sagte der Agent, »Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und

Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie

Zeit hätten, das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz

anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich recht?«

»Darüber habe ich eben nachgedacht«, murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der

geschlossenen Tür wurde es immer kälter. »Na, sehen Sie !« erwiderte der graue Herr und zog

zufrieden an seiner kleinen Zigarre. »Aber woher nimmt man Zeit ? Man muß sie eben

ersparen ! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es

Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine

Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?« »Gewiß«, sagte Herr Fusi.

Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu

schreiben.

»Sechzig mal sechzig ist dreitausendsechshundert. Also hat eine Stunde

dreitausendsechshundert Sekunden.

Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vierundzwanzig, das

macht sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag.

Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin

einunddreißigmillionenfünfhundertundsechsunddreißigtausend Sekunden pro Jahr.

Oder dreihundertfünfzehnmillionendreihundertundsechzigtausend Sekunden in zehn Jahren.

Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?« »Nun«, stotterte Herr Fusi

verwirrt, »ich hoffe so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.«

»Gut«, fuhr der graue Herr fort, »nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre an.

Das wäre also dreihundertfünfzehnmillionendreihundertsechzigtausend mal sieben. Das ergibt

zweimilliardenzweihundertsiebenmillionenfünfhundertzwanzigtausend Sekunden. « Und er

schrieb diese Zahl groß an den Spiegel: 2 207 520 000 Sekunden

Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte: »Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen,

welches Ihnen zur Verfügung steht.« Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die

Stirn. Die Summe machte ihn schwindelig. Er hätte nie gedacht, daß er so reich sei.

»Ja«, sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, »es ist eine

eindrucksvolle Zahl, nicht wahr? Aber nun wollen wir weitergehen. Wie alt sind Sie, Herr

Fusi?«

»Zweiundvierzig«, stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewußt, als habe er eine

Unterschlagung begangen. »Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?« forschte der

graue Herr weiter.

»Acht Stunden etwa«, gestand Herr Fusi.

Der Agent rechnete blitzgeschwind. Der Stift kreischte über das Spiegelglas, daß sich Herrn

Fusi die Haut kräuselte. »Zweiundvierzig Jahre – täglich acht Stunden – das macht also bereits

vierhunderteinundvierzigmillionenfünfhundertundviertausend. Diese Summe dürfen wir wohl

mit gutem Recht als verloren betrachten. Wieviel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern,

Herr Fusi?« »Auch acht Stunden, so ungefähr«, gab Herr Fusi kleinlaut zu. »Dann müssen wir

also noch einmal die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen«, fuhr der Agent

unerbittlich fort. »Nun kommt Ihnen aber auch noch eine gewisse Zeit abhanden durch die

Notwendigkeit, sich zu ernähren. Wieviel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahlzeiten

des Tages?«»Ich weiß nicht genau«, meinte Herr Fusi ängstlich, »vielleicht zwei Stunden?«

»Das scheint mir zu wenig«, sagte der Agent, »aber nehmen wir es einmal an, dann ergibt es

in zweiundvierzig Jahren den Betrag von

hundertzehnmillionendreihundertsechsundsiebzigtausend. Fahren wir fort! Sie leben allein

mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde,

das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum noch hört.

Es ist also hinausgeworfene Zeit: macht

fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend. Ferner haben Sie

überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet,

das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundert-siebenundneunzigtausend. «

»Aber . . .«, warf Herr Fusi flehend ein.

»Unterbrechen Sie mich nicht !« herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und

schneller rechnete. »Da Ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der

Hausarbeit selbst machen. Sie müssen einkaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen

lästige Dinge mehr. Wieviel Zeit kostet Sie das täglich?« »Vielleicht eine Stunde, aber . . .«

»Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren,

Herr Fusi. Wir wissen ferner, daß Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich

in einem Gesangverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche

besuchen, und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar

ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen Ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot, und zwar etwa drei

Stunden täglich, das macht einhundertfünfundsechzigmillionenfünfhundertvierundsechzigtausend.

– Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi?« »Nein«, antwortete Herr Fusi, »entschuldigen

Sie bitte . . .«

»Wir sind gleich zu Ende«, sagte der graue Herr. »Aber wir müssen noch auf ein besonderes

Kapitel Ihres Lebens zu sprechen kommen. Sie haben da nämlich dieses kleine Geheimnis,

Sie wissen schon.« Herr Fusi begann mit den Zähnen zu klappern, so kalt war ihm geworden.

»Das wissen Sie auch?« murmelte er kraftlos. »Ich dachte, außer mir und Fräulein Daria . . .«

»In unserer modernen Welt«,unterbrach ihn der Agent Nr. XYQ/384/b, »haben Geheimnisse

nichts mehr verloren. Betrachten Sie die Dinge einmal sachlich und realistisch, Herr Fusi.

Beantworten Sie mir eine Frage: Wollen Sie Fräulein Daria heiraten?« »Nein«, sagte Herr

Fusi, »das geht doch nicht. . .« »Ganz recht«, fuhr der graue Herr fort, »denn Fräulein Daria

wird ihr Leben lang an den Rollstuhl gefesselt bleiben, weil ihre Beine verkrüppelt sind.

Trotzdem besuchen Sie sie täglich eine halbe Stunde, um ihr eine Blume zu bringen. Wozu?«

»Sie freut sich doch immer so«, antwortete Herr Fusi, den Tränen nah. »Aber nüchtern

betrachtet«, versetzte der Agent, »ist sie für Sie, Herr Fusi, verlorene Zeit. Und zwar

insgesamt bereits siebenundzwanzig-millionenfünfhundertvierundneunzigtausend Sekunden.

Und wenn wir nun dazurechnen, daß Sie die Gewohnheit haben, jeden Abend vor dem

Schlafengehen eine Viertelstunde am Fenster zu sitzen und über den vergangenen Tag

nachzudenken, dann bekommen wir nochmals eine abzuschreibende Summe von

dreizehnmillionensiebenhun-dertsiebenundneunzigtausend. Nun wollen wir einmal sehen,

was Ihnen eigentlich übrigbleibt, Herr Fusi.« Auf dem Spiegel stand nun folgende Rechnung:

Schlaf 441 504 000 Sekunden

Arbeit 441 504 000

Nahrung 110 376 000

Mutter 55 188 000

Wellensittich 13 797 000

Einkauf usw. 55 188 000

Freunde, Singen usw. 165 564 000

Geheimnis 27 594 000

Fenster 13 797 000

Zusammen: 1 324 512 Sekunden

»Diese Summe«, sagte der graue Herr und tippte mit dem Stift mehrmals so hart gegen den

Spiegel, daß es wie Revolverschüsse klang, »diese Summe also ist die Zeit, die Sie bis jetzt

bereits verloren haben. Was sagen Sie dazu, Herr Fusi?«

Herr Fusi sagte gar nichts. Er setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und wischte sich mit dem

Taschentuch die Stirn, denn trotz der eisigen Kälte brach ihm der Schweiß aus. Der graue

Herr nickte ernst.

»Ja, Sie sehen ganz recht«, sagte er, »es ist bereits mehr als die Hälfte Ihres ursprünglichen

Gesamtvermögens, Herr Fusi. Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren

zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. Ein Jahr, das sind

einunddreißigmillionenfünfhun-dertsechsunddreißigtausend Sekunden, wie Sie wissen. Und

das mal zweiundvierzig genommen macht einemilliardedreihundertvierundzwanzigmillionenfünfhundertundzwölf

tausend.« Er schrieb die Zahl unter die Summe der

verlorenen Zeit:

1.324.512.000 Sekunden

— 1.324.512.000 ,,

0 000 000 000 Sekunden

Er steckte seinen Stift ein und machte eine längere Pause, um den Anblick der vielen Nullen

auf Herrn Fusi wirken zu lassen. Und er tat seine Wirkung.

»Das«, dachte Herr Fusi zerschmettert, »ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen

Lebens.«

Er war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, daß er alles

widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit

denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen.

»Finden Sie nicht«, ergriff nun der Agent Nr. XYQ/384/b in sanftem Ton wieder das Wort,

»daß Sie so nicht weiterwirtschaften können, Herr Fusi? Wollen Sie nicht lieber zu sparen

anfangen?« Herr Fusi nickte stumm und mit blaugefrorenen Lippen. »Hätten Sie

beispielsweise«, klang die aschenfarbene Stimme des Agenten an Herrn Fusis Ohr, »schon

vor zwanzig Jahren angefangen, täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen

Sie jetzt ein Guthaben von sechsundzwanzigmillionenzweihundertundachtzigtausend

Sekunden. Bei zwei Stunden täglich ersparter Zeit wäre es natürlich das Doppelte, also

zweiundfünfzigmillionenfünfhundertundsech-zigtausend. Und ich bitte Sie, Herr Fusi, was

sind schon zwei lumpige kleine Stunden angesichts einer solchen Summe?« »Nichts!« rief

Herr Fusi, »eine lächerliche Kleinigkeit!« »Es freut mich, daß Sie das einsehen«, fuhr der

Agent gleichmütig fort. »Und wenn wir nun noch ausrechnen, was Sie unter denselben

Bedingungen in weiteren zwanzig Jahren erspart haben würden, so kämen wir auf die stolze

Summe von einhundertfünfmillioneneinhundertundzwanzigtausend Sekunden. Dieses ganze

Kapital stünde Ihnen in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr zur freien Verfügung.«

»Großartig!« stammelte Herr Fusi und riß die Augen auf. »Warten Sie ab«, fuhr der graue

Herr fort, »denn es kommt noch viel besser. Wir, das heißt die Zeit-Spar-Kasse, bewahren

nämlich die eingesparte Zeit nicht nur für Sie auf, sondern wir zahlen Ihnen auch noch Zinsen

dafür. Das heißt, Sie hätten in Wirklichkeit noch viel mehr.«»Wieviel mehr?« fragte Herr Fusi

atemlos.

»Das läge ganz bei Ihnen«, erklärte der Agent, »je nachdem, wieviel Sie eben einsparen

würden und wie lange Sie das Ersparte bei uns liegen lassen.«

»Liegen lassen?« erkundigte sich Herr Fusi, »was heißt das?« »Nun, ganz einfach«, meinte

der graue Herr. »Wenn Sie Ihre ersparte Zeit nicht vor fünf Jahren von uns zurückverlangen,

dann bezahlen wir Ihnen noch einmal dieselbe Summe dazu. Ihr Vermögen verdoppelt sich

alle fünf Jahre, verstehen Sie? Nach zehn Jahren wäre es bereits das Vierfache der

ursprünglichen Summe, nach fünfzehn Jahren das Achtfache und so weiter. Wenn Sie vor

zwanzig Jahren angefangen hätten, täglich nur zwei Stunden einzusparen, dann stünde für Sie

in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr, also nach vierzig Jahren insgesamt, das

Zweihundertsechsundfünfzigfache der bis dahin von Ihnen ersparten Zeit zur Verfügung. Das

wären sechsundzwanzigmilliardenneunhundertundzehnmillionensiebenhundertundzwanzigtausend.

« Und er nahm noch einmal

seinen grauen Stift heraus und schrieb auch diese Zahl an den Spiegel:

26 910 720 000 Sekunden

»Sie sehen selbst, Herr Fusi«, sagte er dann und lächelte zum ersten Mal dünn, »es wäre mehr

als das Zehnfache ihrer ursprünglichen gesamten Lebenszeit. Und das bei nur zwei ersparten

Stunden täglich. Bedenken Sie, ob dies nicht ein lohnendes Angebot ist.« »Das ist es !« sagte

Herr Fusi erschöpft. »Das ist es ganz ohne Zweifel ! Ich bin ein Unglücksrabe, daß ich nicht

schon längst angefangen habe, zu sparen. Jetzt erst sehe ich es völlig ein, und ich muß

gestehen – ich bin verzweifelt!«

»Dazu«, erwiderte der graue Herr sanft, »besteht durchaus kein Grund. Es ist niemals zu spät.

Wenn Sie wollen, können Sie noch heute anfangen. Sie werden sehen, es lohnt sich.«

»Und ob ich will!« rief Herr Fusi. »Was muß ich tun?« »Aber, mein Bester«, antwortete der

Agent und zog die Augenbrauen hoch, »Sie werden doch wissen, wie man Zeit spart! Sie

müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer

halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden

zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei ihrer alten Mutter auf eine halbe.

Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird,

dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen

Wellensittich ab! Besuchen Sie Fräulein Daria nur noch alle vierzehn Tage einmal, wenn es

überhaupt sein muß. Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem,

vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren

sogenannten Freunden. Ich empfehle Ihnen übrigens ganz nebenbei, eine große, gutgehende

Uhr in Ihren Laden zu hängen, damit Sie die Arbeit Ihres Lehrjungen genau kontrollieren

können.«

»Nun gut«, meinte Herr Fusi, »das alles kann ich tun, aber die Zeit, die mir auf diese Weise

übrigbleibt – was soll ich mit ihr machen ? Muß ich sie abliefern? Und wo? Oder soll ich sie

aufbewahren? Wie geht das Ganze vor sich?«

»Darüber«, sagte der graue Herr und lächelte zum zweiten Mal dünn, »machen Sie sich nur

keine Sorgen. Das überlassen Sie ruhig uns. Sie können sicher sein, daß uns von Ihrer

eingesparten Zeit nicht das kleinste bißchen verlorengeht. Sie werden es schon merken, daß

Ihnen nichts übrigbleibt.«

»Also gut«, entgegnete Herr Fusi verdattert, »ich verlasse mich also darauf.«

»Tun Sie das getrost, mein Bester«, sagte der Agent und stand auf. »Ich darf Sie also hiermit

in der großen Gemeinde der Zeit-Sparer als neues Mitglied begrüßen. Nun sind auch Sie ein

wahrhaft moderner und fortschrittlicher Mensch, Herr Fusi. Ich beglückwünsche Sie!« Damit

nahm er seinen Hut und seine Mappe.

»Einen Augenblick noch!« rief Herr Fusi. »Müssen wir denn nicht irgendeinen Vertrag

abschließen? Muß ich nichts unterschreiben? Bekomme ich nicht irgendein Dokument?«

Der Agent Nr. XYQ/384/b drehte sich in der Tür um und musterte Herrn Fusi mit leichtem

Unwillen.

»Wozu?« fragte er. »Das Zeit-Sparen läßt sich nicht mit irgendeiner anderen Art des Sparens

vergleichen. Es ist eine Sache des vollkommenen Vertrauens – auf beiden Seiten ! Uns genügt

Ihre Zusage. Sie ist unwiderruflich. Und wir kümmern uns um Ihre Ersparnisse. Wieviel Sie

allerdings ersparen, das liegt ganz bei Ihnen. Wir zwingen Sie zu nichts. Leben Sie wohl, Herr

Fusi!«

Damit stieg der Agent in sein elegantes, graues Auto und brauste davon.

Herr Fusi sah ihm nach und rieb sich die Stirn. Langsam wurde ihm wieder wärmer, aber er

fühlte sich krank und elend. Der blaue Dunst aus der kleinen Zigarre des Agenten hing noch

lange in dichten Schwaden im Raum und wollte nicht weichen.

Erst als der Rauch vergangen war, wurde es Herrn Fusi wieder besser. Aber im gleichen Maß

wie der Rauch verging, verblaßten auch die Zahlen auf dem Spiegel. Und als sie schließlich

ganz verschwunden waren, war auch die Erinnerung an den grauen Besucher in Herrn Fusis

Gedächtnis ausgelöscht – die an den Besucher, nicht aber die an den Beschluß! Den hielt er

nun für seinen eigenen. Der Vorsatz, von nun an Zeit zu sparen, um irgendwann in der

Zukunft ein anderes Leben beginnen zu können, saß in seiner Seele fest wie ein Stachel mit

Widerhaken. Und dann kam der erste Kunde an diesem Tag. Herr Fusi bediente ihn

mürrisch, er ließ alles Überflüssige weg, schwieg und war tatsächlich statt in einer halben

Stunde schon nach zwanzig Minuten fertig. Und genauso hielt er es von nun an bei jedem

Kunden. Seine Arbeit machte ihm auf diese Weise überhaupt keinen Spaß mehr, aber das war

ja nun auch nicht mehr wichtig. Er stellte zusätzlich zu seinem Lehrjungen noch zwei weitere

Gehilfen ein und gab scharf darauf acht, daß sie keine Sekunde verloren. Jeder Handgriff war

nach einem genauen Zeitplan festgelegt. In Herrn Fusis Laden hing nun ein Schild mit der

Aufschrift: GESPARTE ZEIT IST DOPPELTE ZEIT! An Fräulein Daria schrieb er einen kurzen,

sachlichen Brief, daß er wegen Zeitmangels leider nicht mehr kommen könne. Seinen

Wellensittich verkaufte er einer Tierhandlung. Seine Mutter steckte er in ein gutes, aber

billiges Altersheim und besuchte sie dort einmal im Monat. Und auch sonst befolgte er alle

Ratschläge des grauen Herrn, die er ja nun für seine eigenen Beschlüsse hielt.

Er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam: Von all der Zeit, die er

einsparte, blieb ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte

Weise und war nicht mehr da. Seine Tage wurden erst unmerklich, dann aber deutlich spürbar

kürzer und kürzer. Ehe er sich’s versah, war schon wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr

herum und noch ein Jahr und noch eines. Da er sich ja an den Besuch des grauen Herrn nicht

mehr erinnerte, hätte er sich wohl eigentlich ernstlich fragen müssen, wo all seine Zeit denn

blieb. Aber diese Frage stellte er sich so wenig wie alle anderen Zeit-Sparer. Es war etwas wie

eine blinde Besessenheit über ihn gekommen. Und wenn er manchmal mit Schrecken gewahr

wurde, wie schnell und immer schneller seine Tage dahinrasten, dann sparte er nur um so

verbissener.Wie Herrn Fusi, so ging es schon vielen Menschen in der großen Stadt. Und

täglich wurden es mehr, die damit anfingen, das zu tun, was sie »Zeit sparen« nannten. Und je

mehr es wurden, desto mehr folgten nach, denn auch denen, die eigentlich nicht wollten, blieb

gar nichts anderes übrig, als mitzumachen.

Täglich wurden im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen die Vorteile neuer

zeitsparender Einrichtungen erklärt und gepriesen, die den Menschen dereinst die Freiheit für

das »richtige« Leben schenken würden. An Hauswänden und Anschlagsäulen klebten Plakate,

auf denen man alle möglichen Bilder des Glücks sah. Darunter stand in leuchtenden Lettern:

ZEIT-SPARERN GEHT ES IMMER BESSER !

Oder: ZEIT-SPARERN GEHÖRT DIE ZUKUNFT! Oder: MACH MEHR AUS DEINEM LEBEN – SPARE

ZEIT! Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Zwar waren die Zeit-Sparer besser gekleidet

als die Leute, die in der Nähe des alten Amphitheaters wohnten. Sie verdienten mehr Geld

und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten mißmutige, müde oder verbitterte Gesichter

und unfreundliche Augen. Bei ihnen war die Redensart »Geh doch zu Momo ! « natürlich

unbekannt. Sie hatten niemand, der ihnen so zuhören konnte, daß sie davon gescheit,

versöhnlich oder gar froh geworden wären. Aber selbst, wenn es dort so jemand gegeben

hätte, es wäre doch höchst zweifelhaft gewesen, ob sie je zu ihm hingegangen wären- es sei

denn, man hätte die Sache in fünf Minuten erledigen können. Andernfalls hätten sie es für

verlorene Zeit gehalten. Selbst ihre freien Stunden mußten, wie sie meinten, ausgenutzt

werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war. So

konnten sie keine richtigen Feste mehr feiern, weder fröhliche noch ernste. Träumen galt bei

ihnen fast als ein Verbrechen. Am allerwenigsten aber konnten sie die Stille ertragen. Denn in

der Stille überfiel sie

Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah.

Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte. Aber es war

natürlich kein fröhlicher Lärm wie der auf einem Kinderspielplatz,

sondern ein wütender und mißmutiger, der die große Stadt von Tag zu

Tag lauter erfüllte.

Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig

— im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, daß er in

möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete.

Über allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern

hingen deshalb Schilder, auf denen stand:

ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT!

oder: ZEIT IST (WIE) GELD – DARUM SPARE!

Ähnliche Schilder hingen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der

Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Geschäften, Restaurants und

Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kindergärten. Niemand war davon

ausgenommen. Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen

verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen, und neue Häuser wurden gebaut, bei denen

man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. Man sparte sich die Mühe, die Häuser so zu

bauen, daß sie zu den Menschen paßten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter

verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem zeitsparender, die

Häuser alle gleich zu bauen. Im Norden der großen Stadt breiteten sich schon riesige

Neubauviertel aus. Dort erhoben sich in endlosen Reihen vielstöckige Mietskasernen, die

einander so gleich waren wie ein Ei dem anderen. Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen

natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen

und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont – eine Wüste der Ordnung ! Und

genauso verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten:Schnurgerade bis zum

Horizont ! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder

Augenblick. Niemand schien zu merken, daß er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas

ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, daß sein Leben immer ärmer, immer

gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder,

denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.

Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran

sparten, desto weniger hatten sie.

SIEBENTES KAPITEL

Momo sucht ihre Freunde und wird von einem Feind besucht

»Ich weiß nicht«, sagte Momo eines Tages, »es kommt mir so vor, als ob unsere alten

Freunde jetzt immer seltener zu mir kommen. Manche hab’ ich schon lang nicht mehr

gesehen.«

Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer saßen neben ihr auf den grasbewachsenen

Steinstufen der Ruine und sahen dem Sonnenuntergang zu.

»Ja«, meinte Gigi nachdenklich, »mir geht’s genauso. Es werden immer weniger, die meinen

Geschichten zuhören. Es ist nicht mehr wie früher. Irgendwas ist los.« »Aber was?« fragte

Momo.

Gigi zuckte die Schultern und löschte gedankenvoll einige Buchstaben, die er auf eine alte

Schiefertafel gekratzt hatte, mit Spucke aus. Die Schiefertafel hatte der alte Beppo vor einigen

Wochen in einer Mülltonne gefunden und Momo mitgebracht. Sie war natürlich nicht mehr

ganz neu und hatte in der Mitte einen großen Sprung, aber sonst war sie noch gut zu

gebrauchen. Seither zeigte Gigi Momo jeden Tag, wie man den oder jenen Buchstaben

schreibt. Und da Momo ein sehr gutes Gedächtnis hatte, konnte sie mittlerweile schon ganz

gut lesen. Nur mit dem Schreiben ging es noch nicht so recht. Beppo Straßenkehrer, der über

Momos Frage nachgedacht hatte, nickte langsam und sagte: »Ja, das ist wahr. Es kommt

näher. In der Stadt ist es schon überall. Es ist mir schon lang aufgefallen.« »Was denn?«

fragte Momo.

Beppo dachte eine Weile nach, dann antwortete er: »Nichts Gutes.« Und abermals nach einer

Weile fügte er hinzu: »Es wird kalt.« »Ach was!« sagte Gigi und legte Momo tröstend den

Arm um die Schulter, »dafür kommen jetzt immer mehr Kinder hierher.« »Ja, deswegen«,

meinte Beppo, »deswegen.« »Was meinst du damit?« fragte Momo.

Beppo überlegte lang und antwortete schließlich: »Sie kommen nicht wegen uns. Sie suchen

nur einen Unterschlupf.« Alle drei blickten hinunter auf die runde Grasfläche in der Mitte des

Amphitheaters, wo mehrere Kinder ein neues Ballspiel spielten, das sie erst diesen

Nachmittag erfunden hatten.

Es waren einige von Momos alten Freunden darunter: Der Junge mit der Brille, der Paolo

gerufen wurde, das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé, der dicke Junge

mit der hohen Stimme, dessen Name Massimo lautete, und der andere Junge, der immer etwas

verwahrlost aussah und Franco hieß. Aber außerdem waren da noch andere Kinder, die erst

seit wenigen Tagen dazugehörten, und ein kleinerer Junge, der erst diesen Nachmittag

gekommen war. Es schien tatsächlich so, wie Gigi gesagt hatte: Es wurden immer mehr, von

Tag zu Tag.

Eigentlich hätte Momo sich gern darüber gefreut. Aber die meisten von diesen Kindern

konnten einfach nicht spielen. Sie saßen nur verdrossen und gelangweilt herum und guckten

Momo und ihren Freunden zu. Manchmal störten sie auch absichtlich und verdarben alles.

Nicht selten gab es jetzt Zank und Streit. Das blieb freilich nicht so, denn Momos Gegenwart

tat auch bei diesen Kindern ihre Wirkung, und bald fingen sie an, selber die besten Ideen zu

haben und begeistert mitzuspielen. Aber es kamen eben fast täglich neue Kinder, sie kamen

sogar von weither aus anderen Stadtteilen. Und so fing alles immer wieder von vorn an, denn

wie man weiß, genügt ja oft ein einziger Spielverderber, um den anderen alles zu zerstören.

Und dann war da noch etwas, das Momo nicht recht begreifen konnte. Es hatte auch erst in

allerjüngster Zeit angefangen. Immer häufiger

kam es jetzt vor, daß Kinder allerlei Spielzeug brachten, mit dem man nicht wirklich spielen

konnte, zum Beispiel ein ferngesteuerter Tank, den man herumfahren lassen konnte —, aber

weiter taugte er zu nichts. Oder eine Weltraumrakete, die an einer Stange im Kreis

herumsauste-, aber sonst konnte man nichts damit anfangen. Oder ein kleiner Roboter, der mit

glühenden Augen dahinwackelte und den Kopf drehte—, aber zu etwas anderem war er nicht

zu gebrauchen. Es waren natürlich sehr teure Spielsachen, wie Momos Freunde nie welche

besessen hatten — und Momo selbst schon gar nicht. Vor allem waren alle diese Dinge so

vollkommen bis in jede kleinste Einzelheit hinein, daß man sich dabei gar nichts mehr selber

vorzustellen brauchte. So saßen die Kinder oft stundenlang da und schauten gebannt und doch

gelangweilt so einem Ding zu, das da herumschnurrte, dahinwackelte oder im Kreis sauste-,

aber es fiel ihnen nichts dazu ein. Darum kehrten sie schließlich doch wieder zu ihren alten

Spielen zurück, bei denen ihnen ein paar Schachteln, ein zerrissenes Tischtuch, ein

Maulwurfshügel oder eine Handvoll Steinchen genügten. Dabei konnte man sich alles

vorstellen.

Irgend etwas schien auch heute abend das Spiel nicht recht gelingen zu lassen. Die Kinder

taten eines nach dem anderen nicht mehr mit, bis schließlich alle um Gigi, Beppo und Momo

herumsaßen. Sie hofften, daß Gigi vielleicht zu erzählen anfangen würde, aber das ging nicht.

Der kleinere Junge, der heute zum ersten Mal erschienen war, hatte nämlich ein Kofferradio

bei sich. Er saß ein wenig abseits von den anderen und hatte den Apparat ganz laut gedreht.

Es war eine Reklamesendung.

»Könntest du deinen blöden Kasten nicht vielleicht leiser drehen?« fragte der verwahrloste

Junge, der Franco hieß, in drohendem Ton. »Ich kann dich nicht verstehen«, sagte der fremde

Junge und grinste, »mein Radio geht so laut.«»Dreh’s sofort leise!« rief Franco und stand auf.

Der fremde Junge wurde ein bißchen blaß, antwortete aber trotzig: »Du hast mir überhaupt

nichts zu sagen und niemand. Ich kann mein Radio so laut drehen, wie ich mag.«

»Da hat er recht«, meinte der alte Beppo, »wir können’s ihm nicht verbieten. Wir können ihn

höchstens bitten.« Franco setzte sich wieder hin.

»Er soll doch woanders hingehen«, sagte er erbittert, »er verdirbt uns schon den ganzen

Nachmittag alles.«

»Er wird schon seinen Grund haben«, antwortete Beppo und blickte den fremden Jungen

freundlich und aufmerksam durch seine kleine Brille an. »Bestimmt hat er den.«

Der fremde Junge schwieg. Nach einer kleinen Weile drehte er sein Radio leise und schaute in

eine andere Richtung. Momo ging zu ihm und setzte sich still neben ihn. Er schaltete das

Radio ab.

Eine Weile war es still.

»Erzählst du uns was, Gigi?« bat eines der Kinder, die neu waren. »O ja, bitte«, riefen die

anderen, »eine lustige Geschichte! – Nein, eine aufregende! – Nein, ein Märchen! – Ein

Abenteuer!« Aber Gigi wollte nicht. Es war das erste Mal, daß das geschah. »Ich möchte viel

lieber«, sagte er schließlich, »daß ihr mir was erzählt-über euch und euer Zuhause, was ihr so

macht und warum ihr hier seid.«

Die Kinder blieben stumm. Ihre Gesichter waren plötzlich traurig und verschlossen.

»Wir haben jetzt ein sehr schönes Auto«, ließ sich schließlich eines vernehmen. »Am

Samstag, wenn mein Papa und meine Mama Zeit haben, dann wird es gewaschen. Wenn ich

brav war, darf ich dabei helfen. Später will ich auch so eins.«

»Aber ich«, sagte ein kleines Mädchen, »ich darf jetzt jeden Tag ins Kino, wenn ich mag.

Damit ich aufgehoben bin, weil sie leider keine Zeit haben.«

Und nach einer kleinen Pause setzte es hinzu : »Ich will aber nicht aufgehoben sein.

Deswegen geh’ ich heimlich hierher und spar’ mir das Geld. Wenn ich genug Geld hab’, dann

kauf ich mir eine Fahrkarte, und dann fahr’ ich zu den sieben Zwergen.«

»Du bist dumm!« rief ein anderes Kind, »die gibt’s doch gar nicht.« »Doch gibt’s die ! « sagte

das kleine Mädchen trotzig. »Ich hab’s sogar in einem Reiseprospekt gesehen.«

»Ich hab’ schon elf Märchenschallplatten«, erklärte ein kleiner Junge, »die kann ich mir sooft

anhören, wie ich will. Früher hat mein Vater mir abends, wenn er von der Arbeit gekommen

ist, immer selber was erzählt. Das war schön. Aber jetzt ist er eben nie mehr da. Oder er ist

müde und hat keine Lust.«

»Und deine Mutter?« fragte das Mädchen Maria. »Die ist jetzt auch immer den ganzen Tag

weg.« »Ja«, sagte Maria, »bei uns ist es genauso. Aber zum Glück hab’ ich Dedé. « Sie gab

dem kleinen Geschwisterchen, das auf ihrem Schoß saß, einen Kuß und fuhr fort: »Wenn ich

von der Schule komm’, dann mach’ ich uns das Essen warm. Dann mach’ ich meine Aufgaben.

Und dann . . .«, sie zuckte die Schultern, »na ja, dann laufen wir eben so ‘rum, bis es Abend

ist. Meistens kommen wir ja hierher.« Alle Kinder nickten, denn mehr oder weniger ging es

ihnen allen so. »Ich bin eigentlich ganz froh«, meinte Franco und sah dabei gar nicht froh aus,

»daß meine Alten keine Zeit mehr für mich haben. Sonst fangen sie bloß an zu streiten, und

ich krieg dann Prügel.« Jetzt wandte sich ihnen plötzlich der Junge mit dem Kofferradio zu

und sagte: »Aber ich, ich kriege jetzt viel mehr Taschengeld als früher!« »Klar!« antwortete

Franco, »das machen sie, damit sie uns loswerden!Sie mögen uns nicht mehr. Aber sie mögen

sich selbst auch nicht mehr. Sie mögen überhaupt nichts mehr. Das ist meine Meinung.« »Das

ist nicht wahr!« schrie der fremde Junge zornig. »Mich mögen meine Eltern sogar sehr. Sie

können doch nichts dafür, daß sie keine Zeit mehr haben. Das ist eben so. Dafür haben sie mir

aber jetzt sogar das Kofferradio geschenkt. Es war sehr teuer. Das ist doch ein Beweis -oder?«

Alle schwiegen.

Und plötzlich fing der Junge, der den ganzen Nachmittag der Spielverderber gewesen war, zu

weinen an. Er versuchte, es zu unterdrücken und wischte sich die Augen mit seinen

schmutzigen Fäusten, aber die Tränen liefen in hellen Streifen durch die Schmutzflecken auf

seinen Wangen.

Die anderen Kinder sahen ihn teilnahmsvoll an oder blickten zu Boden. Sie verstanden ihn

nun. Eigentlich war jedem von ihnen ebenso zumute. Sie fühlten sich alle im Stich gelassen.

»Ja«, sagte der alte Beppo nach einer Weile noch einmal, »es wird kalt. « »Ich darf vielleicht

bald nicht mehr kommen«, sagte Paolo, der Junge mit der Brille.

»Warum denn nicht?« fragte Momo verwundert. »Meine Eltern haben gesagt«, erklärte Paolo,

»ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit, haben sie gesagt.

Deswegen habt ihr soviel. Und weil es von eurer Sorte viel zu viele gibt, haben andere Leute

immer weniger Zeit, sagen sie. Und ich soll nicht mehr hierher kommen, weil ich sonst

genauso werde wie ihr.« Wieder nickten einige der Kinder, denen man schon Ähnliches

gesagt hatte.

Gigi blickte die Kinder der Reihe nach an. »Glaubt ihr das etwa auch von uns? Oder warum

kommt ihr trotzdem?« Nach kurzem Stillschweigen meinte Franco: »Mir ist das gleich. Ich

werd’ ja später sowieso Straßenräuber, sagt mein Alter immer. Ich bin auf eurer Seite.«

»Ach so?« sagte Gigi und zog die Augenbrauen hoch, »ihr haltet uns also auch für

Tagediebe?«

Die Kinder schauten verlegen zu Boden. Schließlich blickte Paolo dem alten Beppo forschend

ins Gesicht.

»Meine Eltern lügen doch nicht«, sagte er leise. Und dann fragte er noch leiser: »Seid ihr

denn keine?«

Da erhob sich der alte Straßenkehrer in seiner ganzen, nicht sehr beträchtlichen Größe,

streckte drei Finger in die Höhe und sprach: »Ich hab’ noch nie- noch niemals habe ich in

meinem Leben dem lieben Gott oder einem Mitmenschen das kleinste bißchen Zeit gestohlen.

Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe!« »Ich auch!« fügte Momo hinzu. »Und ich auch!«

sagte Gigi ernst.

Die Kinder schwiegen beeindruckt. Keines unter ihnen bezweifelte die Worte der drei

Freunde.

»Und überhaupt, jetzt will ich euch mal was sagen«, fuhr Gigi fort. »Früher sind die Leute

immer gern zu Momo gekommen, damit sie ihnen zuhört. Sie haben sich dabei selbst

gefunden, wenn ihr versteht, was ich meine. Aber jetzt fragen sie danach nicht mehr viel.

Früher sind die Leute auch immer gern gekommen, um mir zuzuhören. Dabei haben sie sich

selbst vergessen. Danach fragen sie auch nicht mehr viel. Sie haben keine Zeit mehr für so

was, sagen sie. Und für euch haben sie auch keine Zeit mehr. Merkt ihr was? Es ist doch

merkwürdig, wofür sie keine Zeit mehr haben!«

Er machte die Augen schmal und nickte. Dann fuhr er fort: »Neulich habe ich in der Stadt

einen alten Bekannten getroffen, einen Friseur, Fusi heißt er. Ich hatte ihn eine Weile nicht

mehr gesehen und hätte ihn bald nicht mehr wiedererkannt, so verändert war er, nervös,

mürrisch,freudlos. Früher war er ein netter Kerl gewesen, konnte sehr hübsch singen und hatte

über alles seine ganz besonderen Gedanken. Für alles das hat er plötzlich keine Zeit mehr. Der

Mann ist nur noch sein eigenes Gespenst, er ist überhaupt nicht mehr Fusi, versteht ihr? Wenn

er’s nur allein wäre, dann würde ich einfach denken, daß er ein bißchen verrückt geworden ist.

Aber wo man hinschaut, sieht man solche Leute. Und es werden immer mehr. Jetzt fangen

sogar unsere alten Freunde auch damit an ! Ich frage mich wirklich, ob es Verrücktheit gibt,

die ansteckend ist?«

Der alte Beppo nickte. »Bestimmt«, sagte er, »es muß eine Art Ansteckung sein.«

»Aber dann«, meinte Momo ganz bestürzt, »müssen wir unseren Freunden doch helfen!«

An diesem Abend berieten sie alle gemeinsam noch lang, was sie tun könnten. Aber von den

grauen Herren und deren rastloser Tätigkeit ahnten sie nichts.

Während der nächsten Tage machte Momo sich auf die Suche nach ihren alten Freunden, um

von ihnen zu erfahren, was los war und warum sie nicht mehr zu ihr kamen.

Zuerst ging sie zu Nicola, dem Maurer. Sie kannte das Haus gut, wo er oben unter dem Dach

ein kleines Zimmer bewohnte. Aber er war nicht da. Die anderen Leute im Haus wußten nur,

daß er jetzt drüben in den großen Neubauvierteln auf der anderen Seite der Stadt arbeite und

eine Menge Geld verdiene. Er käme jetzt nur noch selten nach Hause und wenn, dann

meistens sehr spät. Er sei jetzt auch oft nicht mehr ganz nüchtern, und man könne überhaupt

nicht mehr gut mit ihm auskommen.

Momo beschloß, auf ihn zu warten. Sie setzte sich vor seine Zimmertür auf die Treppe. Es

wurde langsam dunkel, und sie schlief ein. Es mußte schon spät in der Nacht sein, als sie

durch polternde Schritte und rauhen Gesang geweckt wurde. Es war Nicola, der die Treppe

heraufschwankte. Als er das Kind sah, blieb er verdutzt stehen. »He, Momo!« brummte er,

und es bereitete ihm sichtlich Verlegenheit, daß sie ihn so sah, »gibt’s dich auch noch! Was

suchst du denn hier?«

»Dich«, antwortete Momo schüchtern.

»Na, du bist mir vielleicht eine!« sagte Nicola und schüttelte lächelnd den Kopf. »Kommt hier

mitten in der Nacht her, um nach ihrem alten Freund Nicola zu sehen. Ja, ich hätte dich ja

auch schon längst mal wieder besucht, aber ich hab’ einfach keine Zeit mehr für solche. . .

Privatsachen.«

Er machte eine fahrige Bewegung mit der Hand und setzte sich schwer neben Momo auf die

Treppe.

»Was meinst du, was bei mir jetzt los ist, Kind ! Das ist nicht mehr wie früher. Die Zeiten

ändern sich. Da drüben, wo ich jetzt bin, da wird ein anderes Tempo vorgelegt. Das geht wie

der Teufel. Jeden Tag hauen wir ein ganzes Stockwerk drauf, eins nach dem anderen. Ja, das

ist eine andere Sache als früher! Da ist alles organisiert, jeder Handgriff, verstehst du, bis ins

letzte hinein . . .«

Er redete weiter, und Momo hörte ihm aufmerksam zu. Und je länger sie das tat, desto

weniger begeistert klang seine Rede. Plötzlich hielt er inné und wischte sich mit seinen

schwieligen Händen übers Gesicht. »Alles Unsinn, was ich da rede«, sagte er auf einmal

traurig. »Du siehst, Momo, ich hab’ wieder mal zuviel getrunken. Ich geb’s zu. Ich trink’ jetzt

oft zuviel. Anders kann ich’s nicht aushalten, was wir da machen. Das geht einem ehrlichen

Maurer gegen das Gewissen. Viel zuviel Sand im Mörtel, verstehst du? Das hält alles vier,

fünf Jahre, dann fällt es zusammen, wenn einer hustet. Alles Pfusch, hundsgemeiner Pfusch !

Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind die Häuser, die wir da bauen.

Das sind überhaupt keine Häuser, das sind – das sind – – Seelensilos sind das ! Da dreht sich

einem der Magen um ! Aber was geht mich das alles an ? Ich kriege eben mein Geld und

basta. Na ja, die Zeiten ändern sich. Früher, da war das anders bei mir, da war ich stolz auf

meine Arbeit, wenn wir was gebaut hatten, was sich sehen lassen konnte. Aber jetzt. . .

Irgendwann, wenn ich genug verdient hab’, häng’ ich meinen Beruf an den Nagel und mach’

was anderes.«

Er ließ den Kopf hängen und starrte trübe vor sich hin. Momo sagte nichts, sie hörte ihm nur

zu.

»Vielleicht«, fuhr Nicola leise nach einer Weile fort, »sollte ich wirklich mal wieder zu dir

kommen und dir alles erzählen. Ja, wirklich, das sollte ich. Sagen wir gleich morgen, ja? Oder

lieber übermorgen? Na, ich muß sehen, wie ich’s einrichten kann. Aber ich komm’ bestimmt.

Also, abgemacht?«

»Abgemacht«, antwortete Momo und freute sich. Und dann trennten sie sich, denn sie waren

beide sehr müde.

Aber Nicola kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Er kam überhaupt nicht.

Vielleicht hatte er wirklich nie mehr Zeit.

Als nächsten besuchte Momo den Wirt Nino und seine dicke Frau. Das kleine alte Haus, mit

dem regenfleckigen Verputz und der Weinlaube vor der Tür, lag am Stadtrand. Wie früher

ging Momo hinten herum zur Küchentür. Die stand offen, und Momo hörte schon von

weitem, daß Nino und seine Frau Liliana einen heftigen Wortwechsel hatten. Liliana hantierte

mit Töpfen und Pfannen am Herd. Ihr dickes Gesicht glänzte von Schweiß. Nino redete

gestikulierend auf seine Frau ein. In einer Ecke saß das Baby der beiden in einem Korb und

schrie. Momo setzte sich leise neben das Baby. Sie nahm es auf den Schoß und schaukelte es

sacht, bis es still war. Die beiden Eheleute unterbrachen ihr Wortgefecht und schauten hin.

»Ach, Momo, du bist es«, sagte Nino und lächelte flüchtig. »Nett, daß man dich mal wieder

sieht.«

»Willst du was zu essen?« fragte Liliana ein wenig barsch. Momo schüttelte den Kopf.

»Was willst du denn?« erkundigte Nino sich nervös. »Wir haben im Moment wahrhaftig

keine Zeit für dich.«

»Ich wollte nur fragen«, antwortete Momo leise, »warum ihr schon so lang nicht mehr zu mir

gekommen seid?«

»Ich weiß auch nicht!« sagte Nino gereizt. »Wir haben jetzt wirklich andere Sorgen.«

»Ja«, rief Liliana und klapperte mit den Töpfen, »er hat jetzt ganz andere Sorgen ! Zum

Beispiel, wie man alte Gäste hinausekelt, das sind jetzt seine Sorgen ! Erinnerst du dich an die

alten Männer, Momo, die früher immer an dem Tisch in der Ecke saßen? Weggejagt hat er

sie! Hinausgeworfen hat er sie!« »Das habe ich nicht getan !« verteidigte sich Nino. »Ich habe

sie höflich gebeten, sich ein anderes Lokal zu suchen. Dazu habe ich als Wirt das Recht. «

»Das Recht, das Recht!« erwiderte Liliana aufgebracht. »So was tut man einfach nicht. Das ist

unmenschlich und gemein. Du weißt genau, daß sie kein anderes Lokal finden. Bei uns haben

sie keine Menschenseele gestört!«

»Natürlich haben sie keine Menschenseele gestört!« rief Nino. »Weil nämlich kein

anständiges, zahlendes Publikum zu uns gekommen ist, solang diese unrasierten alten Kerle

da herumhockten. Glaubst du, so was gefällt den Leuten ? Und an dem einzigen Glas billigen

Rotwein, das jeder von denen sich pro Abend leisten kann, ist für uns nichts zu verdienen! Da

bringen wir es nie zu was!«

»Wir sind bis jetzt ganz gut ausgekommen«, gab Liliana zurück. »Bis jetzt, ja!« antwortete

Nino heftig, »Aber du weißt ganz genau, daß es so nicht weitergeht. Der Hausbesitzer hat mir

die Pacht erhöht. Ich muß jetzt ein Drittel mehr bezahlen als früher. Alles wird teurer. Woher

soll ich das Geld nehmen, wenn ich aus meinem Lokal ein Asyl für arme alte Tatterer mache?

Warum soll ich die anderen schonen? Mich schont ja auch keiner.«

Die dicke Liliana stellte eine Pfanne so hart auf den Herd, daß es knallte.

»Jetzt will ich dir mal was sagen«, rief sie und stemmte die Arme in ihre breiten Hüften. »Zu

diesen armen alten Tatterern, wie du sie nennst, gehört zum Beispiel auch mein Onkel Ettore!

Und ich erlaube nicht, daß du meine Familie beschimpfst ! Er ist ein guter und ehrlicher

Mann, auch wenn er nicht so viel Geld hat wie dein zahlendes Publikum!« »Ettore kann ja

wiederkommen!« erwiderte Nino mit großer Geste. »Ich hab’s ihm gesagt, er kann bleiben,

wenn er will. Aber er will ja nicht.«

»Natürlich will er nicht – ohne seine alten Freunde ! Was stellst du dir

vor ? Soll er vielleicht ganz allein da draußen in einem Winkel hocken ?« »Dann kann ich’s

eben nicht ändern !« schrie Nino. »Ich habe jedenfalls keine Lust, mein Leben als kleiner

Spelunkenwirt zu beenden – bloß aus Rücksicht auf deinen Onkel Ettore ! Ich will es auch zu

was bringen ! Ist das vielleicht ein Verbrechen? Ich will diesen Laden hier in Schwung

bringen ! Ich will etwas machen aus meinem Lokal ! Und ich tue es nicht nur für mich. Ich

tue es genauso für dich und für unser Kind. Kannst du das denn nicht begreifen, Liliana?«

»Nein«, sagte Liliana hart, »wenn es nur mit Herzlosigkeit geht-wenn es schon so anfängt,

dann ohne mich ! Dann geh’ ich eines Tages auf und davon. Mach, was du willst!«

Und sie nahm Momo das Baby, das inzwischen wieder zu weinen angefangen hatte, aus dem

Arm und lief aus der Küche. Längere Zeit sagte Nino nichts. Er zündete sich eine Zigarette an

und drehte sie zwischen den Fingern. Momo schaute ihn an.

»Na ja«, sagte er schließlich, »es waren ja nette Kerle. Ich mochte sie ja selber gern. Weißt

du, Momo, es tut mir ja selber leid, daß ich . . . aber was soll ich machen? Die Zeiten ändern

sich eben. Vielleicht hat Liliana recht«, fuhr er nach einer Weile fort. »Seit die Alten weg

sind, kommt mir mein Lokal irgendwie fremd vor. Kalt, verstehst du? Ich kann’s selbst nicht

mehr leiden. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Aber alle machen’s doch heute so.

Warum soll ich allein es anders machen? Oder meinst du, ich soll’s?« Momo nickte

unmerklich.

Nino schaute sie an und nickte ebenfalls. Dann lächelten sie beide. »Gut, daß du gekommen

bist«, sagte Nino. »Ich hatte schon ganz vergessen, daß wir früher bei so was immer gesagt

haben: Geh doch zu Momo! – Aber jetzt werde ich wiederkommen, mit Liliana. Übermorgen

ist bei uns Ruhetag, da kommen wir. Einverstanden?«»Einverstanden«, antwortete Momo.

Dann gab Nino ihr noch eine Tüte voll Äpfel und Orangen, und sie ging

nach Hause.

Und Nino und seine dicke Frau kamen tatsächlich. Auch das Baby

brachten sie mit und einen Korb voll guter Sachen.

»Stell dir vor, Momo«, sagte Liliana strahlend, »Nino ist zu Onkel

Ettore und den anderen. Alten, jedem einzelnen, hingegangen, hat sich

entschuldigt und sie gebeten, wiederzukommen.«

»Ja«, fügte Nino lächelnd hinzu und kratzte sich hinter dem Ohr, »sie

sind alle wieder da – mit dem Aufschwung meines Lokals wird es wohl

nichts werden. Aber es gefällt mir wieder.«

Er lachte, und seine Frau sagte: »Wir werden schon weiterleben,

Nino.«

Es wurde ein sehr schöner Nachmittag, und als sie schließlich gingen,

versprachen sie, bald wiederzukommen.

Und so suchte Momo einen ihrer alten Freunde nach dem anderen auf. Sie ging zu dem

Schreiner, der ihr damals das Tischchen und die Stühle aus Kistenbrettern gemacht hatte. Sie

ging zu den Frauen, die ihr das Bett gebracht hatten. Kurz, sie sah nach allen, denen sie früher

zugehört hatte und die davon gescheit, entschlossen oder froh geworden waren. Alle

versprachen wiederzukommen. Manche hielten ihr Versprechen nicht oder konnten es nicht

halten, weil sie keine Zeit dazu fanden. Aber viele alte Freunde kamen tatsächlich wieder, und

es war fast so wie früher.

Ohne es zu wissen, kam Momo damit den grauen Herren in die Quere. Und das konnten sie

nicht dulden.

Kurze Zeit später – es war an einem besonders heißen Mittag – fand Momo auf den

Steinstufen der Ruine eine Puppe. Nun war es schon öfter vorgekommen, daß Kinder eines

der teuren Spielzeuge, mit denen man nicht wirklich spielen konnte, einfach vergessen und

liegengelassen hatten. Aber Momo konnte sich nicht erinnern, diese Puppe bei einem der

Kinder gesehen zu haben. Und sie wäre ihr bestimmt aufgefallen, denn es war eine ganz

besondere Puppe. Sie war fast so groß wie Momo selbst und so naturgetreu gemacht, daß man

sie beinahe für einen kleinen Menschen halten konnte. Aber sie sah nicht aus wie ein Kind

oder ein Baby, sondern wie eine schicke junge Dame oder eine Schaufensterfigur. Sie trug ein

rotes Kleid mit kurzem Rock und Riemchenschuhe mit hohen Absätzen. Momo starrte sie

fasziniert an.

Als sie sie nach einer Weile mit der Hand berührte, klapperte die Puppe einige Male mit den

Augendeckeln, bewegte den Mund und sagte mit einer Stimme, die etwas quäkend klang, als

käme sie aus einem Telefon: »Guten Tag. Ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.«Momo

fuhr erschrocken zurück, aber dann antwortete sie unwillkürlich: »Guten Tag, ich heiße

Momo.«

Wieder bewegte die Puppe ihre Lippen und sagte: »Ich gehöre dir. Alle beneiden dich um

mich.«

»Ich glaub’ nicht, daß du mir gehörst«, meinte Momo. »Ich glaub’ eher, daß dich jemand hier

vergessen hat.«

Sie nahm die Puppe und hob sie hoch. Da bewegten sich deren Lippen wieder und sie sagte:

»Ich möchte noch mehr Sachen haben.« »So?« antwortete Momo und überlegte. »Ich weiß

nicht, ob ich was hab’, das zu dir paßt. Aber warte mal, ich zeig’ dir meine Sachen, dann

kannst du ja sagen, was dir gefällt.«

Sie nahm die Puppe und kletterte mit ihr durch das Loch in der Mauer in ihr Zimmer hinunter.

Sie holte eine Schachtel mit allerlei Schätzen unter dem Bett hervor und stellte sie vor Bibigirl

hin. »Hier«, sagte sie, »das ist alles, was ich hab’. Wenn dir was gefällt, dann sag’s nur.«

Und sie zeigte ihr eine hübsche bunte Vogelfeder, einen schön gemaserten Stein, einen

goldenen Knopf, ein Stückchen buntes Glas. Die Puppe sagte nichts und Momo stieß sie an.

»Guten Tag«, quäkte die Puppe, »ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.«

»Ja«, sagte Momo, »ich weiß schon. Aber du wolltest dir doch was aussuchen, Bibigirl. Hier

hab’ ich zum Beispiel eine schöne rosa Muschel. Gefällt sie dir?«

»Ich gehöre dir«, antwortete die Puppe, »alle beneiden dich um mich. « »Ja, das hast du schon

gesagt«, meinte Momo. »Aber wenn du nichts von meinen Sachen magst, dann können wir

vielleicht spielen, ja?« »Ich möchte noch mehr Sachen haben«, wiederholte die Puppe. »Mehr

hab’ ich nicht«, sagte Momo. Sie nahm die Puppe und kletterte

wieder ins Freie hinaus. Dort setzte sie die vollkommene Bibigirl auf den Boden und nahm ihr

gegenüber Platz.

»Wir spielen jetzt, daß du zu mir zu Besuch kommst«, schlug Momo vor.

»Guten Tag«, sagte die Puppe, »ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe. «

»Wie nett, daß Sie mich besuchen!« erwiderte Momo. »Woher kommen Sie denn, verehrte

Dame?«

»Ich gehöre dir«, fuhr Bibigirl fort, »alle beneiden dich um mich.« »Also hör’ mal«, meinte

Momo, »so können wir doch nicht spielen, wenn du immer das gleiche sagst.«

»Ich möchte noch mehr Sachen haben«, antwortete die Puppe und klimperte mit den

Wimpern.

Momo versuchte es mit einem anderen Spiel, und als auch das mißlang, mit noch einem

anderen und noch einem und noch einem. Aber es wurde einfach nichts daraus. Ja, wenn die

Puppe gar nichts gesagt hätte, dann hätte Momo an ihrer Stelle antworten können, und es hätte

sich die schönste Unterhaltung ergeben. Aber so verhinderte Bibigirl gerade dadurch, daß sie

redete, jedes Gespräch. Nach einer Weile überkam Momo ein Gefühl, das sie noch nie zuvor

empfunden hatte. Und weil es ihr ganz neu war, dauerte es eine Weile, bis sie begriff, daß es

die Langeweile war.

Momo fühlte sich hilflos. Am liebsten hätte sie die vollkommene Puppe einfach liegen lassen

und etwas anderes gespielt, aber sie konnte sich aus irgendeinem Grund nicht von ihr

losreißen. So saß Momo schließlich nur noch da und starrte die Puppe an, die ihrerseits wieder

mit blauen, gläsernen Augen Momo anstarrte, als hätten sie sich gegenseitig hypnotisiert.

Schließlich wandte Momo ihren Blick mit Willen von der Puppe weg-und erschrak ein wenig.

Ganz nah stand nämlich ein elegantes aschen-graues Auto, dessen Kommen sie nicht bemerkt

hatte. In dem Auto saß ein Herr, der einen spinnwebfarbenen Anzug anhatte, einen grauen

steifen Hut auf dem Kopf trug und eine kleine graue Zigarre rauchte. Auch sein Gesicht sah

aus wie graue Asche.

Der Herr mußte sie wohl schon eine ganze Weile beobachtet haben, denn er nickte Momo

lächelnd zu. Und obwohl es so heiß an diesem Mittag war, daß die Luft in der Sonnenglut

flimmerte, begann Momo plötzlich zu frösteln.

Jetzt öffnete der Mann die Wagentür, stieg aus und kam auf Momo zu. In der Hand trug er

eine bleigraue Aktentasche. »Was für eine schöne Puppe du hast!« sagte er mit eigentümlich

tonloser Stimme. »Darum können dich alle deine Spielkameraden beneiden.«

Momo zuckte nur die Schultern und schwieg. »Die war bestimmt sehr teuer?« fuhr der graue

Herr fort. »Ich weiß nicht«, murmelte Momo verlegen, »ich hab’ sie gefunden.« »Was du

nicht sagst!« erwiderte der graue Herr. »Du bist ja ein richtiger Glückspilz, scheint mir.«

Momo schwieg wieder und zog sich ihre viel zu große Männerjacke enger um den Leib. Die

Kälte nahm zu.

»Ich habe allerdings nicht den Eindruck«, meinte der graue Herr mit dünnem Lächeln, »als ob

du dich so besonders freust, meine Kleine.« Momo schüttelte ein wenig den Kopf. Es war ihr

plötzlich, als sei alle Freude für immer aus der Welt verschwunden – nein, als habe es

überhaupt niemals so etwas gegeben. Und alles was sie dafür gehalten hatte, war nichts als

Einbildung gewesen. Aber gleichzeitig fühlte sie etwas, das sie warnte.

»Ich habe dich schon seit einer ganzen Weile beobachtet«, fuhr der graue Herr fort, »und mir

scheint, du weißt überhaupt nicht, wie man mit einer so fabelhaften Puppe spielen muß. Soll

ich es dir zeigen?«

Momo blickte den Mann überrascht an und nickte. »Ich will noch mehr Sachen haben«,

quäkte die Puppe plötzlich. »Na, siehst du, Kleine«, meinte der graue Herr, »sie sagt es dir

sogar selbst. Mit einer so fabelhaften Puppe kann man nicht spielen wie mit irgendeiner

anderen, das ist doch klar. Dazu ist sie auch nicht da. Man muß ihr schon etwas bieten, wenn

man sich nicht mit ihr langweilen will. Paß mal auf, Kleine!«

Er ging zu seinem Auto und öffnete den Kofferraum. »Zuerst einmal«, sagte er, »braucht sie

viele Kleider. Hier ist zum Beispiel ein entzückendes Abendkleid.« Er zog es hervor und warf

es Momo zu.

»Und hier ist ein Pelzmantel aus echtem Nerz. Und hier ist ein seidener Schlafrock. Und hier

ein Tennisdreß. Und ein Schianzug. Und ein Badekostüm. Und ein Reitanzug. Ein Pyjama.

Ein Nachthemd. Ein anderes Kleid. Und noch eins. Und noch eins. Und noch eins . . .« Er

warf alle die Sachen zwischen Momo und die Puppe, wo sie sich langsam zum Haufen

türmten.

»So«, sagte er und lächelte wieder dünn, »damit kannst du erst einmal eine Weile spielen,

nicht wahr, Kleine? Aber das wird nach ein paar Tagen auch langweilig, meinst du? Nun gut,

dann mußt du eben mehr Sachen für deine Puppe haben.«

Wieder beugte er sich über den Kofferraum und warf Sachen zu Momo herüber.

»Hier ist zum Beispiel eine richtige kleine Handtasche aus Schlangenleder, mit einem echten

kleinen Lippenstift und einem Puderdöschen drin. Hier ist ein kleiner Fotoapparat. Hier ein

Tennisschläger. Hier ein Puppenfernseher, der echt funktioniert. Hier ein Armband, eine

Halskette, Ohrringe, ein Puppenrevolver, Seidenstrümpfchen, ein Federhut, ein Strohhut, ein

Frühjahrshütchen, Golf schlägerchen, ein kleines Scheckbuch, Parfümfläschchen, Badesalz,

Körperspray…« Er machte eine Pause und blickte Momo prüfend an, die wie gelahmt

zwischen all den Sachen am Boden saß.

»Du siehst«, fuhr der graue Herr fort, »es ist ganz einfach. Man muß nur immer mehr und

mehr haben, dann langweilt man sich niemals. Aber vielleicht denkst du, daß die

vollkommene Bibigirl eines Tages alles haben wird und daß es dann eben doch wieder

langweilig werden könnte. Nein, meine Kleine, keine Sorge! Da haben wir nämlich einen

passenden Gefährten für Bibigirl.«

Und nun zog er aus dem Kofferraum eine andere Puppe hervor. Sie war ebensogroß wie

Bibigirl, ebenso vollkommen, nur daß es ein junger Mann war. Der graue Herr setzte ihn

neben Bibigirl, die vollkommene, und erklärte: »Das ist Bubiboy ! Für ihn gibt es auch wieder

eine unendliche Menge Zubehör. Und wenn das alles, alles langweilig geworden ist, dann gibt

es noch eine Freundin von Bibigirl, und sie hat eine ganze eigene Ausstattung, die nur ihr

paßt. Und zu Bubiboy gibt es noch einen dazupassenden Freund, und der hat wieder Freunde

und Freundinnen. Du siehst also, es braucht nie wieder Langeweile zu geben, denn die Sache

ist endlos fortzusetzen, und es bleibt immer noch etwas, das du dir wünschen kannst.«

Während er redete, holte er eine Puppe nach der anderen aus dem Kofferraum seines Wagens,

dessen Inhalt unerschöpflich schien, und stellte sie um Momo herum, die noch immer reglos

dasaß und dem Mann eher erschrocken zuguckte.

»Nun?« sagte der Mann schließlich und paffte dicke Rauchwolken, »hast du jetzt begriffen,

wie man mit einer solchen Puppe spielen muß?«

»Schon«, antwortete Momo. Sie begann jetzt vor Kälte zu zittern. Der graue Herr nickte

zufrieden und sog an seiner Zigarre. »Nun möchtest du alle diese schönen Sachen natürlich

gern behalten, nicht wahr? Also gut, meine Kleine, ich schenke sie dir! Du bekommst

das alles – nicht sofort, sondern eines nach dem anderen, versteht sich ! – und noch viel, viel

mehr. Du brauchst auch nichts dafür zu tun. Du sollst nur damit spielen, so wie ich es dir

erklärt habe. Nun, was sagst du dazu?«

Der graue Herr lächelte Momo erwartungsvoll an, aber da sie nichts sagte, sondern nur ernst

seinen Blick erwiderte, setzte er hastig hinzu: »Du brauchst dann deine Freunde gar nicht

mehr, verstehst du? Du hast ja nun genug Zerstreuung, wenn all diese schönen Sachen dir

gehören und du immer noch mehr bekommst, nicht wahr? Und das willst du doch? Du willst

doch diese fabelhafte Puppe? Du willst sie doch unbedingt, wie?«

Momo fühlte dunkel, daß ihr ein Kampf bevorstand, ja, daß sie schon mitten drin war. Aber

sie wußte nicht, worum dieser Kampf ging und nicht gegen wen. Denn je länger sie diesem

Besucher zuhörte, desto mehr ging es ihr mit ihm, wie es ihr vorher mit der Puppe gegangen

war: Sie hörte eine Stimme, die redete, sie hörte Worte, aber sie hörte nicht den, der sprach.

Sie schüttelte den Kopf. »Was denn, was denn ?« sagte der graue Herr und zog die

Augenbrauen hoch. »Du bist immer noch nicht zufrieden? Ihr heutigen Kinder seid aber

wirklich anspruchsvoll! Möchtest du mir wohl sagen, was dieser vollkommenen Puppe denn

nun noch fehlt?« Momo blickte zu Boden und dachte nach. »Ich glaub’«, sagte sie leise, »man

kann sie nicht liebhaben.« Der graue Herr erwiderte eine ganze Weile nichts. Er starrte glasig

vor sich hin wie die Puppen. Schließlich raffte er sich zusammen. »Darauf kommt es

überhaupt nicht an«, sagte er eisig. Momo schaute ihm in die Augen. Der Mann machte ihr

Angst, vor allem durch die Kälte, die von seinem Blick ausging. Aber irgendwie tat er ihr

seltsamerweise auch leid, ohne daß sie hätte sagen können, weshalb.»Aber meine Freunde«,

sagte sie, »die hab’ ich lieb.« Der graue Herr verzog das Gesicht, als habe er plötzlich

Zahnschmerzen. Aber er hatte sich gleich wieder in der Gewalt und lächelte messerdünn.

»Ich glaube«, erwiderte er sanft, »wir sollten einmal ernsthaft miteinander reden, Kleine,

damit du lernst, worauf es ankommt.« Er zog ein graues Notizbüchlein aus der Tasche und

blätterte darin, bis er fand, was er suchte. »Du heißt Momo, nicht wahr?«

Momo nickte. Der graue Herr klappte das Büchlein zu, steckte es wieder ein und setzte sich

ein wenig ächzend zu Momo auf die Erde. Eine Weile sagte er nichts, sondern paffte nur

nachdenklich an seiner kleinen grauen Zigarre.

»Also Momo -nun höre mir einmal gut zu ! « begann er schließlich. Das hatte Momo ja schon

die ganze Zeit versucht. Aber ihm war viel schwerer zuzuhören, als allen anderen, denen sie

bisher zugehört hatte. Sonst konnte sie sozusagen ganz in den anderen hineinschlüpfen und

verstehen, wie er es meinte und wie er wirklich war. Aber bei diesem Besucher gelang es ihr

einfach nicht. Sooft sie es versuchte, hatte sie das Gefühl, ins Dunkle und Leere zu stürzen,

als sei da gar niemand. Das war ihr noch nie widerfahren.

»Das einzige«, fuhr der Mann fort, »worauf es im Leben ankommt, ist, daß man es zu etwas

bringt, daß man was wird, daß man was hat. Wer es weiter bringt, wer mehr wird und mehr

hat als die anderen, dem fällt alles übrige ganz von selbst zu: Freundschaft, Liebe, Ehre und

so weiter. Du meinst also, daß du deine Freunde lieb hast. Wir wollen das einmal ganz

sachlich untersuchen.«

Der graue Herr paffte einige Nullen in die Luft. Momo steckte die nackten Füße unter ihren

Rock und verkroch sich, soweit es möglich war, in ihrer großen Jacke.

»Da erhebt sich als erstes die Frage«, begann der graue Herr nun wieder, »was haben deine

Freunde eigentlich davon, daß es dich gibt? Nützt es ihnen zu irgend etwas? Nein. Hilft es

ihnen, voranzukommen, mehr zu verdienen, etwas aus ihrem Leben zu machen? Gewiß nicht.

Unterstützt du sie in ihrem Bestreben, Zeit zu sparen? Im Gegenteil. Du hältst sie von allem

ab, du bist ein Klotz an ihrem Bein, du ruinierst ihr Vorwärtskommen ! Vielleicht ist es dir

bisher noch nicht bewußt geworden, Momo, – jedenfalls schadest du deinen Freunden einfach

dadurch, daß du da bist. Ja, du bist in Wirklichkeit, ohne es zu wollen, ihr Feind! Und das

nennst du also jemand liebhaben?« Momo wußte nicht, was sie erwidern sollte. So hatte sie

die Dinge noch nie betrachtet. Einen Augenblick lang war sie sogar unsicher, ob der graue

Herr nicht vielleicht recht hatte.

»Und deshalb«, fuhr der graue Herr fort, »wollen wir deine Freunde vor dir beschützen. Und

wenn du sie wirklich liebhast, dann hilfst du uns dabei. Wir wollen, daß sie es zu etwas

bringen. Wir sind ihre wahren Freunde. Wir können nicht stillschweigend mit ansehen, daß du

sie von allem abhältst, was wichtig ist. Wir wollen dafür sorgen, daß du sie in Ruhe läßt. Und

darum schenken wir dir all die schönen Sachen.« »Wer >wir<?« fragte Momo mit bebenden

Lippen. »Wir von der Zeit-Spar-Kasse«, antwortete der graue Herr. »Ich bin Agent

BLW/553/c. Ich persönlich meine es nur gut mir dir, denn die Zeit-Spar-Kasse läßt nicht mit

sich spaßen.«

In diesem Augenblick erinnerte Momo sich plötzlich an das, was Beppo und Gigi über Zeit

sparen und Ansteckung gesagt hatten. Ihr kam die schreckliche Ahnung, daß dieser graue

Herr etwas damit zu tun hatte. Sehnlich wünschte sie, daß die beiden Freunde jetzt hier wären.

Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt. Aber sie beschloß, sich trotzdem keine Angst machen

zu lassen. Sie nahm all ihre Kraft und ihren Mut zusammen und stürzte sich ganz und gar in

die Dunkelheit und Leere hinein, hinter der der graue Herr sich vor ihr verbarg. Der hatte

Momo aus den Augenwinkeln beobachtet. Die Veränderung in ihrem Gesicht war ihm nicht

entgangen. Er lächelte ironisch, während er sich am Stummel seiner grauen Zigarre eine neue

anzündete. »Gib dir keine Mühe«, sagte er, »mit uns kannst du es nicht aufnehmen.«

Momo gab nicht nach.

»Hat dich denn niemand lieb?« fragte sie flüsternd. Der graue Herr krümmte sich und sank

plötzlich ein wenig in sich zusammen. Dann antwortete er mit aschengrauer Stimme: »Ich

muß schon sagen, so jemand wie du ist mir noch nicht vorgekommen, wirklich nicht. Und ich

kenne viele Menschen. Wenn es mehr von deiner Sorte gäbe, dann könnten wir unsere Spar-

Kasse bald zumachen und uns selbst in Nichts auflösen -, denn wovon sollten wir dann noch

existieren?«

Der Agent unterbrach sich. Er starrte Momo an und schien gegen etwas anzukämpfen, das er

nicht begreifen konnte, und mit dem er nicht fertig wurde. Sein Gesicht wurde noch eine Spur

aschengrauer. Als er nun wieder zu reden begann, war es, als geschehe es gegen seinen

Willen, als brächen die Worte von selbst aus ihm hervor und er könne es nicht verhindern.

Dabei verzerrte sich sein Gesicht mehr und mehr vor Entsetzen über das, was mit ihm

geschah. Und nun hörte Momo endlich seine wahre Stimme: »Wir müssen unerkannt

bleiben«, vernahm sie wie von weitem, »niemand darf wissen, daß es uns gibt und was wir

tun . . . Wir sorgen dafür, daß kein Mensch uns im Gedächtnis behalten kann . . . Nur solang

wir unerkannt sind, können wir unserem Geschäft nachgehen . . . ein mühseliges Geschäft,

den Menschen ihre Lebenszeit stunden-, minuten- und sekundenweise abzuzapfen . . . denn

alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren . . . Wir reißen sie an uns . . . wir speichern sie

auf. . . wir brauchen sie … uns hungert

danach . . . Ah, ihr wißt es nicht, was das ist, eure Zeit! . . . Aber wir, wir wissen es und

saugen euch aus bis auf die Knochen . . . Und wir brauchen mehr . . . immer mehr . . . denn

auch wir werden mehr . . . immer mehr . . . immer mehr … «

Diese letzten Worte hatte der graue Herr fast röchelnd hervorgestoßen, aber nun hielt er sich

mit beiden Händen selbst den Mund zu. Die Augen quollen ihm hervor, und er stierte Momo

  1. Nach einer Weile schien es, als ob er aus einer Art Betäubung wieder zu sich käme. »Was

– was war das?« stammelte er. »Du hast mich ausgehorcht! Ich bin krank! Du hast mich krank

gemacht, du !« – Und dann in beinahe flehendem Ton: »Ich habe lauter Unsinn geredet, liebes

Kind. Vergiß es! Du mußt mich vergessen, so wie alle anderen uns vergessen! Du mußt! Du

mußt!«

Und er packte Momo und schüttelte sie. Sie bewegte die Lippen, vermochte aber nichts zu

sagen.

Da sprang der graue Herr auf, blickte sich wie gehetzt um, packte seine bleigraue Aktentasche

und rannte zu seinem Auto. Und nun geschah etwas höchst Sonderbares: Wie in einer

umgekehrten Explosion flogen all die Puppen und die ganzen anderen umhergestreuten

Sachen von allen Seiten in den Kofferraum hinein, der knallend zuschlug. Dann raste das

Auto davon, daß die Steine spritzten. Momo saß noch lang auf ihrem Platz und versuchte zu

begreifen, was sie da gehört hatte. Nach und nach wich die schreckliche Kälte aus ihren

Gliedern und in gleichem Maße wurde ihr alles immer klarer und klarer. Sie vergaß nichts.

Denn sie hatte die wirkliche Stimme eines grauen Herren gehört. Vor ihr im dürren Gras stieg

eine kleine Rauchsäule auf. Dort qualmte der zerdrückte Stummel der grauen Zigarre und

zerfiel langsam zu Asche.

ACHTES KAPITEL

Eine Menge Träume und ein paar Bedenken

Am späteren Nachmittag kamen Gigi und Beppo. Sie fanden Momo im Schatten der Mauer

sitzend, noch immer ein wenig blaß und verstört. Sie setzten sich zu ihr und erkundigten sich

besorgt, was mit ihr los wäre. Stockend begann Momo zu berichten, was sie erlebt hatte. Und

schließlich wiederholte sie Wort für Wort die ganze Unterhaltung mit dem grauen Herren.

Während der Erzählung schaute der alte Beppo Momo sehr ernst und prüfend an. Die Falten

auf seiner Stirn vertieften sich. Auch nachdem Momo geendet hatte, schwieg er.

Gigi dagegen hatte mit wachsender Erregung zugehört. Seine Augen begannen zu glänzen, so

wie sie es oft taten, wenn er selber beim Erzählen in Fahrt kam.

»Jetzt, Momo«, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter, »hat unsere große Stunde

geschlagen ! Du hast entdeckt, was bisher noch niemand wußte ! Und jetzt werden wir nicht

nur unsere alten Freunde, nein, jetzt werden wir die ganze Stadt retten ! Wir drei, ich, Beppo

und du, Momo!«

Er war aufgesprungen und hatte beide Hände ausgestreckt. In seiner Phantasie sah er vor sich

eine riesige Menschenmenge, die ihm, dem Befreier, zujubelte.

»Schon«, sagte Momo ein wenig verwirrt, »aber wie wollen wir das machen?«

»Was meinst du?« fragte Gigi irritiert.

»Ich meine«, erklärte Momo, »wie wollen wir das machen, die grauen Herren besiegen?« »Na

ja«, sagte Gigi, »so genau weiß ich das im Moment natürlich auch noch nicht. Das müssen wir

uns erst ausdenken. Aber eines ist doch klar: Nachdem wir jetzt wissen, daß es sie gibt und

was sie tun, müssen wir den Kampf mit ihnen aufnehmen — oder hast du etwa Angst?«

Momo nickte verlegen. »Ich glaub’, es sind keine gewöhnlichen Männer. Der, der bei mir war,

sah irgendwie anders aus. Und die Kälte ist ganz schlimm. Und wenn es viele sind, dann sind

sie bestimmt sehr gefährlich. Ich hab’ schon Angst.«

»Ach was!« rief Gigi begeistert. »Die Sache ist doch ganz einfach! Diese grauen Herren

können ja nur ihrem finsteren Geschäft nachgehen, wenn sie unerkannt sind. Das hat dein

Besucher doch selbst verraten. Also! Wir brauchen nur dafür zu sorgen, daß sie erkennbar

werden. Denn wer sie einmal erkannt hat, der behält sie in Erinnerung, und wer sich an sie

erinnert, der erkennt sie sofort ! Also können sie uns überhaupt nichts anhaben – wir sind

unangreifbar!« »Glaubst du?« fragte Momo etwas zweifelnd.

»Selbstverständlich!« fuhr Gigi mit leuchtenden Augen fort. »Sonst wäre dein Besucher doch

nicht so Hals über Kopf vor dir geflohen. Sie zittern vor uns ! «

»Aber dann«, meinte Momo, »werden wir sie vielleicht gar nicht finden? Vielleicht

verstecken sie sich vor uns.«

»Das kann allerdings leicht sein«, gab Gigi zu. »Dann müssen wir sie eben aus ihrem

Versteck herauslocken.« »Und wie?« fragte Momo. »Sie sind, glaub’ ich, sehr schlau.«

»Nichts leichter als das !« rief Gigi und lachte. »Wir fangen sie mit ihrer eigenen Gier. Mit

Speck fängt man Mäuse, also fängt man Zeit-Diebe mit Zeit.

Wir haben doch genug davon! Du müßtest dich zum Beispiel als Köder hinsetzen und sie

anlocken. Und wenn sie dann kommen, dann werden Beppo und ich aus unserem Versteck

hervorbrechen und sie überwältigen.«

»Aber mich kennen sie jetzt schon«, wandte Momo ein. »Ich glaub’ nicht, daß sie darauf

hereinfallen.«

‘»Gut«, meinte Gigi, bei dem die Einfälle anfingen, sich zu überstürzen, »dann werden wir

eben etwas anderes machen. Der graue Herr hat doch was von der Zeit-Spar-Kasse gesagt.

Das muß doch wohl ein Gebäude sein. Es steht irgendwo in der Stadt. Wir müssen es nur

finden. Und das werden wir bestimmt, denn ich bin sicher, daß es ein ganz besonderes

Gebäude ist: grau, unheimlich, fensterlos, ein riesenhafter Geldschrank aus Beton ! Ich sehe

es vor mir. Wenn wir es gefunden haben, dann gehen wir hinein. Jeder von uns hat in beiden

Händen eine Pistole. >Gebt auf der Stelle alle gestohlene Zeit heraus!« sage ich . . .« »Wir

haben aber gar keine Pistolen«, unterbrach ihn Momo bekümmert.

»Dann machen wir es eben ohne Pistolen«, antwortete Gigi großartig. »Das wird sie sogar

noch mehr erschrecken. Unsere Erscheinung allein wird schon genügen, sie in panische

Furcht zu versetzen.« »Es wäre vielleicht gut«, sagte Momo, »wenn wir dabei ein bißchen

mehr wären, nicht bloß wir drei. Ich meine, dann würden wir die Zeit-Spar-Kasse vielleicht

auch eher finden, wenn noch andere mitsuchen.« »Das ist eine sehr gute Idee«,

entgegneteGigi. »Wir sollten alle unsere alten Freunde mobilisieren. Und die vielen Kinder,

die jetzt immer kommen. Ich schlage vor, wir gehen sofort alle drei los, und jeder

benachrichtigt so viele, wie er finden kann. Und die sollen es wieder den—’ anderen

weitersagen. Wir treffen uns alle morgen nachmittag um drei hier zur großen Beratung!«

Sie machten sich also gleich auf den Weg, Momo in der einen Richtung, Beppo und Gigi in

der anderen.

Als die beiden Männer schon eine Weile gegangen waren, blieb Beppo, der bis jetzt noch

immer geschwiegen hatte, plötzlich stehen. »Hör’ mal, Gigi«, sagte er, »ich mach’ mir

Sorgen.«Gigi drehte sich nach ihm um. »Worüber denn?« Beppo blickte den Freund eine

Weile an und sagte dann: »Ich glaube Momo. «

»Ja und?« fragte Gigi verwundert.

»Ich meine«, fuhr Beppo fort, »ich glaube, daß es wahr ist, was Momo uns erzählt hat.«

»Gut, und was weiter?« fragte Gigi, der nicht verstand, was Beppo wollte.

»Weißt du«, erklärte Beppo, »wenn es nämlich wahr ist, was Momo da gesagt hat, dann

müssen wir uns gut überlegen, was wir tun. Wenn es sich wirklich um eine geheime

Verbrecherbande handelt – mit so jemand legt man sich nicht so ohne weiteres an, verstehst

du? Wenn wir die einfach so herausfordern, dann kann das Momo in eine schlimme Lage

bringen. Von uns will ich gar nicht reden, aber wenn wir jetzt auch noch die Kinder mit

hineinziehen, dann bringen wir sie vielleicht in Gefahr. Wir müssen uns wirklich überlegen,

was wir tun.« »Ach was !« rief Gigi und lachte, »was du dir immer für Sorgen machst ! Je

mehr mitmachen, desto besser ist es doch.« »Mir scheint«, erwiderte Beppo ernst, »du glaubst

gar nicht, daß es wahr ist, was Momo erzählt hat.«

»Was heißt denn wahr!« antwortete Gigi. »Du bist ein Mensch ohne Phantasie, Beppo. Die

ganze Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit. Doch, Beppo, doch, ich

glaube alles, was Momo erzählt hat, genauso wie du!«

Beppo wußte nichts darauf zu erwidern, aber seine Sorgen waren durch Gigis Antwort

keineswegs geringer geworden. Dann trennten sie sich, und jeder ging in eine andere

Richtung, um die Freunde und die Kinder von der morgigen Versammlung zu

benachrichtigen, Gigi mit leichtem, Beppo mit schwerem Herzen. In dieser Nacht träumte

Gigi vom künftigen Ruhm als Befreier der

Stadt. Er sah sich im Frack, Beppo im Bratenrock und Momo in einem Kleid aus weißer

Seide. Und dann wurden ihnen allen dreien goldene Ketten um den Hals gelegt und

Lorbeerkränze aufgesetzt. Großartige Musik ertönte, und die Stadt veranstaltete zu Ehren

ihrer Retter einen Fackelzug, wie er noch nie zuvor Menschen dargebracht worden war, so

lang und so prächtig.

Zur gleichen Zeit lag der alte Beppo auf seinem Bett und konnte keinen Schlaf finden. Je

länger er nachdachte, desto deutlicher wurde ihm die Gefährlichkeit der ganzen Sache.

Natürlich würde er Gigi und Momo nicht allein ins Verderben rennen lassen – er würde

mitgehen, was auch immer daraus werden mochte. Aber er mußte wenigstens versuchen, sie

zurückzuhalten.

Am nächsten Nachmittag um drei Uhr hallte die Ruine des alten Amphitheaters wider vom

aufgeregten Geschrei und Geschnatter vieler Stimmen. Die Erwachsenen unter den alten

Freunden waren zwar leider nicht gekommen (außer Beppo und Gigi natürlich), aber etwa

fünfzig bis sechzig Kinder von nah und fern, arme und reiche, wohlerzogene und wilde,

größere und kleinere. Manche hatten, wie das Mädchen Maria, Geschwisterchen dabei, die an

der Hand geführt oder auf dem Arm getragen wurden und nun mit großen Augen, den Finger

im Mund, diese ungewöhnliche Versammlung betrachteten. Franco, Paolo und Massimo

waren natürlich auch da, die übrigen Kinder gehörten fast alle zu denen, die erst in letzter Zeit

ins Amphitheater gekommen waren. Sie interessierten sich natürlich ganz besonders für die

Sache, um die es hier gehen sollte. Übrigens war auch der kleinere Junge mit dem Kofferradio

erschienen – ohne Kofferradio allerdings. Er saß neben Momo, der er heute gleich als erstes

gesagt hatte, daß er Claudio heiße und froh sei, daß er mitmachen dürfe. Als schließlich

ersichtlich war, daß keine Nachzügler mehr kommen würden, erhob sich Gigi Fremdenführer

und gebot mit großer Gebärde Schweigen. Die Unterhaltungen und das Geschnatter

verstummten, und erwartungsvolle Stille breitete sich in dem steinernen Rund aus. »Liebe

Freunde«, begann Gigi mit lauter Stimme, »ihr alle wißt ja schon ungefähr, worum es geht.

Das hat man euch bei der Einladung zu dieser Geheimversammlung mitgeteilt. Bis heute war

es so, daß immer mehr Menschen immer weniger Zeit hatten, obgleich mit allen Mitteln

fortwährend Zeit gespart wurde. Aber seht ihr, gerade diese Zeit, die da gespart wurde, war

es, die den Menschen abhanden kam. Und warum? Momo hat es entdeckt ! Den Menschen

wird diese Zeit buchstäblich von einer Bande von Zeit-Dieben gestohlen ! Und dieser

eiskalten Verbrecherorganisation das Handwerk zu legen, das ist es, wozu wir eure Hilfe

brauchen. Wenn ihr alle bereit seid, mitzumachen, dann wird dieser ganze Spuk, der über die

Menschen gekommen ist, mit einem Schlag zu Ende sein. Meint ihr nicht, daß es sich dafür zu

kämpfen lohnt?«

Er machte eine Pause, und die Kinder klatschten Beifall. »Wir werden nachher«, fuhr Gigi

fort, »darüber beraten, was wir unternehmen Wollen. Aber nun soll euch zuerst Momo

erzählen, wie sie einem dieser Kerle begegnet ist und wie er sich verraten hat.« »Moment

mal«, sagte der alte Beppo und stand auf, »hört mal zu, Kinder! Ich bin dagegen, daß Momo

redet. Das geht so nicht. Wenn sie redet, bringt sie sich selber und euch alle in die größte

Gefahr… « »Doch!« riefen einige Kinder, »Momo soll erzählen!« Andere fielen ein, und

schließlich riefen alle im Chor: »Momo ! Momo ! Momo!«

Der alte Beppo setzte sich, nahm seine Brille ab und strich sich mit den Fingern müde über

die Augen.

Momo stand verwirrt auf. Sie wußte nicht recht, wessen Wunsch sie folgen sollte, dem

Beppos oder dem der Kinder. Schließlich begann sie

zu erzählen. Die Kinder hörten gespannt zu. Als sie geendet hatte, folgte eine lange Stille.

Während Momos Bericht war ihnen allen etwas bänglich zumut gewesen. So unheimlich

hatten sie sich diese Zeit-Diebe nicht vorgestellt. Ein kleines Geschwisterchen fing laut zu

weinen an, wurde aber gleich wieder beschwichtigt.

»Nun?« fragte Gigi in die Stille hinein, »wer von euch traut sich, mit uns zusammen den

Kampf gegen diese grauen Herren aufzunehmen?« »Warum hat Beppo nicht gewollt«, fragte

Franco, »daß Momo uns ihr Erlebnis erzählt?«

»Er meint«, erklärte Gigi und lächelte aufmunternd, »daß die grauen Herren jeden, der ihr

Geheimnis kennt, als Gefahr für sich betrachten und ihn deshalb verfolgen werden. Aber ich

bin sicher, daß es gerade umgekehrt ist, daß jeder, der ihr Geheimnis kennt, gegen sie gefeit

ist und sie ihm nichts mehr anhaben können. Das ist doch klar ! Gib es doch zu, Beppo!«

Aber der schüttelte nur langsam den Kopf. Die Kinder schwiegen.

»Eines steht jedenfalls fest«, ergriff Gigi wieder das Wort, »wir müssen jetzt auf Gedeih und

Verderb zusammenhalten ! Wir müssen vorsichtig sein, aber wir dürfen uns keine Angst

machen lassen. Und darum frage ich euch nun noch einmal, wer von euch will mitmachen?«

»Ich!« rief Claudio und stand auf. Er war ein bißchen blaß. Seinem Beispiel folgten erst

zögernd, dann immer entschlossener andere, bis zuletzt alle Anwesenden sich gemeldet

hatten. »Nun, Beppo«, meinte Gigi und wies auf die Kinder, »was sagst du dazu?«

»Gut«, antwortete Beppo und nickte traurig, »ich mach’ natürlich auch mit.« »Also«, wandte

Gigi sich wieder an die Kinder, »dann wollen wir jetzt beraten, was wir tun sollen. Wer hat

irgendeinen Vorschlag?« Alle dachten nach. Schließlich fragte Paolo, der Junge mit der

Brille: »Aber wie können die das? Ich meine, wie kann man denn Zeit wirklich stehlen? Wie

soll denn das gehen?« »Ja«, rief Claudio, »was ist denn Zeit überhaupt?« Niemand wußte eine

Antwort.

Auf der anderen Seite des steinernen Rundes erhob sich nun das Mädchen Maria mit dem

kleinen Geschwisterchen Dedé auf dem Arm und sagte: »Vielleicht ist es so was wie Atome?

Sie können ja auch Gedanken, die einer bloß im Kopf denkt, mit einer Maschine aufschreiben.

Das hab’ ich selber im Fernsehen gesehen. Es gibt doch heute für alles Spezialfachleute. «

»Ich hab’ eine Idee!« rief der dicke Massimo mit seiner Mädchenstimme. »Wenn man

Filmaufnahmen macht, ist doch alles auf dem Film drauf. Und bei Tonbandaufnahmen ist

alles auf dem Band. Vielleicht haben sie einen Apparat, mit dem man die Zeit aufnehmen

kann. Wenn wir wüßten, wo sie drauf ist, dann könnten wir sie einfach wieder ablaufen

lassen, dann wäre sie wieder da!«

»Jedenfalls«, sagte Paolo und schob seine Brille auf der Nase hoch, »müssen wir erst mal

einen Wissenschaftler finden, der uns hilft. Sonst können wir gar nichts machen.«

»Du immer mit deinen Wissenschaftlern!« rief Franco. »Denen kann man schon gleich nicht

trauen ! Nimm mal an, wir finden einen, der Bescheid weiß – woher willst du wissen, daß er

nicht mit den Zeit-Dieben zusammenarbeitet? Dann sitzen wir schön in der Tinte!« Das war

ein berechtigter Einwand.

Jetzt erhob sich ein sichtlich wohlerzogenes Mädchen und sagte: »Ich finde, das beste wäre,

wir melden das Ganze der Polizei.« »Soweit kommt’s noch!« protestierte Franco. »Die

Polizei, was die schon machen kann ! Das sind doch keine gewöhnlichen Räuber ! Entweder

weiß die Polizei schon längst Bescheid, dann ist sie offenbar machtlos. Oder sie hat noch

nichts von dem ganzen Saustall gemerkt -dann ist es sowieso hoffnungslos. Das ist meine

Meinung.« Eine Stille der Ratlosigkeit folgte.

»Aber irgendwas müssen wir doch tun«, meinte Paolo schließlich. »Und zwar möglichst

schnell, ehe die Zeit-Diebe etwas von unserer Verschwörung merken.« Nun erhob sich Gigi

Fremdenführer.

»Liebe Freunde«, begann er, »ich habe mir die ganze Angelegenheit gründlich überlegt. Ich

habe Hunderte von Plänen entwickelt und wieder verworfen, bis ich schließlich einen

gefunden habe, der mit Sicherheit zum Ziel führen wird. Wenn ihr alle mitmacht ! Ich wollte

nur zuerst hören, ob einer von euch vielleicht einen besseren Plan hat. Also, ich will euch nun

sagen, was wir tun werden.« Er machte eine Pause und blickte langsam im ganzen Rund

umher. Mehr als fünfzig Kindergesichter waren ihm zugewandt. So viele Zuhörer hatte er

schon lange nicht mehr gehabt. »Die Macht dieser grauen Herren«, fuhr er fort, »liegt darin,

wie ihr nun wißt, daß sie unerkannt und im geheimen arbeiten können. Also ist das einfachste

und wirkungsvollste Mittel, um sie unschädlich zu machen, daß alle Leute die Wahrheit über

sie erfahren. Und wie werden wir das machen? Wir werden eine große Kinder-Demonstration

veranstalten ! Wir werden Plakate und Transparente malen und damit durch alle Straßen

ziehen. Wir werden die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf uns lenken. Und wir werden

die ganze Stadt hierher zu uns ins alte Amphitheater einladen, um sie aufzuklären. Es wird

eine ungeheure Aufregung unter den Leuten geben ! Tausende und Abertausende werden

herbeiströmen ! Und wenn sich hier eine unübersehbare Menschenmenge versammelt hat,

dann werden wir das schreckliche Geheimnis aufdecken ! Und dann – dann wird sich die Welt

mit einem Schlag ändern! Man wird niemand mehr die Zeit stehlen können. Jeder wird so viel

davon haben, wie er nur haben will, denn von nun an ist ja wieder genug da. Und das, meine

Freunde, können wir, wir alle gemeinsam schaffen, wenn wir nur wollen. Wollen wir?«

Ein vielstimmiger Jubelschrei war die Antwort. »Ich stelle also fest«, schloß Gigi seine Rede,

»wir haben einstimmig den Beschluß gefaßt, die ganze Stadt für den nächsten

Sonntagnachmittag ins alte Amphitheater einzuladen. Aber bis dahin muß strengstes

Stillschweigen über unseren Plan bewahrt werden, verstanden? Und nun, Freunde – an die

Arbeit!«

Diesen und die folgenden Tage herrschte heimlicher, aber fieberhafter Hochbetrieb in der

Ruine. Papier und Töpfe voll Farbe und Pinsel und Leim und Bretter und Pappe und Latten,

und was sonst noch alles nötig war, wurde herbeigeschafft. (Wie und woher, wollen wir lieber

nicht fragen.) Und während die einen Transparente und Plakate und Umhängetafeln

fabrizierten, dachten sich die anderen, die gut schreiben konnten, eindrucksvolle Texte aus

und malten sie darauf. Es waren Aufrufe, die zum Beispiel folgendes mitteilten:

Und auf allen stand außerdem Ort und Datum der Einladung. Als schließlich alles fertig war,

stellten sich die Kinder im Amphitheater auf, Gigi, Beppo und Momo an der Spitze, und dann

zogen sie mit ihren Tafeln und Transparenten im langen Gänsemarsch in die Stadt. Dazu

machten sie Lärm mit Blechdeckeln und Pfeifchen, riefen Sprechchöre und sangen folgendes

Lied, das Gigi eigens für diesen Anlaß gedichtet hatte:

»Hört, ihr Leut, und laßt euch sagen: Fünf vor zwölf hat es geschlagen. Drum wacht auf und

seid gescheit, denn man stiehlt euch eure Zeit.

Hört, ihr Leut, und laßt euch sagen: Laßt euch nicht mehr länger plagen ! Kommt am Sonntag

so um drei, hört uns zu, dann seid ihr frei!«Das Lied hatte natürlich noch mehr Strophen,

achtundzwanzig insgesamt, aber die brauchen wir hier nicht alle aufzuführen. Ein paar Mal

griff die Polizei ein und trieb die Kinder auseinander, wenn sie den Straßenverkehr

behinderten. Aber die Kinder ließen sich dadurch keineswegs entmutigen. Sie sammelten sich

an anderen Stellen wieder neu und fingen von vorn an. Sonst passierte ihnen nichts, und graue

Herren konnten sie, trotz angestrengtester Aufmerksamkeit, nirgends entdecken.

Aber viele andere Kinder, die den Umzug sahen und bisher noch nichts von der ganzen Sache

gewußt hatten, schlössen sich an und gingen mit, bis es viele hundert und schließlich sogar

tausend waren. Überall in der großen Stadt zogen nun Kinder in langen Prozessionen durch

die Straßen und luden die Erwachsenen zu der wichtigen Versammlung ein, die die Welt

verändern sollte.

NEUNTES KAPITEL

Eine gute Versammlung, die nicht stattfindet, und eine schlimme

Versammlung, die stattfindet

Die große Stunde war vorüber.

Sie war vorüber, und keiner der Eingeladenen war gekommen. Gerade

diejenigen Erwachsenen, die es am meisten anging, hatten von den

Umzügen der Kinder kaum etwas bemerkt.

Nun war also alles umsonst gewesen.

Die Sonne neigte sich schon tief dem Horizont zu und stand groß und

rot in einem purpurnen Wolkenmeer. Ihre Strahlen streiften nur noch

die obersten Stufen des alten Amphitheaters, in dem seit Stunden

Hunderte von Kindern saßen und warteten. Kein Stimmengewirr und

kein fröhlicher Lärm war mehr zu hören. Alle saßen still und traurig

da.

Die Schatten verlängerten sich rasch, bald wurde es dunkel werden. Die

Kinder begannen zu frösteln, denn es wurde kühl. Eine Kirchturmuhr

in der Ferne schlug achtmal. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, daß die

Sache ganz und gar mißlungen war.

Die ersten Kinder standen auf und gingen schweigend fort, andere

schlössen sich ihnen an. Niemand sagte ein Wort. Die Enttäuschung

war zu groß.

Schließlich kam Paolo zu Momo und sagte: »Es hat keinen Zweck

mehr, zu warten, Momo. Jetzt kommt keiner mehr. Gute Nacht,

Momo.«

Und er ging.

Dann kam Franco zu ihr und sagte: »Da kann man nichts machen. Mit

den Erwachsenen brauchen wir nicht mehr zu rechnen, das haben wir ja

jetzt gesehen. Ich war ja immer schon mißtrauisch gegen sie, aber jetzt will ich überhaupt

nichts mehr mit ihnen zu tun haben.« Dann ging auch er, und ihm folgten andere. Und

schließlich, als es schon dunkel wurde, gaben auch die letzten Kinder die Hoffnung auf und

zogen ab. Momo blieb mit Beppo und Gigi allein.

Nach einer Weile stand auch der alte Straßenkehrer auf.

»Gehst du auch?« fragte Momo.

»Ich muß«, antwortete Beppo, »ich hab’ Sonderdienst.«

»In der Nacht?«

»Ja, sie haben uns ausnahmsweise zum Müll-Abladen eingeteilt. Da

muß ich jetzt hin.«

»Aber es ist doch Sonntag! Und überhaupt, das hast du doch noch nie

gemußt!«

»Nein, aber jetzt haben sie uns dazu eingeteilt. Ausnahmsweise, sagen sie. Weil sie sonst

nicht fertig werden. Personalmangel und so.« »Schade«, meinte Momo, »ich war’ froh

gewesen, wenn du heute hier

geblieben wärst.«

»]a, mir ist es gar nicht recht, daß ich jetzt weg muß«, sagte Beppo.

»Also, auf Wiedersehen bis morgen.«

Er schwang sich auf sein quietschendes Fahrrad und verschwand in der

Dunkelheit.

Gigi pfiff leise ein melancholisches Lied vor sich hin. Er konnte sehr

schön pfeifen, und Momo hörte ihm zu. Aber plötzlich brach er die

Melodie ab.

»Ich muß ja auch weg!« sagte er. »Heute ist ja Sonntag, da muß ich ja

Nachtwächter spielen ! Hab’ ich dir schon erzählt, daß das mein neuester Beruf ist? Ich hatt’s

beinah vergessen.«

Momo schaute ihn groß an und sagte nichts.

»Sei nicht traurig«, fuhr Gigi fort, »daß unser Plan nicht so gelungen

ist, wie wir dachten. Ich hatte mir auch was anderes vorgestellt. Aber

trotzdem – eigentlich hat es doch Spaß gemacht! Es war großartig.«

Da Momo beharrlich schwieg, fuhr er ihr tröstend durch die Haare und fügte hinzu : »Nimm’s

doch nicht so schwer, Momo. Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus. Wir denken

uns einfach was Neues aus, eine neue Geschichte, ja?« »Das war keine Geschichte«, sagte

Momo leise. Gigi stand auf. »Ich versteh’ schon, aber wir reden morgen weiter darüber,

einverstanden? Ich muß jetzt los, ich bin sowieso schon zu spät dran. Und du solltest dich

jetzt schlafen legen.« Und er ging, sein melancholisches Lied pfeifend, davon. So blieb Momo

ganz allein in dem großen steinernen Rund sitzen. Die Nacht war sternenlos. Der Himmel

hatte sich mit Wolken bedeckt. Ein seltsamer Wind erhob sich. Er war nicht stark, aber

unablässig, und er war von einer eigentümlichen Kälte. Es war sozusagen ein aschengrauer

Wind.

Weit draußen vor der großen Stadt erhoben sich die gewaltigen Müllhalden. Es war ein

richtiges Gebirge aus Asche, Scherben, Blechbüchsen, alten Matratzen, Plastikresten,

Pappschachteln und all den anderen Sachen, die in der großen Stadt jeden Tag weggeworfen

wurden und die hier darauf warteten, nach und nach in die riesigen Verbrennungsöfen zu

wandern.

Bis spät in die Nacht hinein half der alte Beppo, zusammen mit seinen Kollegen, den Müll

von den Lastwagen zu schaufeln, die in langer Reihe und mit leuchtenden Scheinwerfern

standen, um entladen zu werden. Und je mehr abgefertigt waren, desto mehr hatten sich schon

wieder an die Reihe angeschlossen.

»Eilt euch, Leute!« hieß es ständig. »Los, los! Sonst werden wir nie fertig!«

Beppo hatte geschaufelt und geschaufelt, bis ihm das Hemd am Leibe klebte. Gegen

Mitternacht endlich war es vorüber.Da Beppo ja schon alt und sowieso nicht gerade von sehr

kräftiger Statur war, saß er nun erschöpft auf einer umgekehrten, zerlöcherten

Plastikwanne und versuchte, zu Atem zu kommen.

»He, Beppo«, rief einer seiner Kollegen, »wir fahren jetzt heim.

Kommst du mit?«

»Einen Augenblick«, sagte Beppo und drückte die Hand auf sein Herz,

das weh tat.

»Ist dir nicht gut, Alter?« fragte ein anderer.

»Ist schon in Ordnung«, antwortete Beppo, »fahrt nur schon los. Ich ruhe mich nur noch einen

Augenblick aus.«

»Also dann«, rief en die anderen, »gute Nacht!« Und sie fuhren weg. Es wurde still. Nur die

Ratten raschelten da und dort im Müll und pfiffen manchmal. Beppo schlief ein, den Kopf in

seine Arme gestützt. Wie lange er so geschlafen hatte, wußte er nicht, als ihn plötzlich ein

kalter Windstoß weckte. Er blickte auf und war mit einem Schlag hellwach.

Auf dem ganzen riesigen Müll-Gebirge standen graue Herren in feiner Anzügen, runde steife

Hüte auf den Köpfen, bleigraue Aktentaschen in den Händen und kleine graue Zigarren

zwischen den Lippen. Sie alle schwiegen und blickten unverwandt zur höchsten Stelle der

Müllhalde, wo eine Art Richtertisch aufgebaut war, hinter dem drei Herren saßen, die sich

sonst in nichts von den Übrigen unterschieden. Im ersten Augenblick durchfuhr Beppo Angst.

Er fürchtete, entdeckt zu werden. Hier durfte er nicht sein, das war ihm klar, ohne daß er

darüber nachdenken mußte.

Aber dann bemerkte er bald, daß die grauen Herren wie gebannt zu dem Richtertisch

hinaufblickten. Vielleicht sahen sie ihn überhaupt nicht, oder vielleicht hielten sie ihn einfach

für irgendeine weggeworfene Sache. Jedenfalls beschloß Beppo, sich mucksmäuschenstill zu

verhalten.

»Der Agent BLW/553/c möge vor das Hochgericht treten !« erscholl in die Stille hinein die

Stimme des Herren, der oben am Tisch in der Mitte saß.

Der Ruf wurde weiter unten wiederholt und erklang wie ein zweites Echo nochmals weit

entfernt. Dann öffnete sich eine Gasse in der Menge, und ein grauer Herr stieg langsam die

Müllhalde hinauf. Das einzige, was ihn von allen anderen deutlich unterschied, war, daß das

Grau seines Gesichtes fast weiß war. Endlich stand er vor dem Richtertisch. «Sie sind Agent

BLW/553/c?« fragte der in der Mitte. »Jawohl.«

»Seit wann arbeiten Sie für die Zeit-Spar-Kasse?« »Seit meiner Entstehung.«

»Das versteht sich von selbst. Sparen Sie sich solche überflüssigen Bemerkungen! Wann sind

Sie entstanden?«

»Vor elf Jahren, drei Monaten, sechs Tagen, acht Stunden, zweiunddreißig Minuten und – in

diesem Augenblick genau – achtzehn Sekunden.«

Obwohl diese Unterhaltung leise geführt wurde und überdies weit entfernt stattfand, konnte

der alte Beppo seltsamerweise jedes Wort verstehen.

»Ist Ihnen bekannt«, fuhr der Herr in der Mitte mit seiner Befragung fort, »daß es eine nicht

unbeträchtliche Anzahl von Kindern in dieser Stadt gibt, die heute überall Tafeln und Plakate

herumgetragen haben und die sogar den ungeheuerlichen Plan hatten, die ganze Stadt zu sich

einzuladen, um sie über uns aufzuklären?« »Es ist mir bekannt«, antwortete der Agent.

»Wie erklären Sie sich«, fragte der Richter unerbittlich weiter, »daß diese Kinder überhaupt

über uns und unsere Tätigkeit Bescheid wissen?«»Ich kann es mir auch nicht erklären«, gab

der Agent zur Antwort. »Aber wenn ich mir hierzu eine Bemerkung erlauben darf, so möchte

ich dem Hohen Gericht nahelegen, diese ganze Angelegenheit doch nicht ernster zu nehmen,

als sie ist. Eine hilflose Kinderei, nicht mehr ! Und außerdem bitte ich das Gericht, zu

bedenken, daß es uns ganz mühelos gelungen ist, die geplante Versammlung zu vereiteln,

indem wir den Leuten einfach keine Zeit dazu ließen. Aber selbst wenn uns das nicht

gelungen wäre, ich bin sicher, die Kinder hatten den Leuten nichts als irgendeine kindliche

Räubergeschichte mitzuteilen gewußt. Nach meiner Ansicht hätten wir die Versammlung

sogar stattfinden lassen sollen, um dadurch . . .«

»Angeklagter !« unterbrach ihn der Herr in der Mitte scharf. »Ist Ihnen bewußt, wo Sie sich

befinden?«

Der Agent knickte ein wenig zusammen. »Jawohl«, hauchte er. »Sie befinden sich«, fuhr der

Richter fort, »nicht vor einem Menschengericht, sondern vor Ihresgleichen. Sie wissen genau,

daß Sie uns nicht anlügen können. Warum versuchen Sie es trotzdem?« »Es ist –

Berufsgewohnheit«, stammelte der Angeklagte. »Wie ernst oder nicht das Unternehmen der

Kinder zu nehmen ist«, sagte der Richter, »das überlassen Sie gefälligst dem Urteil des

Vorstandes. Aber auch Sie selbst, Angeklagter, wissen sehr gut, daß nichts und niemand

unserer Arbeit so gefährlich ist wie gerade die Kinder.« »Ich weiß es«, gab der Angeklagte

kleinlaut zu. »Kinder«, erklärte der Richter, »sind unsere natürlichen Feinde. Wenn es sie

nicht gäbe, so wäre die Menschheit längst ganz in unserer Gewalt. Kinder lassen sich sehr viel

schwerer zum Zeit-Sparen bringen als alle anderen Menschen. Daher lautet eines unserer

strengsten Gesetze: Kinder kommen erst zuletzt an die Reihe. Ist Ihnen dies Gesetz bekannt

gewesen, Angeklagter?« »Sehr wohl, Hohes Gericht«, keuchte der.

»Dennoch haben wir untrügliche Beweise dafür«, versetzte der Richter, »daß einer von uns,

ich wiederhole, einer von uns mit einem Kind gesprochen und ihm obendrein noch die

Wahrheit über uns verraten haben muß. Angeklagter, wissen Sie vielleicht, wer dieser eine

von uns war?«

»Ich war es«, antwortete der Agent BLW/553/c zerschmettert. »Und warum haben Sie somit

gegen unser strengstes Gesetz verstoßen ?« forschte der Richter.

»Weil dieses Kind«, verteidigte sich der Angeklagte, »in seiner Wirkung auf andere

Menschen unserer Arbeit ungemein im Wege ist. Ich habe in der besten Absicht für die Zeit-

Spar-Kasse gehandelt.« »Ihre Absichten interessieren uns nicht«, gab der Richter eisig

zurück. »Uns interessiert ausschließlich das Ergebnis. Und das Ergebnis in Ihrem Fall,

Angeklagter, war nicht nur keinerlei Zeitgewinn für uns, sondern obendrein haben Sie diesem

Kind auch noch einige unserer wichtigsten Geheimnisse verraten. Gestehen Sie das ein,

Angeklagter?«

»Ich gestehe es ein«, hauchte der Agent mit gesenktem Kopf. »Sie bekennen sich also

schuldig?«

. »Jawohl, aber ich bitte das Hohe Gericht, doch auch den mildernden Umstand anzuerkennen,

daß ich regelrecht verhext worden bin. Durch die Art, wie dieses Kind mir zuhörte, lockte es

alles aus mir heraus. Ich kann es mir selbst nicht erklären, wie es dazu gekommen ist, aber ich

schwöre, es war so.«

»Ihre Entschuldigungen interessieren uns nicht. Mildernde Umstände lassen wir nicht gelten.

Unser Gesetz ist unverbrüchlich und duldet keinerlei Ausnahme. Immerhin werden wir uns

dieses merkwürdigen Kindes ein wenig annehmen. Wie heißt es?« »Momo.« »Knabe oder

Mädchen?«»Ein kleines Mädchen.« »Wohnhaft?«

»In der Ruine des Amphitheaters.«

»Gut«, versetzte der Richter, der alles in sein kleines Notizbüchlein geschrieben hatte, »Sie

können versichert sein, Angeklagter, daß dieses Kind uns nicht noch einmal schaden wird.

Dafür werden wir mit allen Mitteln sorgen. Mag Ihnen das zum Trost gereichen, wenn wir

nun unverzüglich zur Vollstreckung des Urteils schreiten.« Der Angeklagte begann zu zittern.

»Und wie lautet das Urteil?« flüsterte er.

Die drei Herren hinter dem Richtertisch beugten sich zueinander, flüsterten sich etwas zu und

nickten.

Dann wandte sich der in der Mitte wieder dem Angeklagten zu und verkündete:

»Das Urteil über Agent BLW/553/c lautet einstimmig: Der Angeklagte wird des Hochverrats

für schuldig befunden. Er hat seine Schuld selbst eingestanden. Unser Gesetz schreibt vor,

daß ihm zur Strafe unverzüglich jegliche Zeit entzogen wird.«

»Gnade! Gnade!« schrie der Angeklagte auf. Aber schon hatten ihm zwei andere graue

Herren, die neben ihm standen, die bleigraue Aktentasche und die kleine Zigarre entrissen.

Und nun geschah etwas Sonderbares. Im selben Augenblick, wo der Verurteilte die Zigarre

nicht mehr hatte, begann er rasch immer durchsichtiger und durchsichtiger zu werden. Auch

sein Geschrei wurde dünner und leiser.

So stand er da, hielt sich die Hände vors Gesicht und löste sich buchstäblich in Nichts auf.

Ganz zuletzt war es, als ob der Wind noch ein paar Aschenflöckchen im Kreis herumwirbelte,

dann waren auch diese verschwunden. Schweigend entfernten sich alle grauen Herren, die

zugesehen und die

zu Gericht gesessen hatten. Die Dunkelheit verschlang sie, und nur noch der graue Wind

wehte über die öde Halde. Beppo Straßenkehrer saß noch immer reglos auf seinem Platz und

starrte auf die Stelle, wo der Angeklagte verschwunden war. Ihm war, als sei er zu Eis

gefroren und taue nun langsam wieder auf. Jetzt wußte er aus eigener Anschauung, daß es die

grauen Herren gab.

Etwa zur gleichen Stunde – die Turmuhr in der Ferne hatte Mitternacht geschlagen – saß die

kleine Momo noch immer auf den Steinstufen der Ruine. Sie wartete. Sie hätte nicht sagen

können, worauf. Aber irgendwie war ihr, als ob sie noch warten solle. Und so hatte sie sich

bis jetzt noch nicht entschließen können, schlafen zu gehen. Plötzlich fühlte sie, wie etwas sie

leise an ihrem nackten Fuß berührte. Sie beugte sich hinunter, denn es war ja sehr dunkel, und

erkannte eine große Schildkröte, die ihr mit erhobenem Kopf und seltsam lächelndem Mund

mitten ins Gesicht blickte. Ihre schwarzen klugen Augen glänzten so freundlich, als ob sie

gleich zu sprechen anfangen wollte. Momo beugte sich vollends zu ihr hinunter und krabbelte

sie mit dem Finger unter dem Kinn.

»Ja, wer bist du denn?« fragte sie leise. »Nett von dir, daß wenigstens du mich besuchen

kommst, Schildkröte. Was willst du denn von mir ?« Momo wußte nicht, ob sie es zuerst nur

nicht wahrgenommen hatte, oder ob es tatsächlich in diesem Augenblick erst sichtbar wurde,

jedenfalls bildeten sich nun plötzlich auf dem Rückenpanzer der Schildkröte schwach

leuchtende Buchstaben, die sich aus den Mustern der Hornplatten zu formen schienen.

»KOMM MIT!« entzifferte Momo langsam. Erstaunt setzte sie sich auf. »Meinst du mich?«

Aber die Schildkröte hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Nach einigen Schritten hielt sie

inné und schaute sich nach dem Kind um. »Sie meint wirklich mich!« sagte Momo zu sich

selbst. Dann stand sie auf

und eine hinter dem Tier her.

»Geh nur!« sagte sie leise. »Ich folge dir.«

Und Schrittchen für Schrittchen ging sie hinter der Schildkröte her, die

sie langsam, sehr langsam aus dem steinernen Rund herausführte und

dann die Richtung auf die große Stadt einschlug.

ZEHNTES KAPITEL

Eine wilde Verfolgung und eine geruhsame Flucht

Der alte Beppo radelte auf seinem quietschenden Fahrrad durch die Nacht. Er eilte sich, so

sehr er konnte. Immer wieder klangen ihm die Worte des grauen Richters im Ohr: »… Wir

werden uns dieses merkwürdigen Kindes annehmen . . . Sie können versichert sein,

Angeklagter, daß es uns nicht noch einmal schaden wird . . . dafür werden wir mit allen

Mitteln sorgen … «

Kein Zweifel, Momo war in größter Gefahr! Er mußte sofort zu ihr, mußte sie vor den Grauen

warnen, mußte sie vor ihnen beschützen -obwohl er nicht wußte wie. Aber das würde er schon

herausfinden. Beppo trat in die Pedale. Sein weißer Haarschopf flatterte. Der Weg bis zum

Amphitheater war noch weit.

Die ganze Ruine war grell erleuchtet von den Scheinwerfern vieler eleganter grauer Autos,

die sie von allen Seiten umstellt hatten. Dutzende von grauen Herren eilten die

grasbewachsenen Stufen hinauf und hinunter und durchsuchten jeden Schlupfwinkel.

Schließlich entdeckten sie auch das Loch in der Mauer, hinter dem Momos Zimmer lag.

Einige von ihnen kletterten hinein und guckten unter das Bett und sogar in den gemauerten

Ofen.

Dann kamen sie wieder heraus, klopften sich die feinen grauen Anzüge ab und zuckten die

Schultern. »Der Vogel ist ausgeflogen«, sagte einer.

»Es ist empörend«, meinte ein anderer, »daß Kinder in der Nacht herumstrolchen, anstatt

ordentlich in ihren Betten zu liegen.« »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, erklärte ein dritter.

»Das sieht fast so aus, als hätte sie jemand rechtzeitig gewarnt.«»Undenkbar!« sagte der erste.

»Der Betreffende hätte ja schon früher

als wir von unserem Beschluß wissen müssen!«

Die grauen Herren blickten einander alarmiert an.

»Falls sie tatsächlich von dem Betreffenden gewarnt worden ist«, gab

der dritte zu bedenken, »dann ist sie sicherlich nicht mehr hier in der

Gegend. Wir würden gerade durch weiteres Suchen hier nur unnütz

Zeit verlieren.«

»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

»Nach meiner Ansicht müßten wir sofort die Zentrale benachrichtigen, damit diese den Befehl

zum Großeinsatz gibt.« »Die Zentrale wird uns als erstes fragen, ob wir die Umgebung auch

tatsächlich gründlich abgesucht haben, und das mit Recht.« »Also gut«, sagte der erste graue

Herr, »durchsuchen wir zunächst die Umgebung. Aber wenn das Mädchen inzwischen von

dem Betreffenden Hilfe bekommen hat, dann machen wir damit einen großen Fehler.«

»Lächerlich!« fuhr ihn der andere böse an. »In diesem Fall kann die Zentrale immer noch

Großeinsatz anordnen. Dann werden sich sämtliche verfügbaren Agenten an der Jagd

beteiligen. Das Kind hat nicht die geringste Chance, uns zu entkommen. Und nun – an die

Arbeit, meine Herren! Sie wissen, was auf dem Spiel steht.« In dieser Nacht wunderten sich

viele Leute in der Gegend, warum der Lärm der vorbeirasenden Autos überhaupt nicht mehr

verstummen wollte. Selbst die kleinsten Seitenstraßen und holperigsten Kieswege waren bis

zum Morgengrauen von einem Getöse erfüllt wie sonst nur die großen Hauptverkehrsstraßen.

Man konnte kein Auge zutun. – Zur nämlichen Stunde wanderte die kleine Momo, von der

Schildkröte geführt, langsam durch die große Stadt, die jetzt niemals mehr schlief, selbst zu

dieser späten Nachtzeit nicht.

Rastlos jagten und hasteten die Menschen in riesigen Massen durcheinander, schoben sich

gegenseitig ungeduldig beiseite, rempelten sich an, oder trotteten hintereinander her in

endlosen Kolonnen. Auf den Fahrbahnen drängten sich die Autos, dazwischen dröhnten

riesige Omnibusse, die ständig überfüllt waren. An den Häuserfassaden flammten die

Leuchtreklamen auf, übergössen das Gewühl mit ihrem bunten Licht und erloschen wieder.

Momo, die alles das noch nie gesehen hatte, ging wie im Traum und mit großen Augen immer

hinter der Schildkröte her. Sie überquerten weite Plätze und hellerleuchtete Straßen, die Autos

rasten hinter ihnen und vor ihnen vorüber, Passanten umdrängten sie, aber niemand beachtete

das Kind mit der Schildkröte.

Die beiden mußten auch niemals jemand ausweichen, wurden niemals angestoßen, kein Auto

mußte ihretwegen bremsen. Es war, als wisse die Schildkröte mit völliger Sicherheit vorher,

wo in welchem Augenblick gerade kein Auto fahren, kein Fußgänger gehen würde. So

mußten sie sich niemals eilen und niemals anhalten, um zu warten. Und Momo begann sich zu

wundern, wie man so langsam gehen und doch so schnell vorankommen konnte.

Als Beppo Straßenkehrer endlich beim alten Amphitheater ankam, entdeckte er, noch ehe er

abgestiegen war, im schwachen Schein seiner Fahrradlampe die vielen Reifenspuren rund um

die Ruine. Er ließ sein Rad ins Gras fallen und lief zu dem Loch in der Mauer. »Momo!«

raunte er zuerst und dann noch einmal lauter: »Momo!« Keine Antwort.

Beppo schluckte, seine Kehle war trocken. Er kletterte durch das Loch in den stockdunklen

Raum hinunter, stolperte und verstauchte sich den Fuß. Mit zitternden Fingern entzündete er

ein Streichholz und schaute sich um.Das Tischchen und die beiden Stühle aus Kistenholz

waren umgestoßen, die Decken und die Matratze waren aus dem Bett gerissen. Und Momo

war nicht da.

Beppo biß sich auf die Lippen und unterdrückte ein heiseres Aufschluchzen, das ihm für einen

Augenblick die Brust zerreißen wollte.

»Mein Gott«, murmelte er, »o mein Gott, sie haben sie schon weggeholt. Mein kleines

Mädchen haben sie schon weggeholt. Ich bin zu spät gekommen. Was soll ich denn jetzt

machen? Was mach’ ich denn jetzt nur?« Dann verbrannte ihm das Streichholz die Finger, er

warf es weg und stand im Finstern.

So rasch er konnte, kletterte er wieder ins Freie und humpelte auf seinem verstauchten Fuß zu

seinem Fahrrad. Er schwang sich hinauf und strampelte los.

»Gigi muß ‘ran !« sagte er immer wieder vor sich hin. »letzt muß Gigi ‘ran! Hoffentlich find’

ich den Schuppen, wo er schläft.« Beppo wußte, daß Gigi sich seit kurzem ein paar

zusätzliche Pfennige

verdiente, indem er jeden Sonntag nachts im Werkzeugschuppen einer kleinen

Autoausschlachterei schlief. Dort sollte er aufpassen, daß nicht wieder, wie früher schon öfter,

noch brauchbare Autoteile abhanden kamen.

Als Beppo den Schuppen endlich erreicht hatte und mit der Faust gegen die Tür hämmerte,

hielt Gigi sich zunächst mucksmäuschenstill, für den Fall, daß es sich um die Autoteil-Diebe

handeln sollte. Aber dann erkannte er Beppos Stimme und machte auf.

»Was ist denn los?« jammerte er erschrocken. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mich so

brutal aus dem Schlaf reißt.« »Momo! . . .« stieß Beppo hervor, der nach Atem rang, »Momo

ist irgendwas Schreckliches passiert!«

»Was sagst du ?« fragte Gigi und setzte sich fassungslos auf seine Liegestatt. »Momo? Was

ist denn geschehen?«

»Ich weiß es selbst noch nicht«, keuchte Beppo, »was Schlimmes.« Und nun erzählte er alles,

was er erlebt hatte: vom Hochgericht auf der Müllhalde, von den Reifenspuren um die Ruine,

und daß Momo nicht mehr da war. Es dauerte natürlich eine Weile, bis er alles vorgebracht

hatte, denn trotz aller Angst und Sorge um Momo konnte er nun einmal nicht schneller reden.

»Ich hab’s von Anfang an geahnt«, schloß er seinen Bericht. »Ich hab’ gewußt, daß es nicht

gutgehen würde. Jetzt haben sie sich gerächt. Sie haben Momo entführt ! O Gott, Gigi, wir

müssen ihr helfen ! Aber wie ? Aber wie?«

Während Beppos Worten war langsam alle Farbe aus Gigis Gesicht gewichen. Ihm war, als

sei ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Bis zu diesem Augenblick war

alles für ihn ein großes Spiel gewesen. Er hatte es so ernst genommen, wie er jedes Spiel und

jede Geschichte nahm – ohne dabei je an Folgen zu denken. Zum ersten Mal in seinem Leben

ging eine Geschichte ohne ihn weiter, machte sich selbständig, und alle Phantasie der Welt

konnte sie nicht rückgängig machen! Er fühlte sich wie gelähmt.

»Weißt du, Beppo«, begann er nach einer Weile, »es könnte ja auch sein, daß Momo einfach

ein bißchen spazierengegangen ist. Das tut sie doch manchmal. Einmal ist sie sogar schon drei

Tage und Nächte im Land herumgestrolcht. Ich meine, bis jetzt haben wir vielleicht noch gar

keinen Grund, uns solche Sorgen zu machen.« »Und die Reifenspuren?« fragte Beppo

aufgebracht. »Und die herausgerissene Matratze?«

»Na ja«, gab Gigi ausweichend zur Antwort, »nehmen wir mal an, es wäre wirklich irgendwer

da gewesen. Wer sagt dir denn, daß er Momo gefunden hat? Vielleicht war sie schon vorher

weg. Sonst wäre doch nicht alles durchgesucht und umgewühlt.«

»Wenn sie sie aber doch gefunden haben?« schrie Beppo, »was dann?« Er packte den

jüngeren Freund an den Jackenaufschlägen und schüttelte ihn. »Gigi, sei kein Narr! Die

grauen Herren sind Wirklichkeit! Wir müssen irgendwas tun, und zwar sofort!«

»Beruhige dich doch, Beppo«, stotterte Gigi erschrocken. »Natürlich werden wir etwas

unternehmen. Aber das muß gut überlegt sein. Wir wissen ja noch nicht mal, wo wir Momo

überhaupt suchen sollen.« Beppo ließ Gigi los. »Ich geh’ zur Polizei!« stieß er hervor. »Sei

doch vernünftig!« rief Gigi entsetzt. »Das kannst du doch nicht machen ! Nimm mal an, die

gehen los und finden unsere Momo wirklich. Weißt du, was die dann mit ihr machen? Weißt

du das, Beppo? Weißt du, wo streunende elternlose Kinder hinkommen? In so ein Heim

stecken sie sie, wo Gitter an den Fenstern sind ! Das willst du unserer Momo antun?«

»Nein«, murmelte Beppo und starrte ratlos vor sich hin, »das will ich nicht. Aber wenn sie

doch vielleicht in Not ist?« »Aber stell dir vor, wenn sie’s nicht ist«, fuhr Gigi fort, »wenn sie

vielleicht

wirklich nur ein bißchen herumstrolcht und du hetzt ihr die Polizei auf den Hals. Ich

möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn sie dich dann zum letzten Mal anschaut.«

Beppo sank auf einen Stuhl am Tisch nieder und legte das Gesicht auf die Arme.

»Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll«, stöhnte er, »ich weiß es einfach nicht.«

»Ich finde«, meinte Gigi, »wir sollten auf jeden Fall bis morgen oder übermorgen warten, ehe

wir was unternehmen. Wenn sie dann immer noch nicht zurück ist, können wir ja zur Polizei

gehen. Aber wahrscheinlich ist bis dahin alles längst wieder in Ordnung, und wir lachen alle

drei über den ganzen Unsinn.«

»Meinst du?« murmelte Beppo, den auf einmal eine steinerne Müdigkeit übermannte. Für den

alten Mann war es heute ein bißchen viel gewesen.

»Aber sicher«, antwortete Gigi und zog Beppo den Schuh von dem verstauchten Fuß. Er half

ihm auf das Lager hinüber und packte den Fuß in ein nasses Tuch.

»Wird schon wieder werden«, sagte er sanft, »wird alles wieder werden.«

Als er sah, daß Beppo schon eingeschlafen war, seufzte er und legte sich selbst auf den

Fußboden, seine Jacke als Kissen unter den Kopf geschoben. Aber schlafen konnte er nicht.

Die ganze Nacht mußte er an die grauen Herren denken. Und zum ersten Mal in seinem bisher

so unbekümmerten Leben überfiel ihn Angst.

Aus der Zentrale der Zeit-Spar-Kasse war der Befehl zum Großeinsatz gegeben worden.

Sämtliche Agenten in der großen Stadt hatten Anweisung erhalten, jede andere Tätigkeit zu

unterbrechen und sich ausschließlich mit der Suche nach dem Mädchen Momo zu

beschäftigen.In allen Straßen wimmelte es von den grauen Gestalten ; sie saßen auf den

Dächern und in den Kanalisationsschächten, sie kontrollierten unauffällig die Bahnhöfe und

den Flugplatz, die Autobusse und die Straßenbahnen – kurzum, sie waren überall. Aber das

Mädchen Momo fanden sie nicht.

»Du, Schildkröte«, fragte Momo, »wo führst du mich eigentlich hin?« Die beiden wanderten

eben durch einen dunklen Hinterhof. »KEINE ANGST!« stand auf dem Rücken der Schildkröte.

»Hab’ ich auch nicht«, sagte Momo, nachdem sie es entziffert hatte. Aber sie sagte es mehr zu

sich selbst, um sich Mut zu machen, denn ein wenig bang war ihr schon.

Der Weg, den die Schildkröte sie führte, wurde immer sonderbarer und verschlungener. Sie

waren schon durch Gärten gelaufen, über Brücken, durch Unterführungen, Toreinfahrten und

Hausflure, ja, einigemale sogar schon durch Keller.

Hätte Momo gewußt, daß ein ganzes Heer von grauen Herren sie verfolgte und suchte, sie

hätte vermutlich noch viel mehr Angst gehabt. Aber davon ahnte sie nichts, und deshalb

folgte sie geduldig und Schritt für Schritt der Schildkröte auf ihrem scheinbar so verworrenen

Weg. Und das war gut. So wie die Schildkröte vorher ihren Weg durch den Straßenverkehr

gefunden hatte, schien sie nun auch genau vorauszuwissen, wann und wo die Verfolger

auftauchen wurden. Manchmal kamen die grauen Herren schon einen Augenblick später an

einer Stelle vorüber, an der die beiden eben gewesen waren. Aber sie begegneten

ihnen niemals.

»Ein Glück, daß ich schon so gut lesen kann«, sagte Momo ahnungslos,

»findest du nicht?«

Auf dem Rückenpanzer der Schildkröte blinkte wie ein Warnlicht die

Schrift: »STILL!«

Momo verstand nicht warum, aber sie befolgte die Anweisung. In geringer Entfernung gingen

drei dunkle Gestalten vorüber. Die Häuser des Stadtteils, in dem sie jetzt waren, wurden

immer grauer und schäbiger. Hohe Mietskasernen, an denen der Verputz abbröckelte,

säumten die Straßen voller Löcher, in denen das Wasser stand. Hier war alles dunkel und

menschenleer.

In die Zentrale der Zeit-Spar-Kasse kam die Nachricht, daß das Mädchen Momo gesehen

worden sei. »Gut«, war die Antwort, »habt ihr sie fest?«

»Nein, sie war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben ihre Spur wieder

verloren.« »Wie kann das sein?«

»Das fragen wir uns selbst. Irgendwas stimmt da nicht.« »Wo befand sie sich, als ihr sie

gesehen habt?« »Das ist es ja gerade. Es handelt sich um eine Gegend der Stadt, die uns völlig

unbekannt ist.«

»Eine solche Gegend gibt es nicht«, stellte die Zentrale fest. »Offenbar doch. Es ist-wie soll

man sagen?-als ob diese Gegend ganz am Rande der Zeit liegt. Und das Kind bewegte sich

auf diesen Rand zu.«

»Was?« schrie die Zentrale, »Verfolgung aufnehmen! Ihr müßt sie fassen, um jeden Preis!

Habt ihr verstanden?« »Verstanden!« kam die aschengraue Antwort.

Zuerst dachte Momo, es sei die Morgendämmerung; aber dieses seltsame Licht war so

plötzlich gekommen, genaugenommen in dem Augenblick, als sie in diese Straße eingebogen

waren. Hier war es nicht mehr Nacht, aber es war auch nicht Tag. Und diese Dämmerung

glich weder der des Morgens noch der des Abends. Es war ein Licht, das die Konturen aller

Dinge unnatürlich scharf und klar hervorhob und doch von nirgendwo herzukommen schien –

oder vielmehr von überallher zugleich. Denn die langen schwarzen Schatten, die sogar die

kleinsten Steinchen auf der Straße warfen, liefen in ganz verschiedene Richtungen, als würde

jener Baum dort von links, dieses Haus von rechts und das Denkmal da drüben von vorn

beleuchtet.

Übrigens sah das Denkmal selbst auch recht sonderbar aus. Auf einem großen würfelförmigen

Sockel aus schwarzem Stein stand ein riesengroßes weißes Ei. Das war alles.

Aber auch die Häuser waren anders als alle, die Momo je gesehen hatte. Sie waren von einem

fast blendenden Weiß. Hinter den Fenstern lagen schwarze Schatten, so daß man nicht sehen

konnte, ob dort überhaupt jemand wohnte. Aber irgendwie hatte Momo das Gefühl, daß diese

Häuser gar nicht gebaut waren, um bewohnt zu werden, sondern um einem anderen,

geheimnisvollen Zweck zu dienen. Diese Straßen waren vollkommen leer, nicht nur von

Menschen, sondern auch von Hunden, Vögeln und Autos. Alles schien reglos und wie in Glas

eingeschlossen. Nicht der kleinste Windhauch regte sich. Momo wunderte sich, wie schnell

sie hier vorankamen, obgleich die Schildkröte eher noch langsamer ging als bisher.

Außerhalb dieses seltsamen Stadtteils, dort wo Nacht war, jagten drei elegante Autos mit

leuchtenden Scheinwerfern die zerlöcherte Straße entlang. In jedem saßen mehrere graue

Herren. Einer, der im vordersten Wagen saß, hatte Momo entdeckt, als sie in die Straße mit

den weißen Häusern eingebogen war, wo das seltsame Licht anfing. Als sie jedoch diese Ecke

erreicht hatten, geschah etwas höchst Unbegreifliches. Die Autos kamen plötzlich nicht mehr

vom Fleck. Die Fahrer traten aufs Gas, die Räder jaulten, aber die Autos liefen am Ort, etwa

so, als ob sie auf einem fahrenden Band stünden, das mit gleicher

Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung lief. Und je mehr sie beschleunigten, desto

weniger kamen sie vorwärts. Als die grauen Herren das merkten, sprangen sie fluchend aus

den Wagen und versuchten, Momo, die sie weit in der Ferne gerade noch erkennen konnten,

zu Fuß einzuholen. Sie rannten mit verzerrten Gesichtern, und als sie endlich erschöpft

innehalten mußten, waren sie im ganzen gerade zehn Meter weit vorangekommen. Und das

Mädchen Momo war irgendwo in der Ferne zwischen den schneeweißen Häusern

verschwunden. »Aus!« sagte einer der Herren, »aus und vorbei! Jetzt kriegen wir sie nicht

mehr.«

»Ich begreife nicht«, meinte ein anderer, »warum wir nicht mehr vom Fleck gekommen sind.«

»Ich auch nicht«, antwortete der erste, »die Frage ist nur, ob man uns das als mildernde

Umstände für unser Versagen zugute halten wird.« »Sie meinen, man wird uns vor Gericht

stellen?« »Na, belobigen wird man uns ganz bestimmt nicht.« Alle beteiligten Herren ließen

die Köpfe hängen und setzten sich auf Kühler und Stoßstangen ihrer Autos. Sie hatten es nicht

mehr eilig.

Schon weit, weit fort, irgendwo im Gewirr der leeren, schneeweißen Straßen und Plätze, ging

Momo hinter der Schildkröte her. Und gerade, weil sie so langsam gingen, war es, als glitte

die Straße unter ihnen dahin, als flögen die Gebäude vorüber. Wiederum bog die Schildkröte

um eine Ecke, Momo folgte ihr – und blieb überrascht stehen. Diese Straße bot einen völlig

anderen Anblick als alle vorigen. Es war eigentlich mehr ein enges Gäßchen. Die Häuser, die

sich links und rechts aneinanderdrängten, sahen aus wie lauter zierliche Paläste aus Glas,

voller Türmchen, Erkerchen und Terrassen, die undenkliche Zeiten auf dem Meeresgrund

gestanden hatten und nun plötzlich aufgestiegen waren, von Tang und Algen überhangen und

mit Muscheln und Korallen bewachsen. Und das Ganze spielte sanft in allen Farben

wie Perlmutter.

Dieses Gäßchen lief auf ein einzelnes Haus zu, das seinen Abschluß bildete und quer zu den

übrigen stand. In seiner Mitte befand sich ein großes grünes Tor, das kunstvoll mit Figuren

bedeckt war. Momo blickte zu dem Straßenschild hinauf, das sich gleich über ihr an der Wand

befand. Es war aus weißem Marmor, und auf ihm stand in goldenen Lettern:

NIEMALS-GASSE

Momo hatte mit Schauen und Buchstabieren nur ein paar Augenblicke gesäumt, dennoch war

die Schildkröte nun schon weit voraus, fast am Ende der Gasse vor dem letzten Haus.

»Warte doch auf mich, Schildkröte!« rief Momo, aber sonderbarerweise konnte sie ihre

eigene Stimme nicht hören. Dagegen schien die Schildkröte sie gehört zu haben, denn sie

blieb stehen und schaute sich um. Momo wollte ihr folgen, aber als sie nun in die Niemals-

Gasse hineinging, war es ihr plötzlich, als ob sie unter Wasser gegen einen mächtigen Strom

angehen müsse, oder gegen einen gewaltigen und doch unspürbaren Wind, der sie einfach

zurückblies. Sie stemmte sich schräg gegen den rätselhaften Druck, zog sich an

Mauervorsprüngen weiter und kroch manchmal auf allen vieren. »Ich komm’ nicht dagegen

an!« rief sie schließlich der Schildkröte zu, die sie klein am anderen Ende der Gasse sitzen

sah, »hilf mir doch!« Langsam kam die Schildkröte zurück. Als sie schließlich vor Momo saß,

erschien auf ihrem Panzer der Rat: »RÜCKWÄRTS GEHEN!« Momo versuchte es. Sie drehte sich

um und ging rückwärts. Und plötzlich gelang es ihr, ohne jede Schwierigkeit

weiterzukommen. Aber es war höchst merkwürdig, was dabei mit ihr geschah. Während sie

nämlich so rückwärts ging, dachte sie zugleich auch rückwärts, sie atmete rückwärts, sie

empfand rückwärts, kurz — sie lebte rückwärts!

Schließlich stieß sie gegen etwas Festes. Sie drehte sich um und stand vor dem letzten Haus,

das die Straße quer abschloß. Sie erschrak ein wenig, weil die figurenbedeckte Tür aus

grünem Metall von hier aus nun plötzlich ganz riesenhaft erschien.

»Ob ich sie überhaupt aufkriege?« dachte Momo zweifelnd. Aber im selben Augenblick

öffneten sich schon die beiden mächtigen Torflügel. Momo blieb noch einen Moment lang

stehen, denn sie hatte über der Tür ein weiteres Schild entdeckt. Es wurde von einem weißen

Einhorn getragen, und auf ihm war zu lesen:

DAS NIRGEND-HAUS

Da Momo nicht besonders schnell lesen konnte, waren die beiden Torflügel schon wieder

dabei, sich langsam zu schließen, als sie fertig war. Sie huschte rasch noch hindurch, dann

schlug das gewaltige Tor mit leisem Donner hinter ihr zu.

Sie befand sich jetzt in einem hohen, sehr langen Gang. Links und rechts standen in

regelmäßigen Abständen nackte Männer und Frauen aus Stein, welche die Decke zu tragen

schienen. Von der geheimnisvollen Gegenströmung war hier nichts mehr zu bemerken.

Momo folgte der Schildkröte, die vor ihr herkrabbelte, durch den langen Gang. An dessen

Ende blieb das Tier vor einem sehr kleinen Türchen sitzen, gerade groß genug, daß Momo

gebückt durchkommen

konnte,

»WIR SIND DA« stand auf dem Rückenpanzer der Schildkröte. Momo hockte sich nieder und

sah direkt vor ihrer Nase auf der kleinen Tür ein Schildchen mit der Aufschrift:

MEISTER SECUNDUS MINUTIUS HORA

Momo holte tief Atem und drückte dann entschlossen auf die kleine Klinke. Als das Türchen

sich öffnete, wurde ein vielstimmiges musikalisches Ticken und Schnarren und Klingen und

Schnurren von drinnen hörbar. Das Kind folgte der Schildkröte, und die kleine Tür fiel hinter

ihnen ins Schloß.

ELFTES KAPITEL

Wenn Böse aus dem Schlechten das Beste machen . . .

Im aschengrauen Licht endloser Gänge und Nebengänge huschten die Agenten der Zeit-Spar-

Kasse umher und flüsterten sich aufgeregt das Neueste zu: Sämtliche Herren des Vorstandes

waren zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengetreten !

Das konnte nur bedeuten, daß größte Gefahr vorhanden war, so folgerten die einen.

Das konnte nur heißen, daß ungeahnte neue Möglichkeiten des Zeitgewinns sich ergeben

hatten, schlössen die anderen daraus. Im großen Sitzungssaal tagten die grauen Herren des

Vorstandes. Sie saßen einer neben dem anderen an einem schier endlosen Konferenztisch.

Jeder hatte wie immer seine bleigraue Aktentasche bei sich, und jeder rauchte seine kleine

graue Zigarre. Nur die runden steifen Hüte hatten sie abgelegt, und nun war zu sehen, daß sie

alle spiegelnde Glatzen hatten.

Die Stimmung – soweit man bei diesen Herren überhaupt von so etwas wie Stimmung reden

konnte – war allgemein gedrückt. Der Vorsitzende am Kopfende des langen Tisches erhob

sich. Das Gemurmel erstarb, und zwei endlose Reihen grauer Gesichter wandten sich ihm zu.

»Meine Herren«, begann er, »unsere Lage ist ernst. Ich sehe mich gezwungen, Sie alle

unverzüglich mit den bitteren, aber unabänderlichen Tatsachen bekannt zu machen.

Bei der Jagd nach dem Mädchen Momo haben wir nahezu alle unsere verfügbaren Agenten

eingesetzt. Diese Jagd dauerte im ganzen sechs Stunden, dreizehn Minuten und acht

Sekunden. Alle beteiligten Agenten mußten dabei unvermeidlich ihren eigentlichen

Daseinszweck,nämlich Zeit einzubringen, vernachlässigen. Zu diesem Ausfall kommt jedoch

noch die Zeit, welche während der Suche von unseren Agenten selbst verbraucht worden ist.

Aus diesen beiden Minusposten ergibt sich ein Zeitverlust, der nach ganz exakten

Berechnungen dreimilliardensiebenhundertachtunddreißigmillionenzweihundertneunundfünfzigtausendeinhundertvierzehn

Sekunden beträgt. Meine Herren, das ist mehr als ein ganzes

Menschenleben ! Ich brauche wohl nicht erst zu erklären, was das für uns bedeutet.« Er

machte eine Pause und wies mit großer Gebärde auf eine riesige Stahltür mit vielfachen

Nummern- und Sicherheitsschlössern an der Stirnseite des Saales in der Wand.

»Unsere Zeit-Speicher, meine Herren«, rief er mit erhobener Stimme, »sind nicht

unerschöpflich ! Wenn die Jagd sich wenigstens gelohnt hätte ! Allein, es handelt sich um

völlig nutzlos vertane Zeit ! Das Mädchen Momo ist uns entkommen.

Meine Herren, ein zweites Mal darf so etwas einfach nicht mehr geschehen. Ich werde mich

jeder weiteren Unternehmung von derartig kostspieligen Ausmaßen auf das entschiedenste

widersetzen. Wir müssen sparen, meine Herren, nicht verschleudern! Ich bitte Sie also, alle

weiteren Pläne in diesem Sinne zu fassen. Mehr habe ich nicht zu

sagen. Danke.«

Er setzte sich und stieß dicke Rauchwolken aus. Erregtes Flüstern ging

durch die Reihen.

Nun erhob sich ein zweiter Redner am anderen Ende der langen Tafel,

und alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Meine Herren«, sagte er, »uns allen liegt das Wohlergehen unserer Zeit-Spar-Kasse

gleichermaßen am Herzen. Es scheint mir jedoch völlig unnötig, daß wir uns von der ganzen

Angelegenheit beunruhigen lassen oder gar so etwas wie eine Katastrophe daraus machen.

Nichts ist weniger der Fall. Wir alle wissen, daß unsere Zeit-Speicher schon so

gewaltige Vorräte beherbergen, daß selbst ein Vielfaches des erlittenen Verlustes uns nicht

ernstlich in Gefahr bringen könnte. Was ist für uns schon ein Menschenleben? Wahrhaftig

eine Kleinigkeit! Dennoch stimme ich mit unserem verehrten Vorsitzenden darin überein, daß

sich etwas Derartiges nicht wiederholen sollte. Aber ein Vorfall wie der mit dem Mädchen

Momo ist völlig einmalig. Etwas Ähnliches ist bisher noch nie geschehen, und es ist höchst

unwahrscheinlich, daß es je ein zweites Mal geschehen wird.

Schließlich hat der Herr Vorsitzende mit Recht getadelt, daß uns das Mädchen Momo

entkommen ist. Aber was wollten wir denn mehr, als dieses Kind unschädlich machen? Nun,

das ist doch vollkommen erreicht’! Das Mädchen ist verschwunden, aus dem Bereich der Zeit

geflohen! Wir sind es los. Ich denke, wir können mit diesem Ergebnis zufrieden sein.«

Der Redner setzte sich selbstgefällig lächelnd. Von einigen Seiten war schwacher Beifall zu

hören.

Nun erhob sich ein dritter Redner in der Mitte des langen Tisches. »Ich will mich kurz

fassen«, erklärte er mit verkniffenem Gesicht. »Ich halte die beruhigenden Worte, die wir

eben gehört haben, für unverantwortlich. Dieses Kind ist kein gewöhnliches Kind. Wir alle

wissen, daß es über Fähigkeiten verfügt, die uns und unserer Sache höchst gefährlich werden

können. Daß der ganze Vorfall bisher einmalig ist, beweist keineswegs, daß es sich nicht

wiederholen kann. Wachsamkeit ist geboten ! Wir dürfen uns nicht eher zufriedengeben, als

bis wir dieses Kind wirklich in unserer Gewalt haben. Nur so können wir sicher sein, daß es

uns nie wieder schaden wird. Denn da es den Bereich der Zeit verlassen konnte, kann es auch

jeden Augenblick zurückkehren. Und es wird zurückkehren!«

Er setzte sich. Die anderen Herren des Vorstandes zogen die Köpfe ein und saßen geduckt

da.»Meine Herren«, ergriff nun ein vierter Redner, der dem dritten gegenübersaß, das Wort,

»entschuldigen Sie, aber ich muß es nun doch in aller Deutlichkeit aussprechen: Wir gehen

fortwährend um den heißen Brei herum. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß eine

fremde Macht sich in diese Angelegenheit eingemischt hat. Ich habe alle Möglichkeiten exakt

durchgerechnet. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Menschenkind lebend und aus eigener Kraft

den Bereich der Zeit verlassen kann, beträgt genau 1:42 Millionen. Mit anderen Worten, es ist

praktisch ausgeschlossen.«

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen der Vorstandsmitglieder.

»Alles spricht dafür«, fuhr der Redner fort, nachdem sich das Gemurmel gelegt hatte, »daß

dem Mädchen Momo geholfen worden ist, sich unserem Zugriff zu entziehen. Sie alle wissen,

von wem ich rede. Es handelt sich um jenen sogenannten Meister Hora.« Bei diesem Namen

zuckten die meisten der grauen Herren zusammen, als seien sie geschlagen worden, andere

sprangen auf und begannen heftig gestikulierend durcheinanderzuschreien. »Bitte, meine

Herren!« rief der vierte Redner mit ausgebreiteten Armen, »ich bitte Sie dringend, sich zu

beherrschen. Ich weiß so gut wie Sie alle, daß die Nennung dieses Namens — nun, sagen wir

einmal, nicht ganz schicklich ist. Es kostet mich selbst Überwindung, aber wir wollen und

müssen klar sehen ! Wenn jener – Sogenannte dem Mädchen Momo geholfen hat, dann hat er

seine Gründe dafür. Und diese Gründe, das liegt wohl auf der Hand, sind gegen uns gerichtet.

Kurzum, meine Herren, wir müssen damit rechnen, daß jener- Sogenannte dieses Kind nicht

nur einfach zurückschickt, sondern daß er es obendrein noch gegen uns ausrüsten wird. Dann

wird es eine tödliche Gefahr für uns werden. Wir müssen also nicht nur bereit sein, die Zeit

eines Menschenlebens ein zweites Mal zu opfern oder ein Vielfaches davon

– nein, meine Herren, wir müssen, wenn es sein muß, alles, ich wiederhole, alles

einsetzen! Denn in diesem Fall könnte uns jegliche Sparsamkeit verdammt teuer zu stehen

kommen. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine.«

Die Aufregung unter den grauen Herren nahm zu, alle redeten durcheinander. Ein fünfter

Redner sprang auf seinen Stuhl und fuchtelte wild mit den Händen.

»Ruhe, Ruhe!« schrie er. »Der Herr Vorredner beschränkt sich leider darauf, allerlei

katastrophale Möglichkeiten anzudeuten. Aber offenbar weiß er selbst nicht, was wir dagegen

tun sollen ! Er sagt, wir sollen zu jedem Opfer bereit sein — nun gut! Wir sollen zum

Äußersten entschlossen sein – nun gut ! Wir sollen nicht sparsam mit unseren Vorräten

umgehen – nun gut ! Aber das alles sind doch nur leere Worte ! Er soll uns doch sagen, was

wir wirklich tun können ! Keiner von uns weiß, womit jener Sogenannte das Mädchen Momo

gegen uns ausrüsten wird ! Wir werden einer uns völlig unbekannten Gefahr gegenüberstehen.

Das ist doch das Problem, das es zu lösen gilt!« Der Lärm im Saal steigerte sich zum Tumult.

Alles schrie durcheinander, manche hieben mit den Fäusten auf den Tisch ein, andere hatten

die Hände vors Gesicht geschlagen, Panikstimmung hatte alle ergriffen.

Mühsam verschaffte sich ein sechster Redner Gehör. »Aber meine Herren«, sagte er immer

wieder beschwichtigend, bis endlich Stille eintrat, »aber meine Herren, ich muß Sie doch

bitten, kühle Vernunft zu bewahren. Das ist jetzt das Wichtigste. Nehmen wir ruhig einmal

an, das Mädchen Momo kommt – wie auch immer ausgerüstet — von jenem Sogenannten

zurück, so brauchen wir uns doch überhaupt nicht persönlich zum Kampf stellen. Wir selbst

sind zu einer solchen Begegnung nicht besonders gut geeignet — wie uns ja das betrübliche

Geschick unseres inzwischen aufgelösten AgentenBLW/553/c so eindringlich vor Augen führt.

Aber das ist ja auch gar nicht nötig. Wir haben doch genügend Helfershelfer unter den

Menschen ! Wenn wir diese in unauffälliger und geschickter Weise einsetzen, meine Herren,

dann können wir das Mädchen Momo und die mit ihm verbundene Gefahr aus der Welt

schaffen, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Ein solches Vorgehen wäre sparsam, es wäre

für uns gefahrlos, und es wäre zweifellos wirksam.«

Ein Aufatmen ging durch die Menge der Vorstandsmitglieder. Dieser Vorschlag leuchtete

ihnen allen ein. Wahrscheinlich wäre er sofort angenommen worden, wenn sich nicht am

oberen Ende des Tisches ein siebenter Redner zu Wort gemeldet hätte.

»Meine Herren«, begann er, »wir denken nur immerfort darüber nach, wie wir das Mädchen

Momo loswerden können. Gestehen wir es nur, die Furcht treibt uns dazu. Aber Furcht ist ein

schlechter Ratgeber, meine Herren. Mir scheint nämlich, wir lassen uns da eine große, ja

einmalige Gelegenheit entgehen. Ein Sprichwort sagt: Wen man nicht besiegen kann, den soll

man sich zum Freunde machen. Nun, warum versuchen wir nicht, das Mädchen Momo auf

unsere Seite zu ziehen?« »Hört, hört!« riefen einige Stimmen, »erklären Sie das genauer!«

»Es liegt doch auf der Hand«, fuhr der Redner fort, »daß dieses Kind tatsächlich den Weg zu

dem Sogenannten gefunden hat, den Weg, den wir von Anfang an vergeblich gesucht haben !

Das Kind könnte also vermutlich jederzeit wieder hinfinden, es könnte uns diesen Weg führen

! Dann können wir auf unsere Weise mit dem Sogenannten verhandeln. Ich bin sicher, daß wir

sehr schnell mit ihm fertig werden würden. Und wenn wir erst einmal an seiner Stelle sitzen,

dann brauchen wir hinfort nicht mehr mühsam Stunden, Minuten und Sekunden zu raffen,

nein, wir hätten auf einen Schlag die gesamte Zeit aller Menschen in unserer Gewalt ! Und

wer die Zeit der Menschen besitzt, der hat unbegrenzte Macht! Meine Herren, bedenken Sie,

wir wären am Ziel!

Und dazu könnte uns das Mädchen Momo nützen, das Sie alle beseitigen wollen!«

Totenstille hatte sich im Saal ausgebreitet.

»Aber Sie wissen doch«, rief einer, »daß man das Mädchen Momo nicht anlügen kann !

Denken Sie doch an den Agenten BLW/553/c ! Jeder von uns würde das gleiche Schicksal

erleiden!«

»Wer spricht denn von Lügen?« antwortete der Redner. »Wir werden ihr natürlich unseren

Plan offen mitteilen.«

»Aber dann«, schrie ein anderer gestikulierend, »wird sie niemals mitmachen! Das ist ganz

undenkbar!«

»Dessen würde ich nicht so sicher sein, mein Bester«, mischte sich nun ein neunter Redner in

die Debatte, »wir müßten ihr nur natürlich etwas bieten, das sie verlockt. Ich denke da zum

Beispiel daran, ihr selbst soviel Zeit zu versprechen, wie sie nur haben will. . .« »Ein

Versprechen«, rief der andere dazwischen, »an das wir uns selbstverständlich nicht halten

würden!«

»Selbstverständlich doch!« erwiderte der neunte Redner und lächelte eisig. »Denn wenn wir

es nicht ehrlich mit ihr meinen, dann wird sie es heraushören.«

»Nein, nein !« schrie der Vorsitzende und schlug mit der Hand auf den Tisch, »das kann ich

nicht dulden ! Wenn wir ihr tatsächlich so viel Zeit geben, wie sie will – das würde uns ja ein

Vermögen kosten!« »Wohl kaum«, beschwichtigte der Redner. »Wieviel kann ein einzelnes

Kind schon ausgeben? Gewiß, es wäre ein ständiger kleiner Verlust, aber bedenken Sie doch,

was wir dafür bekommen würden ! Die Zeit aller Menschen! Das Wenige, das Momo davon

verbrauchen könnte, müßten wir eben als Spesen auf das Unkostenkonto buchen. Bedenken

Sie die ungeheuren Vorteile, meine Herren!« Der Redner setzte sich, und alle bedachten die

Vorteile. »Trotzdem«, sagte der sechste Redner schließlich, »es geht nicht.«»Wieso?«

»Aus dem einfachen Grund, weil dieses Mädchen leider sowieso schon soviel Zeit hat, wie es

nur will. Es ist zwecklos, sie mit etwas bestechen zu wollen, das sie im Überfluß besitzt.«

»Dann müssen wir sie ihr eben zuerst wegnehmen«, erwiderte der neunte Redner.

»Ach, mein Bester«, sagte der Vorsitzende müde, »wir drehen uns im Kreis. Wir können doch

nicht an das Kind herankommen. Das ist es ja gerade.«

Ein Seufzer der Enttäuschung ging durch die lange Reihe der Vorstandsmitglieder.

»Ich hätte einen Vorschlag«, meldete sich ein zehnter Redner. »Mit Ihrer Erlaubnis?«

»Sie haben das Wort«, sagte der Vorsitzende.

Der Herr machte eine kleine Verbeugung zum Vorsitzenden und fuhr fort: »Dieses Mädchen

ist angewiesen auf seine Freunde. Sie liebt es, ihre Zeit anderen zu schenken. Aber überlegen

wir einmal, was aus ihr würde, wenn einfach niemand mehr da wäre, um ihre Zeit mit ihr zu

teilen?

Da das Mädchen freiwillig unsere Pläne nicht unterstützen wird, sollten wir uns einfach an

ihre Freunde halten.«

Er zog aus seiner Aktentasche einen Ordner und schlug ihn auf: »Es handelt sich vor allem

um einen gewissen Beppo Straßenkehrer und einen Gigi Fremdenführer. Und dann ist hier

noch eine längere Liste von Kindern, die sie regelmäßig aufsuchen. Sie sehen, meine Herren,

keine große Sache!

Wir werden einfach alle diese Personen so von ihr abziehen, daß sie sie nicht mehr erreichen

kann. Dann wird die arme kleine Momo völlig allein sein. Was wird ihr ihre viele Zeit dann

noch bedeuten? Eine Last, ja, sogar ein Fluch ! Früher oder später wird sie es nicht mehr

ertragen.

Und dann, meine Herren, werden wir zur Stelle sein und unsere Bedingungen stellen. Ich

wette tausend Jahre gegen eine Zehntelsekunde, daß sie uns den bewußten Weg führen wird,

nur um ihre Freunde zurückzubekommen. «

Die grauen Herren, die eben so niedergeschlagen dreingeblickt hatten, hoben ihre Köpfe.

Triumphierendes messerdünnes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie klatschten Beifall und das

Geräusch hallte wider in den endlosen Gängen und Nebengängen, daß es sich anhörte wie

eine Steinlawine.

ZWÖLFTES KAPITEL

Momo kommt hin, wo die Zeit herkommt

Momo stand in dem größten Saal, den sie je gesehen hatte. Er war größer als die riesigste

Kirche und die geräumigste Bahnhofshalle. Gewaltige Säulen trugen eine Decke, die man

hoch droben im Halbdunkel mehr ahnte als sah. Fenster gab es keine. Das goldene Licht, das

diesen unermeßlichen Raum durchwebte, kam von unzähligen Kerzen, die überall aufgesteckt

waren und deren Flammen so reglos brannten, als seien sie mit leuchtenden Farben gemalt

und brauchten kein Wachs zu verzehren, um zu strahlen.

Das tausendfältige Schnurren und Ticken und Klingen und Schnarren, welches Momo bei

ihrem Eintritt vernommen hatte, kam von unzähligen Uhren jeder Gestalt und Größe. Sie

standen und lagen auf langen Tischen, in Glasvitrinen, auf goldenen Wandkonsolen und in

endlosen Regalen.

Da gab es winzige edelsteinverzierte Taschenührchen, gewöhnliche Blechwecker, Sanduhren,

Spieluhren mit tanzenden Püppchen darauf, Sonnenuhren, Uhren aus Holz und Uhren aus

Stein, gläserne Uhren und Uhren, die durch einen plätschernden Wasserstrahl getrieben

wurden. Und an den Wänden hingen alle Sorten von Kuckucksuhren und anderen Uhren mit

Gewichten und schwingenden Perpendikeln, manche, die langsam und gravitätisch gingen

und andere, deren winzige Perpendikelchen emsig hin und her zappelten. In Höhe des ersten

Stockwerks lief ein Rundgang um den ganzen Saal, zu dem eine Wendeltreppe emporführte.

Noch höher droben war ein zweiter Rundgang, darüber noch einer und noch einer. Und

überall hingen, lagen und standen Uhren. Da gab es auch Weltzeituhren in Kugelform, welche

die Zeit für jeden Punkt der Erde anzeigten, und kleine und große Planetarien mit Sonne,

Mond und Sternen. In der Mitte des Saales erhob sich ein ganzer Wald von Standuhren, ein

Uhr-Wald sozusagen, angefangen von gewöhnlichen Zimmerstanduhren bis hinauf zu

richtigen Turmuhren.

Ununterbrochen schlug oder klingelte irgendwo ein Spielwerk, denn von allen diesen Uhren

zeigte jede eine andere Zeit an. Aber es war kein unangenehmer Lärm, der dadurch entstand,

sondern es war ein gleichmäßiges, summendes Rauschen wie in einem Sommerwald.

Momo ging umher und betrachtete mit großen Augen all die Seltsamkeiten . Sie stand, gerade

vor einer reichverzierten Spieluhr, auf der zwei winzige Figuren, ein Frauchen und ein

Männchen, einander zum Tanz die Hand reichten. Eben wollte sie ihnen mit dem Finger einen

kleinen Stups geben, um zu sehen, ob sie sich dadurch bewegen würden, als sie plötzlich eine

freundliche Stimme sagen hörte: »Ah, da bist du ja wieder, Kassiopeia! Hast du mir denn die

kleine Momo nicht mitgebracht?«

Das Kind drehte sich um und sah in einer Gasse zwischen den Standuhren einen zierlichen

alten Herrn mit silberweißem Haar, der sich niederbückte und die Schildkröte anblickte, die

vor ihm auf dem Boden saß. Er trug eine lange goldbestickte Jacke, blauseidene Kniehosen,

weiße Strümpfe und Schuhe mit großen Goldschnallen darauf. An den Handgelenken und am

Hals kamen Spitzen aus der Jacke hervor, und sein silberweißes Haar war am Hinterkopf zu

einem kleinen Zopf geflochten. Momo hatte eine solche Tracht noch nie gesehen, aber

jemand, der weniger unwissend gewesen wäre als sie, hätte sofort erkannt, daß es eine Mode

war, die man vor zweihundert Jahren getragen hatte.

»Was sagst du ?« fuhr jetzt der alte Herr – noch immer zur Schildkröte gebeugt – fort, »sie ist

schon da? Wo ist sie denn?«Er zog eine kleine Brille hervor, ähnlich der, die der alte Beppo

hatte, nur war diese aus Gold, und blickte sich suchend um. »Hier bin ich!« rief Momo.

Der alte Herr kam mit erfreutem Lächeln und ausgestreckten Händen auf sie zu. Und während

er das tat, schien es Momo, als ob er mit jedem Schritt, den er näherkam, immer jünger und

jünger wurde. Als er schließlich vor ihr stand, ihre beiden Hände ergriff und herzlich

schüttelte, sah er kaum älter aus als Momo selbst.

»Willkommen!« rief er vergnügt, »herzlich willkommen im Nirgend-Haus. Gestatte, kleine

Momo, daß ich mich dir vorstelle. Ich bin Meister Hora — Secundus Minutius Hora.« »Hast

du mich wirklich erwartet?« fragte Momo erstaunt. »Aber gewiß doch ! Ich habe dir doch

eigens meine Schildkröte Kassiopeia geschickt, um dich abzuholen.«

Er zog eine flache, diamantenbesetzte Taschenuhr aus der Weste und ließ deren Deckel

aufspringen.

»Du bist sogar ungewöhnlich pünktlich gekommen«, stellte er lächelnd fest und hielt ihr die

Uhr hin.

Momo sah, daß auf dem Zifferblatt weder Zeiger noch Zahlen waren, sondern nur zwei feine,

feine Spiralen, die in entgegengesetzter Richtung übereinanderlagen und sich langsam

drehten. An den Stellen, wo die Linien sich überschnitten, leuchteten manchmal winzige

Pünktchen auf.

»Dies«, sagte Meister Hora, »ist eine Sternstunden-Uhr. Sie zeigt zuverlässig die seltenen

Sternstunden an und jetzt eben hat eine solche angefangen.«

»Was ist denn eine Sternstunde?« fragte Momo. »Nun, es gibt manchmal im Lauf der Welt

besondere Augenblicke«, erklärte Meister Hora, »wo es sich ergibt, daß alle Dinge und

Wesen, bis zu den fernsten Sternen hinauf, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, so

daß etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre. Leider verstehen

die Menschen sich im allgemeinen nicht darauf, sie zu nützen, und so gehen die Sternstunden

oft unbemerkt vorüber. Aber wenn es jemand gibt, der sie erkennt, dann geschehen große

Dinge auf der Welt.«

»Vielleicht«, meinte Momo, »braucht man dazu eben so eine Uhr.« Meister Hora schüttelte

lächelnd den Kopf. »Die Uhr allein würde niemand nützen. Man muß sie auch lesen können.«

Er klappte die Uhr wieder zu und steckte sie in die Westentasche. Als er Momos erstaunten

Blick sah, mit dem sie seine Erscheinung musterte, schaute er nachdenklich an sich hinunter,

runzelte die Stirn und sagte: »Oh,aber ich habe mich, glaube ich, ein wenig verspätet-in der

Mode, meine ich. Wie unaufmerksam von mir ! Ich werde das sofort korrigieren.«

Er schnippte mit den Fingern und stand im Nu in einem Bratenrock mit hohem Stehkragen

vor ihr.

»Ist es so besser?« fragte er zweifelnd. Aber als er Momos nun erst recht verwundertes

Gesicht sah, fuhr er gleich fort: »Aber natürlich nicht! Wo habe ich nur meine Gedanken!«

Und er schnippte abermals, und nun trug er plötzlich eine Kleidung, wie weder Momo noch

sonst irgend jemand sie je gesehen hat ; denn es war die Mode, die erst in hundert Jahren

getragen werden wird. »Auch nicht?« erkundigte er sich bei Momo. »Nun, beim Orion, das

muß doch herauszukriegen sein! Warte, ich versuch’s nochmal.« Er schnippte zum dritten Mal

mit den Fingern, und nun endlich stand er in einem gewöhnlichen Straßenanzug, wie man ihn

heutzutage trägt, vor dem Kind.

»So ist es richtig, nicht wahr?« sagte er und zwinkerte Momo zu. »Ich hoffe nur, ich habe

dich nicht erschreckt, Momo. Es war nur ein kleiner Spaß von mir. Aber nun darf ich dich

vielleicht erst einmal zu Tisch bit-ten, liebes Mädchen. Das Frühstück ist bereit. Du hast einen

langen Weg hinter dir, und ich hoffe, es wird dir schmecken.« Er nahm sie bei der Hand und

führte sie mitten in den Uhr-Wald hinein. Die Schildkröte folgte ihnen und blieb etwas

zurück. Der Pfad verlief wie in einem Irrgarten kreuz und quer und mündete schließlich in

einem kleinen Raum, der durch die Rückwände einiger riesiger Uhrenkästen gebildet wurde.

In einer Ecke stand ein Tischchen mit geschwungenen Beinen und ein zierliches Sofa, nebst

dazu passenden Polsterstühlen. Auch hier war alles von dem goldenen Licht der reglosen

Kerzenflammen erleuchtet.

Auf dem Tischchen stand eine dickbauchige goldene Kanne, zwei kleine Tassen, dazu Teller,

Löffelchen und Messer, alles aus blankem Gold. In einem Körbchen lagen goldbraune,

knusprige Semmeln, in einem Schüsselchen befand sich goldgelbe Butter und in einem

anderen Honig, der schlechthin wie flüssiges Gold aussah. Meister Hora schenkte aus der

dickbauchigen Kanne in beide Tassen Schokolade und sagte mit einladender Gebärde: »Bitte,

mein kleiner Gast, greif tüchtig zu!«

Das ließ sich Momo nicht zweimal sagen. Daß es Schokolade gab, die man trinken konnte,

hatte sie bisher noch nicht einmal gewußt. Auch Semmeln, mit Butter und Honig bestrichen,

gehörten zu den größten Seltenheiten in ihrem Leben. Und so köstlich, wie diese hier, hatte

ihr überhaupt noch nie etwas geschmeckt.

So war sie zunächst einmal ganz und gar von diesem Frühstück in Anspruch genommen und

schmauste mit vollen Backen, ohne an irgend etwas anderes zu denken. Merkwürdigerweise

wich durch dieses Essen auch alle Müdigkeit von ihr, sie fühlte sich frisch und munter,

obgleich sie doch die ganze Nacht keinen Augenblick geschlafen hatte. Je länger sie aß, desto

besser schmeckte es ihr. Es war ihr, als könne sie tagelang so weiteressen.

Meister Hora schaute ihr dabei freundlich zu und war taktvoll genug, sie zunächst nicht durch

Gespräche zu stören. Er verstand, daß es der Hunger vieler Jahre war, den sein Gast stillen

mußte. Und vielleicht war das der Grund, weshalb er beim Zusehen nach und nach wieder

älter aussah, bis er wieder ein Mann mit weißen Haaren war. Als er merkte, daß Momo mit

dem Messer nicht gut zu Rande kam, strich er die Brötchen und legte sie ihr auf den Teller. Er

selbst aß nur wenig, sozusagen nur zur Gesellschaft.

Aber schließlich war Momo doch satt. Während sie ihre Schokolade austrank, blickte sie über

den Rand ihrer goldenen Tasse hinweg prüfend ihren Gastgeberin und begann zu überlegen,

wer und was er wohl sein mochte. Daß er niemand Gewöhnlicher war, hatte sie natürlich

gemerkt, aber bis jetzt wußte sie eigentlich noch nicht mehr von ihm als seinen Namen.

»Warum«, fragte sie und setzte die Tasse ab, »hast du mich denn von der Schildkröte holen

lassen?«

»Um dich vor den grauen Herren zu schützen«, antwortete Meister Hora ernst. »Sie suchen

dich überall und du bist nur hier bei mir vor ihnen sicher.«

»Wollen sie mir denn was tun?« erkundigte sich Momo erschrocken. »Ja, Kind«, seufzte

Meister Hora, »das kann man wohl sagen.« »Warum?« fragte Momo.

»Sie fürchten dich«, erklärte Meister Hora, »denn du hast ihnen das Schlimmste angetan, was

es für sie gibt.« »Ich hab’ ihnen nichts getan«, sagte Momo.

»Doch. Du hast einen von ihnen dazu gebracht, sich zu verraten. Und du hast es deinen

Freunden erzählt. Ihr wolltet sogar allen Leuten die Wahrheit über die grauen Herren

mitteilen. Glaubst du, daß das nicht ausreicht, um sie dir zu Todfeinden zu machen?« »Aber

wir sind doch mitten durch die Stadt gegangen, die Schildkröteun

  1. ich«, meinte Momo. »Wenn sie mich überall suchen, dann hätten sie mich doch ganz leicht

kriegen können. Und wir sind auch ganz langsam gegangen.«

Meister Hora nahm die Schildkröte, die inzwischen wieder zu seinen Füßen saß, auf den

Schoß und kraulte sie am Hals. »Was meinst du, Kassiopeia?« fragte er lächelnd. »Hätten sie

euch kriegen können?«

Auf dem Rückenpanzer erschienen die Buchstaben »NIE!«, und sie flimmerten so lustig, daß

man förmlich glaubte, ein Gekicher zu hören. »Kassiopeia«, erklärte Meister Hora, »kann

nämlich ein wenig in die Zukunft sehen. Nicht viel, aber immerhin so etwa eine halbe

Stunde.« »GENAU!« erschien auf dem Rückenpanzer.

»Verzeihung«, verbesserte sich Meister Hora, »genau eine halbe Stunde. Sie weiß mit

Sicherheit vorher, was jeweils in der nächsten halben Stunde sein wird. Deshalb weiß sie

natürlich auch, ob sie beispielsweise den grauen Herren begegnen wird oder nicht.« »Ach«,

sagte Momo verwundert, »das ist aber praktisch! Und wenn sie vorher weiß, da und da würde

sie den grauen Herren begegnen, dann geht sie einfach einen anderen Weg?«

»Nein«, antwortete Meister Hora, »ganz so einfach ist die Sache leider nicht. An dem, was sie

vorher weiß, kann sie nichts ändern, denn sie weiß ja nur das, was wirklich geschehen wird.

Wenn sie also wüßte, da und da begegnet sie den grauen Herren, dann würde sie ihnen eben

auch begegnen. Dagegen könnte sie nichts machen.« »Das versteh’ ich nicht«, meinte Momo

etwas enttäuscht, »dann nützt es doch gar nichts, etwas vorher zu wissen.«

»Manchmal doch«, erwiderte Meister Hora, »in deinem Fall zum Beispiel wußte sie, daß sie

den und den Weg gehen und dabei den grauen Herren nicht begegnen würde. Das ist doch

schon etwas wert, findest du nicht?«

Momo schwieg. Ihre Gedanken verwickelten sich wie ein aufgegangenes Fadenknäuel.

»Um aber wieder auf dich und deine Freunde zu kommen«, fuhr Meister Hora fort, »muß ich

dir mein Kompliment machen. Eure Plakate und Inschriften haben mich außerordentlich

beeindruckt.« »Hast du sie denn gelesen?« fragte Momo erfreut. »Alle«, antwortete Meister

Hora, »und Wort für Wort!« »Leider«, meinte Momo, »hat sie sonst niemand gelesen,

scheint’s.« Meister Hora nickte bedauernd. »Ja, leider. Dafür haben die grauen Herren

gesorgt.«

»Kennst du sie gut?«”forschte Momo.

Wieder nickte Meister Hora und seufzte: »Ich kenne sie, und sie kennen mich.«

Momo wußte nicht recht, was sie von dieser merkwürdigen Antwort halten sollte.

»Warst du schon oft bei ihnen?«

»Nein, noch nie. Ich verlasse das Nirgend-Haus niemals.« »Aber die grauen Herren, ich

meine – besuchen sie dich manchmal?« Meister Hora lächelte. »Keine Sorge, kleine Momo.

Hier herein können sie nicht kommen. Selbst wenn sie den Weg bis zur Niemals-Gasse

wüßten. Aber sie wissen ihn nicht.«

Momo dachte eine Weile nach. Die Erklärung Meister Horas beruhigte sie zwar, aber sie

wollte gern etwas mehr über ihn erfahren. »Woher weißt du das eigentlich alles«, begann sie

wieder, »das mit unseren Plakaten und den grauen Herren?«

»Ich beobachte sie ständig und alles was mit ihnen zusammenhängt«, erklärte Meister Hora.

»So habe ich eben auch dich und deine Freunde beobachtet.«

»Aber du gehst doch nie aus dem Haus?« »Das ist auch nicht notwendig«, sagte Meister Hora

und wurde dabei wieder zusehends jünger, »ich habe doch meine Allsicht-Brille.« Er nahm

seine kleine goldene Brille ab und reichte sie Momo. »Willst du einmal durchgucken?«

Momo setzte sie auf, blinzelte, schielte und sagte: »Ich kann überhaupt nichts erkennen.«

Denn sie sah nur einen Wirbel von lauter verschwommenen Farben, Lichtern und Schatten. Es

wurde ihr geradezu schwindelig davon.

»Ja«, hörte sie Meister Horas Stimme, »das geht einem am Anfang so. Es ist nicht ganz

einfach, mit der Allsicht-Brille zu sehen. Aber du wirst dich gleich dran gewöhnen.«

Er stand auf, trat hinter Momos Stuhl und legte beide Hände sacht an die Bügel der Brille auf

Momos Nase. Sofort wurde das Bild klar. Momo sah zuerst die Gruppe der grauen Herren mit

den drei Autos am Rand jenes Stadtteils mit dem seltsamen Licht. Sie waren gerade dabei,

ihre Wagen zurückzuschieben.

Dann blickte sie weiter hinaus und sah andere Gruppen in den Straßen der Stadt, die aufgeregt

gestikulierend miteinander redeten und sich eine Botschaft zuzurufen schienen.

»Sie reden von dir«, erklärte Meister Hora, »sie können nicht begreifen, daß du ihnen

entkommen bist.«

»Warum sehen sie eigentlich so grau im Gesicht aus?« wollte Momo wissen, während sie

weiterguckte.

»Weil sie von etwas Totem ihr Dasein fristen«, antwortete Meister Hora. »Du weißt ja, daß

sie von der Lebenszeit der Menschen existieren. Aber diese Zeit stirbt buchstäblich, wenn sie

von ihrem wahren Eigentümer losgerissen wird. Denn jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur

so lang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.« »Dann sind die grauen Herren also gar

keine Menschen?« »Nein, sie haben nur Menschengestalt angenommen.« »Aber was sind sie

dann?«

»In Wirklichkeit sind sie nichts.« »Und wo kommen sie her?«

»Sie entstehen, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit geben, zu entstehen. Das genügt

schon, damit es geschieht. Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit, sie

zu beherrschen. Und auch das genügt, damit es geschehen kann.« »Und wenn sie keine Zeit

mehr stehlen könnten?« »Dann müßten sie ins Nichts zurück, aus dem sie gekommen sind.«

Meister Hora nahm Momo die Brille ab und steckte sie ein. »Aber leider«, fuhr er nach einer

Weile fort, »haben sie schon viele Helfershelfer unter den Menschen. Das ist das Schlimme.«

»Ich«, sagte Momo entschlossen, »laß’ mir meine Zeit von niemand wegnehmen!«

»Ich will es hoffen«, antwortete Meister Hora. »Komm, Momo, ich will dir meine Sammlung

zeigen.« Jetzt sah er plötzlich wieder wie ein alter Mann aus. Er nahm Momo bei der Hand

und führte sie in den großen Saal hinaus. Dort zeigte er ihr diese und jene Uhr, ließ

Spielwerke laufen, führte ihr Weltzeituhren und Planetarien vor und wurde angesichts der

Freude, die sein kleiner Gast an all den wunderlichen Dingen hatte, allmählich wieder jünger.

»Löst du eigentlich gern Rätsel?« fragte er beiläufig, während sie weitergingen.

»O ja, sehr gern!« antwortete Momo. »Weißt du eines?« »Ja«, sagte Meister Hora und blickte

Momo lächelnd an, »aber es ist sehr schwer. Die Wenigsten können es lösen.« »Das ist gut«,

meinte Momo, »dann werde ich es mir merken und später meinen Freunden aufgeben.«

»Ich bin gespannt«, erwiderte Meister Hora, »ob du es herauskriegen wirst. Hör’ gut zu:

Drei Brüder wohnen in einem Haus,

die sehen wahrhaftig verschieden aus,

doch willst du sie unterscheiden,

gleicht jeder den anderen beiden.

Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus.

Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus.

Nur der dritte ist da, der Kleinste der drei,

denn ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei.

Und doch gibt’s den dritten, um den es sich handelt,

nur weil sich der erst’ in den zweiten verwandelt.

Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder

immer einen der anderen Brüder!

Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer?

Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar – keiner?

Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen,

so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen.

Sie regieren gemeinsam ein großes Reich –

und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich.«

Meister Hora schaute Momo an und nickte aufmunternd. Sie hatte gespannt zugehört. Da sie

ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, wiederholte sie nun das Rätsel langsam und Wort für

Wort. »Hui!« seufzte sie dann, »das ist aber wirklich schwer. Ich hab’ keine Ahnung, was es

sein könnte. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.«

»Versuch’s nur«, sagte Meister Hora.

Momo murmelte noch einmal das ganze Rätsel vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich kann’s nicht«, gab sie zu.

Inzwischen war die Schildkröte nachgekommen. Sie saß neben Meister Hora und guckte

Momo aufmerksam an.

»Nun, Kassiopeia«, sagte Meister Hora, »du weißt doch alles eine halbe Stunde voraus. Wird

Momo das Rätsel lösen?« »SIE WIRD!« erschien auf Kassiopeias Rückenpanzer. »Siehst du !«

meinte Meister Hora, zu Momo gewandt, »du wirst es lösen. Kassiopeia irrt sich nie.«

Momo zog ihre Stirn kraus und begann wieder angestrengt nachzudenken. Was für drei

Brüder gab es überhaupt, die zusammen in einem Haus wohnten? Daß es sich dabei nicht um

Menschen handelte, war klar. In Rätseln waren Brüder immer Apfelkerne oder Zähne oder so

was, jedenfalls Sachen von der gleichen Art. Aber hier waren es drei Brüder, die sich

irgendwie ineinander verwandelten. Was gab es denn, was sich ineinander verwandelt? Momo

schaute sich um. Da standen zum Beispiel die Kerzen mit den reglosen Flammen. Da

verwandelte sich das Wachs durch die Flamme in Licht. Ja, das waren drei Brüder. Aber es

ging doch nicht, denn sie waren ja alle drei da. Und zwei davon sollten ja nicht da sein. Also

war es vielleicht so etwas wie Blüte, Frucht und Samenkorn. Ja, tatsächlich, da stimmte schon

vieles. Das Samenkorn war das kleinste von den dreien. Und wenn es da war, waren die

beiden anderen nicht da. Und ohne es gab’s nicht die anderen zwei. Aber es ging doch nicht !

Denn ein Samenkorn konnte man doch sehr gut anschauen. Und es hieß doch, daß man immer

einen der anderen Brüder sieht, wenn man den kleinsten der drei anschauen will. Momos

Gedanken irrten umher. Sie konnte und konnte einfach keine Spur finden, die sie

weitergeführt hätte. Aber Kassiopeia hatte ja gesagt, sie würde die Lösung finden. Sie begann

also noch einmal von vorn und murmelte die Worte des Rätsels langsam vor sich hin. Als sie

zu der Stelle kam: »Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus . . .«, sah sie, daß die

Schildkröte ihr zuzwinkerte. Auf ihrem Rücken erschienen die Worte: »DAS, WAS ICH WEISS!«

und erloschen gleich wieder.»Still, Kassiopeia !« sagte Meister Hora schmunzelnd, ohne daß

er hingeguckt hatte, »nicht einsagen! Momo kann es ganz allein.« Momo hatte die Worte auf

dem Panzer der Schildkröte natürlich gesehen und begann nun nachzudenken, was gemeint

sein könnte. Was war es denn, was Kassiopeia wußte? Sie wußte, daß Momo das Rätsel lösen

würde. Aber das ergab keinen Sinn.

Was wußte sie also noch? Sie wußte immer alles, was geschehen würde. Sie wußte . . .

»Die Zukunft!« rief Momo laut. »Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus – das ist die

Zukunft!« Meister Hora nickte.

»Und der zweite«, fuhr Momo fort, »ist nicht da, er ging schon hinaus -das ist dann die

Vergangenheit!« Wieder nickte Meister Hora und lächelte erfreut. »Aber jetzt«, meinte Momo

nachdenklich, »jetzt wird es schwierig. ,Was ist denn der dritte? Er ist der kleinste der drei,

aber ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei, heißt es. Und er ist der einzige, der da ist.« Sie

überlegte und rief plötzlich: »Das ist jetzt ! Dieser Augenblick ! Die Vergangenheit sind ja die

gewesenen Augenblicke und die Zukunft sind die, die kommen ! Also gäb’s beide nicht, wenn

es die Gegenwart nicht gäbe. Das ist ja richtig!«

Momos Backen begannen vor Eifer zu glühen. Sie fuhr fort: »Aber was bedeutet das, was

jetzt kommt?

Und doch gibt’s den Dritten, um den es sich handelt, nur weil sich der erst’ in den zweiten

verwandelt. . . Das heißt also, daß es die Gegenwart nur gibt, weil sich die Zukunft in

Vergangenheit verwandelt!«

Sie schaute Meister Hora überrascht an. »Das stimmt ja ! Daran hab’ ich noch nie gedacht.

Aber dann gibt’s ja den Augenblick eigentlich gar nicht, sondern bloß Vergangenheit und

Zukunft? Denn jetzt zum Beispiel,

dieser Augenblick — wenn ich darüber rede, ist er ja schon wieder Vergangenheit! Ach,

jetzt versteh’ ich, was das heißt: »Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder immer

einen der anderen Brüder !< Und jetzt versteh’ ich auch das übrige, weil man meinen kann,

daß es überhaupt nur einen von den drei Brüdern gibt: nämlich die Gegenwart, oder nur

Vergangenheit und Zukunft. Oder eben gar keinen, weil es ja jeden bloß gibt, wenn es die

anderen auch gibt ! Da dreht sich einem ja alles im Kopf!«

»Aber das Rätsel ist noch nicht zu Ende«, sagte Meister Hora. »Was ist denn das große Reich,

das die drei gemeinsam regieren und das sie zugleich selber sind?«

Momo schaute ihn ratlos an. Was konnte das wohl sein? Was war denn Vergangenheit,

Gegenwart und Zukunft, alles zusammen? Sie schaute in dem riesigen Saal umher. Ihr Blick

wanderte über die tausend und abertausend Uhren, und plötzlich blitzte es in ihren Augen.

»Die Zeit!« rief sie und klatschte in die Hände, »ja, das ist die Zeit! Die Zeit ist es!« Und sie

hüpfte vor Vergnügen ein paar Mal. »Und nun sag mir auch noch, was das Haus ist, in dem

die drei Brüder wohnen!« forderte Meister Hora sie auf. »Das ist die Welt«, antwortete

Momo.

»Bravo!« rief nun Meister Hora und klatschte ebenfalls in die Hände. »Meinen Respekt,

Momo ! Du verstehst dich aufs Rätsellösen ! Das hat mir wirklich Freude gemacht!«

»Mir auch !« antwortete Momo und wunderte sich im stillen ein wenig, warum Meister Hora

sich so darüber freute, daß sie das Rätsel gelöst hatte.

Sie gingen weiter durch den Uhrensaal und Meister Hora zeigte ihr noch andere, seltene

Dinge, aber Momo war noch immer in Gedanken bei dem Rätsel.»Sag mal«, fragte sie

schließlich, »was ist denn die Zeit eigentlich?« »Das hast du doch gerade selbst

herausgefunden«, antwortete Meister Hora.

»Nein, ich meine«, erklärte Momo, »die Zeit selbst – sie muß doch irgend etwas sein. Es gibt

sie doch. Was ist sie denn wirklich?« »Es wäre schön«, sagte Meister Hora, »wenn du auch

das selbst beantworten könntest.« Momo überlegte lange.

»Sie ist da«, murmelte sie gedankenverloren, »das ist jedenfalls sicher. Aber anfassen kann

man sie nicht. Und festhalten auch nicht. Vielleicht ist sie so was wie ein Duft? Aber sie ist

auch etwas, das immerzu vorbeigeht. Also muß sie auch irgendwo herkommen. Vielleicht ist

sie so was wie der Wind? Oder nein ! Jetzt weiß ich’s ! Vielleicht ist sie eine Art Musik, die

man bloß nicht hört, weil sie immer da ist. Obwohl, ich glaub’, ich hab’ sie schon manchmal

gehört, ganz leise.« »Ich weiß«, nickte Meister Hora, »deswegen konnte ich dich ja zu mir

rufen.«

»Aber es muß noch was anderes dabei sein«, meinte Momo, die dem

Gedanken noch weiter nachhing, »die Musik ist nämlich von weither

gekommen, aber geklungen hat sie ganz tief in mir drin. Vielleicht ist

es mit der Zeit auch so.«

Sie schwieg verwirrt und fügte dann hilflos hinzu: »Ich meine, so wie

die Wellen auf dem Wasser durch den Wind entstehen. Ach, das ist

wahrscheinlich alles Unsinn, was ich rede!«

»Ich finde«, sagte Meister Hora, »das hast du sehr schön gesagt. Und

deshalb will ich dir nun ein Geheimnis anvertrauen: Hier aus dem Nirgend-

Haus in der Niemals-Gasse kommt die Zeit aller Menschen.«

Momo blickte ihn ehrfürchtig an.

»Oh«, sagte sie leise, »machst du sie selbst?«

Meister Hora lächelte wieder. »Nein, mein Kind, ich bin nur der Verwalter.

Meine Pflicht ist es, jedem Menschen die Zeit zuzuteilen, die ihm bestimmt ist.«

»Könntest du es dann nicht ganz einfach so einrichten«, fragte Momo, »daß die Zeit-Diebe

den Menschen keine Zeit mehr stehlen können?« »Nein, das kann ich nicht«, antwortete

Meister Hora, »denn was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst

bestimmen. Sie müssen sie auch selbst verteidigen. Ich kann sie ihnen nur zuteilen.«

Momo blickte sich im Saal um, dann fragte sie: »Hast du dazu die vielen Uhren? Für jeden

Menschen eine, ja?«

»Nein, Momo«, erwiderte Meister Hora, »diese Uhren sind nur eine Liebhaberei von mir. Sie

sind nur höchst unvollkommene Nachbildungen von etwas, das jeder Mensch in seiner Brust

hat. Denn so wie ihr Augen habt, um das Licht zu sehen, und Ohren, um Klänge zu hören, so

habt ihr ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen

wahrgenommen wird, ist so verloren, wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder

das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die

nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.«

»Und wenn mein Herz einmal aufhört, zu schlagen?« fragte Momo. »Dann«, erwiderte

Meister Hora, »hört auch die Zeit für dich auf, mein Kind. Man könnte auch sagen, du selbst

bist es, die durch die Zeit zurückgeht, durch alle deine Tage und Nächte, Monate und Jahre.

Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu dem großen runden Silbertor kommst, durch

das du einst hereinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.«

»Und was ist auf der anderen Seite?«

»Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast.

Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin.«Er blickte Momo prüfend an. »Aber

das kannst du wohl noch nicht verstehen?«

»Doch«, sagte Momo leise, »ich glaube schon.« Sie erinnerte sich an ihren Weg durch die

Niemals-Gasse, in der sie alles rückwärts erlebt hatte und sie fragte: »Bist du der Tod?«

Meister Hora lächelte und schwieg eine Weile, ehe er antwortete: »Wenn die Menschen

wüßten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine

Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen.« »Dann

braucht man es ihnen doch bloß zu sagen«, schlug Momo vor. »Meinst du ?« fragte Meister

Hora. »Ich sage es ihnen mit jeder Stunde, die ich ihnen zuteile. Aber ich fürchte, sie wollen

es gar nicht hören. Sie wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen. Das ist auch ein

Rätsel.«

»Ich hab’ keine Angst«, sagte Momo.

Meister Hora nickte langsam. Er blickte Momo lange an, dann fragte er: »Möchtest du sehen,

wo die Zeit herkommt?« »Ja«, flüsterte sie.

»Ich werde dich hinführen«, sagte Meister Hora. »Aber an jenem Ort muß man schweigen.

Man darf nichts fragen und nichts sagen. Versprichst du mir das?« Momo nickte stumm.

Da beugte Meister Hora sich zu ihr herunter, hob sie hoch und nahm sie fest in seine Arme. Er

schien ihr auf einmal sehr groß und unaussprechlich alt, aber nicht wie ein alter Mann,

sondern wie ein uralter Baum oder wie ein Felsenberg. Dann deckte er ihr mit der Hand die

Augen zu und es fühlte sich an wie leichter, kühler Schnee, der auf ihr Gesicht fiel.

Momo war es, als ob Meister Hora mit ihr durch einen langen dunklen Gang schritte. Aber sie

fühlte sich ganz geborgen und hatte keine

Angst. Anfangs meinte sie, das Pochen ihres eigenen Herzens zu hören, aber dann schien es

ihr mehr und mehr, als sei es in Wirklichkeit der Widerhall von Meister Horas Schritten.

Es war ein langer Weg, aber schließlich setzte er Momo ab. Sein Gesicht war nahe vor dem

ihren, er blickte sie groß an und hatte den Finger an die Lippen gelegt. Dann richtete er sich

auf und trat zurück. Goldene Dämmerung umgab sie.

Nach und nach erkannte Momo, daß sie unter einer gewaltigen, vollkommen runden Kuppel

stand, die ihr so groß schien wie das ganze Himmelsgewölbe. Und diese riesige Kuppel war

aus reinstem Gold. Hoch oben in der Mitte war eine kreisrunde Öffnung, durch die eine Säule

von Licht senkrecht herniederfiel auf einen ebenso kreisrunden Teich, dessen schwarzes

Wasser glatt und reglos lag wie ein dunkler Spiegel.

Dicht über dem Wasser funkelte etwas in der Lichtsäule wie ein heller Stern. Es bewegte sich

mit majestätischer Langsamkeit dahin, und Momo erkannte ein ungeheures Pendel, welches

über dem schwarzen Spiegel hin- und zurückschwang. Aber es war nirgends aufgehängt. Es

schwebte und schien ohne Schwere zu sein.

Als das Sternenpendel sich nun langsam immer mehr dem Rande des Teiches näherte, tauchte

dort aus dem dunklen Wasser eine große Blütenknospe auf. Je näher das Pendel kam, desto

weiter öffnete sie sich, bis sie schließlich voll erblüht auf dem Wasserspiegel lag. Es war eine

Blüte von solcher Herrlichkeit, wie Momo noch nie zuvor eine gesehen hatte. Sie schien aus

nichts als leuchtenden Farben zu bestehen. Momo hatte nie geahnt, daß es diese Farben

überhaupt gab. Das Sternenpendel hielt eine Weile über der Blüte an, und Momo versank

ganz und gar in den Anblick und vergaß alles um sich her. Der Duft allein schien ihr wie

etwas, wonach sie sich immer gesehnt hatte, ohne zu wissen, was es war.Doch dann schwang

das Pendel langsam, langsam wieder zurück. Und während es sich ganz allmählich entfernte,

gewahrte Momo zu ihrer Bestürzung, daß die herrliche Blüte anfing zu verwelken. Ein Blatt

nach dem anderen löste sich und versank in der dunklen Tiefe. Momo empfand es so

schmerzlich, als ob etwas Unwiederbringliches für immer von ihr fortginge.

Als das Pendel über der Mitte des schwarzen Teiches angekommen war, hatte die herrliche

Blüte sich vollkommen aufgelöst. Gleichzeitig aber begann auf der gegenüberliegenden Seite

eine Knospe aus dem dunklen Wasser aufzusteigen. Und als das Pendel sich dieser nun

langsam näherte, sah Momo, daß es eine noch viel herrlichere Blüte war, die da aufzubrechen

begann. Das Kind ging um den Teich herum, um sie aus der Nähe zu betrachten.

Sie war ganz und gar anders als die vorhergehende Blüte. Auch ihre Farben hatte Momo noch

nie zuvor gesehen, aber es schien ihr, als sei diese hier noch viel reicher und kostbarer. Sie

duftete ganz anders, viel herrlicher, und je länger Momo sie betrachtete, um so mehr

wundervolle Einzelheiten entdeckte sie.

Aber wieder kehrte das Sternenpendel um, und die Herrlichkeit verging und löste sich auf und

versank, Blatt für Blatt, in den unergründlichen Tiefen des schwarzen Teiches.

Langsam, langsam wanderte das Pendel zurück auf die Gegenseite, aber es erreichte nun nicht

mehr dieselbe Stelle wie vorher, sondern es war um ein kleines Stück weitergewandert. Und

dort, einen Schritt neben der ersten Stelle, begann abermals eine Knospe aufzusteigen und

sich allmählich zu entfalten.

Diese Blüte war nun die allerschönste, wie es Momo schien. Dies war die Blüte aller Blüten,

ein einziges Wunder!

Momo hätte am liebsten laut geweint, als sie sehen mußte, daß auch diese Vollkommenheit

anfing, hinzuwelken und in den dunklen Tiefen

zu versinken. Aber sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie Meister Hora gegeben hatte,

und schwieg still. Auch auf der Gegenseite war das Pendel nun einen Schritt weiter

gewandert, und eine neue Blume stieg aus den dunklen Wassern auf.

Allmählich begriff Momo, daß jede neue Blume immer ganz anders war als alle vorherigen,

und daß ihr jeweils diejenige, die gerade blühte, die allerschönste zu sein schien.

Immer rund um den Teich wandernd, schaute sie zu, wie Blüte um Blüte entstand und wieder

verging. Und es war ihr, als könne sie dieses Schauspiels niemals müde werden.

Aber nach und nach wurde sie gewahr, daß hier immerwährend noch etwas anderes vorging,

etwas, das sie bisher nicht bemerkt hatte. Die Lichtsäule, die aus der Mitte der Kuppel

herniederstrahlte, war nicht nur zu sehen – Momo begann sie nun auch zu hören ! Anfangs

war es wie ein Rauschen, so wie von Wind, den man fern in den Wipfeln der Bäume hört.

Aber dann wurde das Brausen mächtiger, bis es dem eines Wasserfalls glich oder dem

Donnern der Meereswogen gegen eine Felsenküste.

Und Momo vernahm immer deutlicher, daß dieses Tosen aus unzähligen Klängen bestand, die

sich untereinander ständig neu ordneten, sich wandelten und immerfort andere Harmonien

bildeten. Es war Musik und war doch zugleich etwas ganz anderes. Und plötzlich erkannte

Momo sie wieder: Es war die Musik, die sie manchmal leise und wie von fern gehörte hatte,

wenn sie unter dem funkelnden Sternenhimmel der Stille lauschte.

Aber nun wurden die Klänge immer klarer und strahlender. Momo ahnte, daß dieses

klingende Licht es war, das jede der Blüten in anderer, jede in einmaliger und

unwiederholbarer Gestalt aus den Tiefen des dunklen Wassers hervorrief und bildete.Je länger

sie zuhörte, desto deutlicher konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden.

Aber es waren keine menschlichen Stimmen, sondern es klang, als ob Gold und Silber und

alle anderen Metalle sangen. Und dann tauchten, gleichsam dahinter, Stimmen ganz anderer

Art auf, Stimmen aus undenkbaren Fernen und von unbeschreibbarer Mächtigkeit. Immer

deutlicher wurden sie, so daß Momo nun nach und nach Worte hörte, Worte einer Sprache,

die sie noch nie vernommen hatte und die sie doch verstand. Es waren Sonne und Mond und

die Planeten und alle Sterne, die ihre eigenen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in

diesen Namen lag beschlossen, was sie tun und wie sie alle zusammenwirken, um jede

einzelne dieser Stunden-Blumen entstehen und wieder vergehen zu lassen.

Und auf einmal begriff Momo, daß alle diese Worte an sie gerichtet waren ! Die ganze Welt

bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes

Gesicht, das sie anblickte und zu ihr reckte !

Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst. In diesem Augenblick sah sie Meister

Hora, der ihr schweigend mit der Hand winkte. Sie stürzte auf ihn zu, er nahm sie auf den

Arm, und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Wieder legten sich seine Hände schneeleise

auf ihre Augen, und es wurde dunkel und still und sie fühlte sich geborgen. Er ging mit ihr

den langen Gang zurück. Als sie wieder in dem kleinen Zimmer zwischen den Uhren waren,

bettete er sie auf das zierliche Sofa.

»Meister Hora«, flüsterte Momo, »ich hab’ nie gewußt, daß die Zeit aller Menschen so . . .« –

sie suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden — »so groß ist«, sagte sie

schließlich. »Was du gesehen und gehört hast, Momo«, antwortete Meister Hora, »das war

nicht die Zeit aller Menschen. Es war nur deine eigene Zeit. In

jedem Menschen gibt es diesen Ort, an dem du eben warst. Aber dort hinkommen kann nur,

wer sich von mir tragen läßt. Und mit gewöhnlichen Augen kann man ihn nicht sehen.« »Aber

wo war ich denn?«

»In deinem eigenen Herzen«, sagte Meister Hora und strich ihr sanft über ihr struppiges Haar.

»Meister Hora«, flüsterte Momo wieder, »darf ich meine Freunde auch zu dir bringen?«

»Nein«, antwortete er, »das kann jetzt noch nicht sein.«

»Wie lang darf ich denn bei dir bleiben?«

»Bis es dich selbst zu deinen Freunden zurückzieht, mein Kind.«

»Aber darf ich ihnen erzählen, was die Sterne gesagt haben?«

»Du darfst es. Aber du wirst es nicht können.«

»Warum nicht?«

»Dazu müßten die Worte dafür in dir erst wachsen.«

»Ich möchte ihnen aber davon erzählen, allen! Ich möchte ihnen die

Stimmen vorsingen können. Ich glaube, dann würde alles wieder gut

werden.«

»Wenn du das wirklich willst, Momo, dann mußt du warten können.«»Warten macht mir

nichts aus.«

»Warten, Kind, wie ein Samenkorn, das in der Erde schläft einen ganzen Sonnenkreis lang,

ehe es aufgehen kann. So lang dauert es, bis die Worte in dir gewachsen sein werden. Willst

du das?« »Ja«, flüsterte Momo.

»Dann schlafe«, sagte Meister Hora und strich ihr über die Augen, »schlafe!« Und Momo

holte tief und glücklich Atem und schlief ein.

 

DRITTER TEIL:

DIE STUNDEN-BLUMEN

DREIZEHNTES KAPITEL

Dort ein Tag und hier ein Jahr

Momo erwachte und schlug die Augen auf. Sie mußte sich eine Weile besinnen, wo sie war.

Es verwirrte sie, daß sie sich auf den grasbewachsenen Steinstufen des alten Amphitheaters

wiederfand. War sie denn nicht vor wenigen Augenblicken noch im Nirgend-Haus bei Meister

Hora gewesen? Wie kam sie denn so plötzlich hierher?

Es war dunkel und kühl. Über dem östlichen Horizont dämmerte eben das erste

Morgengrauen auf. Momo fröstelte und zog sich ihre viel zu große Jacke enger um den Leib.

Ganz deutlich erinnerte sie sich an alles, was sie erlebt hatte, an die nächtliche Wanderung

durch die große Stadt hinter der Schildkröte her, an den Stadtteil mit dem seltsamen Licht und

den blendend weißen Häusern, an die Niemals-Gasse, an den Saal mit den unzähligen Uhren,

an die Schokolade und die Honigbrötchen, an jedes einzelne Wort ihrer Unterhaltung mit

Meister Hora und an das Rätsel. Aber vor allem erinnerte sie sich an das Erlebnis unter der

goldenen Kuppel. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um die nie zuvor geschaute

Farbenpracht der Blüten wieder vor sich zu sehen. Und die Stimmen von Sonne, Mond und

Sternen klangen ihr noch immer im Ohr, so deutlich sogar, daß sie die Melodien mitsummen

konnte. Und während sie das tat, formten sich Worte in ihr, Worte, die wirklich den Duft der

Blüten und deren niegesehene Farben ausdrückten ! Die Stimmen in Momos Erinnerung

waren es, die diese Worte sprachen -doch mit dieser Erinnerung selbst war etwas

Wunderbares geschehen ! Momo fand in ihr nun nicht mehr nur das, was sie gesehen und

gehört hatte, sondern mehr und immer noch mehr. Wie aus einem unerschöpflichen

Zauberbrunnen stiegen tausend Bilder von Stunden-Blumen auf. Und bei jeder Blume

erklangen neue Worte. Momo brauchte nur aufmerksam in sich hinein zu lauschen, um diese

nachsprechen, ja sogar mitsingen zu können. Von geheimnisvollen und wunderbaren Dingen

war da die Rede, aber indem Momo die Worte nachsprach, konnte sie deren Bedeutung

verstehen. Das also hatte Meister Hora gemeint, als er gesagt hatte, die Worte müßten erst in

ihr wachsen !

Oder war am Ende alles nur ein Traum gewesen ? War das alles gar nicht wirklich

geschehen?

Aber während Momo noch überlegte, sah sie unten auf dem runden Platz in der Mitte etwas

krabbeln. Es war eine Schildkröte, die da ganz gemächlich nach eßbaren Kräutern suchte!

Rasch kletterte Momo zu ihr hinunter und hockte sich neben sie auf den Boden. Die

Schildkröte hob nur kurz den Kopf, musterte das Kind mit ihren uralten, schwarzen Augen

und fraß dann geruhsam weiter. »Guten Morgen, Schildkröte«, sagte Momo. Keine Antwort

erschien auf dem Rückenpanzer. »Warst du es«, fragte Momo, »die mich heute nacht zu

Meister Hora geführt hat?«

Wieder keine Antwort. Momo seufzte enttäuscht. »Schade«, murmelte sie, »also bist du nur

eine gewöhnliche Schildkröte und nicht die . . . ach, ich hab’ den Namen vergessen. Es war

ein schöner Name, aber lang und seltsam. Ich hab’ ihn noch nie vorher gehört.«

»KASSIOPEIA!« stand plötzlich in schwach leuchtenden Buchstaben auf dem Panzer der

Schildkröte. Momo entzifferte es entzückt. »Ja !« rief sie und klatschte in die Hände, «das war

der Name ! Dann bist du’s ja doch? Du bist Meister Horas Schildkröte, nicht war?«

»WER DENN SONST?«

»Aber warum hast du mir denn zuerst nicht geantwortet?« »ICH FRÜHSTÜCKE«, war auf dem

Panzer zu lesen. »Entschuldige!« erwiderte Momo. »Ich wollte dich ja nicht stören. Ich

möchte nur gern wissen, wie es kommt, daß ich auf einmal wieder hier bin?«

»DEIN WUNSCH!« erschien als Antwort.

»Sonderbar«, murmelte Momo, »daran kann ich mich gar nicht erinnern. Und du, Kassiopeia?

Warum bist du nicht bei Meister Hora geblieben, sondern mit mir gekommen?« »MEIN

WUNSCH!« stand auf dem Rückenpanzer. »Vielen Dank«, sagte Momo, »das ist lieb von dir.«

»BITTE«, war die Antwort. Damit schien für die Schildkröte die Unterhaltung zunächst

beendet, denn sie stapfte weiter, um ihr unterbrochenes Frühstück fortzusetzen.

Momo setzte sich auf die steinernen Stufen und freute sich auf Beppo, Gigi und die Kinder.

Sie lauschte wieder auf die Musik, die nicht aufhörte, in ihrem Inneren zu klingen. Und

obwohl sie ganz allein war und kein Mensch ihr zuhörte, sang sie immer lauter und beherzter

die Melodien und die Worte mit, geradewegs in die aufgehende Sonne hinein. Und es schien

ihr, als ob die Vögel und die Grillen und die Bäume und sogar die alten Steine diesmal ihr

zuhörten. Sie konnte nicht wissen, daß sie für lange Zeit keine anderen Zuhörer mehr finden

würde. Sie konnte nicht wissen, daß sie ganz vergeblich auf ihre Freunde wartete, daß sie sehr

lange fort gewesen war und daß die Welt sich inzwischen verändert hatte. –

Mit Gigi Fremdenführer hatten die grauen Herren es vergleichsweise leicht gehabt.

Es hatte damit begonnen, daß etwas vor einem Jahr, kurz nach dem Tag, an dem Momo

plötzlich spurlos verschwunden war, ein längerer Artikel über Gigi in der Zeitung erschien.

»Der letzte wirkliche Geschichtenerzähler«, stand da. Außerdem wurde berichtet, wo und

wann man ihn treffen könne, und er sei eine Attraktion, die man nicht versäumen dürfe.

Daraufhin kamen immer häufiger Leute zu dem alten Amphitheater, die Gigi sehen und hören

wollten. Gigi hatte natürlich nichts dagegen einzuwenden.

Er erzählte wie immer, was ihm gerade einfiel und ging anschließend mit seiner Mütze

herum, die jedesmal voller von Münzen und Geldscheinen war. Bald wurde er von einem

Reiseunternehmen angestellt, das ihm zusätzlich noch eine feste Summe bezahlte für das

Recht, ihn selbst als Sehenswürdigkeit zu präsentieren. Die Reisenden wurden in Autobussen

herbeigeschafft und schon nach kurzer Zeit mußte Gigi einen regelrechten Stundenplan

einhalten, damit auch wirklich alle, die dafür bezahlt hatten, Gelegenheit fanden, ihn zu

hören. Schon damals begann Momo ihm sehr zu fehlen, denn seine Geschichten hatten keine

Flügel mehr, obgleich er sich noch immer standhaft weigerte, die gleiche Geschichte zweimal

zu erzählen, selbst als ihm das doppelte Geld dafür geboten wurde.

Nach wenigen Monaten hatte er es nicht mehr nötig, beim alten Amphitheater aufzutreten und

mit der Mütze herumzugehen. Der Rundfunk holte ihn und wenig später sogar das Fernsehen.

Dort erzählte er nun dreimal wöchentlich vor Millionen von Zuhörern seine Geschichten, und

er verdiente eine Menge Geld.

Inzwischen wohnte er auch nicht mehr in der Nähe des alten Amphitheaters, sondern in einem

ganz anderen Stadtteil, dort wo alle reichen und berühmten Leute wohnten. Er hatte eine

großes modernes Haus gemietet, das mitten in einem gepflegten Park lag. Er nannte sich auch

nicht mehr Gigi, sondern Girolamo.

Natürlich hatte er längst aufgehört, wie früher immer neue Geschichten zu erfinden. Er hatte

gar keine Zeit mehr dazu.

Er begann haushälterisch mit seinen Einfallen umzugehen. Aus einem einzigen machte er jetzt

manchmal fünf verschiedene Geschichten. Und als auch das nicht mehr genügte, um der

immer noch zunehmenden Nachfrage gerecht zu werden, tat er eines Tages etwas, das er nicht

hätte tun dürfen: Er erzählte eine der Geschichten, die Momo ganz allein gehörte.

Sie wurde ebenso hastig verschlungen wie alle anderen und war sofort wieder vergessen. Man

forderte weitere Geschichten von ihm. Gigi war so benommen von diesem Tempo, daß er,

ohne sich zu besinnen, hintereinanderweg alle Geschichten preisgab, die nur für Momo

bestimmt gewesen waren. Und als er die letzte erzählt hatte, fühlte er plötzlich, daß er leer

und ausgehöhlt war und nichts mehr erfinden konnte. In seiner Angst, der Erfolg könne ihn

wieder verlassen, begann er alle seine Geschichten noch einmal zu erzählen, nur mit neuen

Namen und ein bißchen verändert. Und das Erstaunliche war, daß niemand es zu bemerken

schien. Jedenfalls beeinträchtigte es die Nachfrage nicht. Daran hielt Gigi sich fest wie ein

Ertrinkender an einer Holzplanke. Denn nun war er doch reich und berühmt -, und war es

nicht das gewesen, wovon er immer geträumt hatte?

Aber manchmal des Nachts, wenn er in seinem Bett mit der seidenen Steppdecke lag, sehnte

er sich zurück nach dem anderen Leben, wo er mit Momo und dem alten Beppo und den

Kindern hatte Zusammensein können und wo er wirklich noch zu erzählen verstanden hatte.

Aber dorthin führte kein Weg zurück, denn Momo war und blieb verschwunden. Anfangs

hatte Gigi einige ernstliche Versuche gemacht, sie wiederzufinden, später war ihm dazu keine

Zeit mehr geblieben. Er hatte nun drei tüchtige Sekretärinnen, die für ihn Verträge

abschlössen, denen er seine Geschichten diktierte, die Reklame für ihn machten und seine

Termine regelten. Aber ein Termin für die Suche nach Momo ließ sich niemals mehr

einschieben.Von dem alten Gigi war nur noch wenig übriggeblieben. Aber eines Tages raffte

er dieses wenige zusammen und beschloß, sich auf sich selbst zu besinnen. Er war doch nun

jemand, so sagte er sich, dessen Stimme Gewicht hatte und auf den Millionen hörten. Wer,

wenn nicht er, konnte den Menschen die Wahrheit sagen ! Er wollte ihnen von den grauen

Herren erzählen ! Und er wollte dazu sagen, daß dies keine erfundene Geschichte sei und daß

er alle seine Zuhörer bitte, ihm bei der Suche nach Momo zu helfen.

Diesen Entschluß hatte er in einer jener Nächte gefaßt, in denen er sich nach seinen alten

Freunden sehnte. Und als die Morgendämmerung kam, saß er bereits an seinem großen

Schreibtisch, um sich Notizen zu seinem Plan zu machen. Doch ehe er noch das erste Wort

niedergeschrieben hatte, schrillte das Telefon. Er hob ab, horchte und erstarrte vor Entsetzen.

Eine seltsam tonlose, sozusagen aschengraue Stimme sprach zu ihm, und er fühlte gleichzeitig

eine Kälte in sich aufsteigen, die aus dem Mark seiner Knochen zu kommen schien.

»Laß das sein!« sprach die Stimme. »Wir raten es dir im Guten.« »Wer ist da?« fragte Gigi.

»Das weißt du ganz gut«, antwortete die Stimme. »Wir brauchen uns wohl nicht vorzustellen.

Du hast zwar bisher noch nicht persönlich das Vergnügen mit uns gehabt, aber du gehörst uns

schon längst mit Haut und Haar. Sag nur, du wüßtest das nicht!« »Was wollt ihr von mir?«

»Was du dir da vorgenommen hast, das gefallt uns nicht. Sei brav und laß es bleiben, ja?«

Gigi nahm all seinen Mut zusammen.

»Nein«, sagte er, »ich lasse es nicht bleiben. Ich bin nicht mehr der kleine, unbekannte Gigi

Fremdenführer. Ich bin jetzt ein großer Mann. Wir werden ja sehen, ob ihr es mit mir

aufnehmen könnt.«

Die Stimme lachte tonlos, und Gigi begannen plötzlich die Zähne aufeinanderzuschlagen.

»Du bist niemand«, sagte die Stimme. »Wir haben dich gemacht. Du bist eine Gummipuppe.

Wir haben dich aufgeblasen .Aber wenn du uns Ärger machst, dann lassen wir die Luft wieder

aus dir heraus. Oder glaubst du im Ernst, daß du es dir und deinem unbedeutenden Talent zu

verdanken hast, was du jetzt bist?« »Ja, das glaube ich«, erwiderte Gigi heiser.

»Armer kleiner Gigi«, sagte die Stimme, »du bist und bleibst ein Phantast. Früher warst du

Prinz Girolamo in der Maske des armen Schluckers Gigi. Und was bist du nun ? Der arme

Schlucker Gigi in der Maske des Prinzen Girolamo.

Trotzdem, du solltest uns dankbar sein, denn schließlich waren wir es doch, die dir alle deine

Träume erfüllt haben.« »Das ist nicht wahr!« stammelte Gigi. »Das ist Lüge!« »Du liebe

Zeit!« antwortete die Stimme und lachte wieder tonlos, »ausgerechnet du willst uns mit der

Wahrheit kommen? Du hattest doch früher immer so viele schöne Sprüche von wegen wahr

und nicht wahr. Ach nein, armer Gigi, es wird dir nicht gut bekommen, wenn du versuchst,

dich auf die Wahrheit zu berufen. Berühmt bist du mit unserer Hilfe für deine Flunkereien.

Für die Wahrheit bist du nicht zuständig. Darum laß es sein!«

»Was habt ihr mit Momo gemacht?« flüsterte Gigi. »Darüber zerbrich dir nicht deinen

niedlichen Wirrkopf ! Ihr kannst du nicht mehr helfen – schon gar nicht, indem du nun diese

Geschichte über uns erzählst. Das einzige, was du damit erreichen wirst, ist, daß dein schöner

Erfolg genau so schnell vorbei sein wird, wie er gekommen ist. Natürlich mußt du das selbst

entscheiden. Wir wollen dich nicht abhalten, den Helden zu spielen und dich zu ruinieren,

wenn dir so viel daran liegt. Aber du kannst nicht von uns erwarten, daß wir weiterhin unsere

schützende Hand über dich halten, wenn du so undankbar bist. Ist es denn nicht viel

angenehmer, reich und berühmt zu

sein?«

»Doch«, antwortete Gigi mit erstickter Stimme. »Na, siehst du! Also – laß uns aus dem Spiel,

ja? Erzähle den Leuten lieber weiterhin das, was sie von dir hören wollen!« »Wie soll ich das

machen?« brachte Gigi mit Anstrengung hervor. »Jetzt, wo ich das alles weiß.«

»Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm dich selbst nicht so ernst. Es kommt wirklich nicht auf

dich an. So betrachtet, kannst du doch sehr schön weitermachen wie bisher!«

»Ja«, flüsterte Gigi und starrte vor sich hin, »so betrachtet…» Dann klickte es im Hörer, und

auch Gigi hängte ein. Er fiel vornüber auf die Platte seines großen Schreibtisches und verbarg

das Gesicht in seinen Armen. Ein lautloses Schluchzen schüttelte ihn. Von diesem Tag an

hatte Gigi alle Selbstachtung verloren. Er gab seinen Plan auf und machte weiter wie bisher,

aber er fühlte sich dabei wie ein Betrüger. Und das war er ja auch. Früher hatte ihn seine

Phantasie ihre schwebenden Wege geführt und er war ihr unbekümmert gefolgt. Aber nun log

er !

Er machte sich zum Hanswurst, zum Hampelmann seines Publikums, und er wußte es. Er

begann seine Tätigkeit zu hassen. Und so wurden seine Geschichten immer alberner oder

rührseliger. Aber das tat seinem Erfolg nicht etwa Abbruch, im Gegenteil, man nannte es

einen neuen Stil, und viele versuchten ihn nachzuahmen. Er wurde große Mode. Aber Gigi

hatte keine Freude daran. Er wußte ja nun, wem er das alles verdankte. Er hatte nichts

gewonnen. Er hatte

alles verloren.

Aber er raste weiter mit dem Auto von Termin zu Termin, er flog mit

den schnellsten Flugzeugen und er diktierte unaufhörlich, wo er ging

und stand, den Sekretärinnen seine alten Geschichten im neuen Gewand. Er war-wie in allen

Zeitungen stand- »erstaunlich fruchtbar«. So war aus dem Träumer Gigi der Lügner Girolamo

geworden.

Viel schwerer war es den grauen Herren geworden, mit dem alten Beppo Straßenkehrer fertig

zu werden.

Nach jener Nacht, in der Momo verschwunden war, saß er, wann immer seine Arbeit es ihm

erlaubte, im alten Amphitheater und wartete. Seine Sorge und Unruhe wuchs von Tag zu Tag.

Und als er es schließlich nicht mehr aushaken konnte, beschloß er trotz aller berechtigten

Einwände, die Gigi vorgebracht hatte, zur Polizei zu gehen. »Immer noch besser«, sagte er

sich, »sie stecken Momo wieder in solch ein Heim mit Gittern vor den Fenstern, als daß die

Grauen sie gefangenhalten. Falls sie überhaupt noch am Leben ist. Aus so einem Heim ist sie

schon mal ausgerissen und kann es wieder tun. Vielleicht kann ich auch dafür sorgen, daß sie

gar nicht erst ‘reinkommt. Aber erst muß man sie jetzt finden.«

Er ging also zur nächsten Polizeiwache, die am Stadtrand lag. Eine Weile stand er noch vor

der Tür herum und drehte seinen Hut in den Händen, dann faßte er sich ein Herz und ging

hinein. »Sie wünschen?« fragte der Polizist, der gerade damit beschäftigt war, ein langes und

schwieriges Formular auszufüllen. Beppo brauchte eine Weile, ehe er hervorbrachte: »Es muß

da nämlich etwas Schreckliches geschehen sein.«

»So?« fragte der Polizist, der immer noch weiterschrieb, »worum handelt es sich denn?«

»Es handelt sich«, antwortete Beppo, »um unsere Momo.« »Ein Kind?«

»Ja, ein kleines Mädchen.« »Ist es Ihr Kind?«»Nein«, sagte Beppo verwirrt, »das heißt, ja,

aber der Vater bin ich

nicht.«

»Nein, das heißt ja!« sagte der Polizist ärgerlich. »Wessen Kind ist es

denn? Wer sind seine Eltern?«

»Das weiß niemand«, antwortete Beppo.

»Wo ist das Kind denn gemeldet?«

»Gemeldet?« fragte Beppo. »Na, ich denke, bei uns. Wir kennen es

alle.«

»Also nicht gemeldet«, stellte der Polizist seufzend fest. »Wissen Sie,

daß so was verboten ist? Wo kämen wir denn da hin! Bei wem wohnt

das Kind?«

»Bei sich«, erwiderte Beppo, »das heißt, im alten Ampitheater. Aber da

wohnt sie ja nun nicht mehr. Sie ist weg.«

»Augenblick mal«, sagte der Polizist, »wenn ich richtig verstehe, dann

wohnte bis jetzt in der Ruine da draußen ein vagabundierendes kleines

Mädchen namens . . . wie sagten Sie?«

»Momo«, antwortete Beppo.

Der Polizist begann alles aufzuschreiben.

»… namens Momo. Momo und wie weiter? Den ganzen Namen,

bitte!«

»Momo und nichts weiter«, sagte Beppo.

Der Polizist kratzte sich unter dem Kinn und blickte Beppo bekümmert

an.

»Also so geht das nicht, mein Guter. Ich will Ihnen ja helfen, aber so

kann man keine Anzeige aufsetzen. Nun sagen Sie mir erst mal, wie Sie

selbst heißen.«

»Beppo«, sagte Beppo.

»Und wie weiter?«

»Beppo Straßenkehrer.«

»Den Namen will ich wissen, nicht den Beruf!«

»Es ist beides«, erklärte Beppo geduldig.

Der Polizist ließ den Federhalter sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Gott im Himmel !« murmelte er verzweifelt. »Warum muß gerade ich jetzt Dienst haben. «

Dann richtete er sich auf, straffte seine Schultern, lächelte dem alten Mann aufmunternd zu

und sagte mit der Sanftheit eines Krankenpflegers: »Die Personalien können wir ja später

aufnehmen. Jetzt erzählen Sie erst mal der Reihe nach, was eigentlich war und wie alles

gekommen ist.«

»Alles?« fragte Beppo zweifelnd.

»Alles, was zur Sache gehört«, antwortete der Polizist. »Ich habe zwar überhaupt keine Zeit,

ich muß bis Mittag diesen ganzen Berg von Formularen da ausgefüllt haben, ich bin am

Rande meiner Kräfte und meiner Nerven-, aber lassen Sie sich ruhig Zeit und erzählen Sie,

was Sie auf dem Herzen haben.«

Er lehnte sich zurück und schloß die Augen mit dem Ausdruck eines Märtyrers, der gerade

auf dem Rost gebraten wird. Und der alte Beppo begann, auf seine wunderliche und

umständliche Art, die ganze Geschichte zu erzählen, angefangen von Momos Auftauchen und

ihrer besonderen Eigenschaft, bis zu den grauen Herren auf der Müllhalde, die er selbst

belauscht hatte.

»Und in derselben Nacht«, schloß er, »ist Momo verschwunden.« Der Polizist blickte ihn

lange und gramerfüllt an. »Mit anderen Worten«, sagte er schließlich, »da war einmal ein

höchst unwahrscheinliches, kleines Mädchen, dessen Existenz man nicht beweisen kann, und

das ist von so einer Art Gespenster, die es ja bekanntlich nicht gibt, wer weiß wohin entführt

worden. Aber auch das ist nicht sicher. Und darum soll sich nun die Polizei kümmern?« »Ja,

bitte!« sagte Beppo.Der Polizist beugte sich vor und rief barsch: »Hauchen Sie mich mal

an!«

Beppo verstand diese Aufforderung nicht, er zuckte die Schultern,

hauchte aber dann gehorsam dem Polizisten ins Gesicht.

Der schnüffelte und schüttelte den Kopf. »Betrunken sind Sie offenbar

nicht.«

»Nein«, murmelte Beppo, rot vor Verlegenheit, »bin ich noch nie gewesen.

«

»Warum erzählen Sie mir dann diesen ganzen Unsinn?« fragte der

Polizist. »Halten Sie die Polizei denn für so blöd, daß sie auf solche

Ammenmärchen hereinfällt?«

»Ja«, antwortete Beppo arglos.

Jetzt riß dem Polizisten endgültig der Geduldsfaden. Er sprang von seinem

Stuhl auf und hieb mit der Faust auf das lange und schwierige

Formular. »Jetzt reicht es mir aber!« schrie er mit rotem Kopf. »Verschwinden

Sie auf der Stelle, sonst sperre ich Sie wegen Amtsbeleidigung

ein!«

»Verzeihung«, murmelte Beppo eingeschüchtert, »ich hab’ es anders

gemeint. Ich wollte sagen . . .«

»’raus!« brüllte der Polizist.

Beppo drehte sich um und ging hinaus.

Während der nächsten Tage tauchte er in verschiedenen anderen Polizeistationen

auf. Die Szenen, die sich dort abspielten, unterschieden

sich kaum von der ersten. Man warf ihn hinaus, man schickte ihn

freundlich nach Hause, oder man vertröstete ihn, um ihn los zu

werden .

Aber einmal geriet Beppo an einen höheren Beamten, der weniger Sinn für Humor hatte als

seine Kollegen. Er ließ sich unbewegten Gesichts die ganze Geschichte erzählen, dann sagte

er kalt: »Dieser alte Mann ist verrückt. Man wird feststellen müssen, ob er gemeingefährlich

ist.

Bringt ihn in die Arrestzelle!«

In der Zelle mußte Beppo einen halben Tag warten, dann wurde er von zwei Polizisten in ein

Auto verfrachtet. Sie fuhren mit ihm quer durch die Stadt zu einem großen, weißen Gebäude,

das Gitter vor den Fenstern hatte. Aber es war kein Gefängnis oder dergleichen, wie Beppo

zuerst dachte, sondern ein Krankenhaus für Nervenleiden. Hier wurde er gründlich untersucht.

Der Professor und die Krankenpfleger waren freundlich zu ihm, sie lachten ihn nicht aus und

schimpften nicht mit ihm, sie schienen sich sogar sehr für seine Geschichte zu interessieren,

denn er mußte sie ihnen immer und immer wieder erzählen. Obgleich sie ihm nie

widersprachen, hatte Beppo auch nie das Gefühl, daß sie ihm wirklich glaubten. Er wurde

nicht recht schlau aus ihnen, aber gehen ließen sie ihn auch nicht.

Jedesmal wenn er fragte, wann er denn nun hinausdürfe, hieß es: »Bald, aber im Augenblick

brauchen wir Sie noch. Sie müssen das verstehen, die Untersuchungen sind noch nicht

abgeschlossen, aber wir kommen voran.«

Und Beppo, der glaubte, es handle sich um Untersuchungen nach dem Verbleib der kleinen

Momo, faßte sich in Geduld. Man hatte ihm ein Bett in einem großen Schlafsaal angewiesen,

wo noch viele andere Patienten schliefen. Eines Nachts wachte er auf und sah im schwachen

Licht der Notbeleuchtung, daß jemand neben seinem Bett stand. Erst entdeckte er nur das rote

Leuchtpünktchen einer glimmenden Zigarre, aber dann erkannte er den runden steifen Hut

und die Aktentasche, die die Gestalt im Dunkeln trug. Er begriff, daß es einer der grauen

Herren war, ihm wurde kalt bis ins Herz hinein und er wollte um Hilfe rufen.

»Still!« sagte die aschenfarbene Stimme im Dunkeln, »ich habe den Auftrag, Ihnen ein

Angebot zu machen. Hören Sie mir zu und antworten Sie mir erst, wenn ich Sie dazu

auffordere ! Sie haben ja nun ein wenig sehen können, wie weit unsere Macht bereits reicht.

Es hängt ganz von Ihnen ab, ob Sie noch mehr davon kennenlernen werden. Sie können uns

zwar nicht im geringsten damit schaden, daß Sie diese Geschichte über uns jedem auf die

Nase binden, aber angenehm ist es uns trotzdem nicht. Übrigens haben Sie natürlich völlig

recht mit der Annahme, daß Ihre kleine Freundin Momo von uns gefangen gehalten wird.

Aber geben Sie die Hoffnung auf, daß man sie je bei uns finden kann. Das wird niemals

geschehen. Und durch Ihre Bemühungen, sie zu befreien, machen Sie dem armen Kind seine

Lage nicht gerade angenehmer. Für jeden Ihrer Versuche, mein Bester, muß sie büßen.

Überlegen Sie sich also in Zukunft, was sie tun und sagen.« Der graue Herr blies einige

Rauchringe und beobachtete mit Genugtuung die Wirkung, die seine Rede auf den alten

Beppo hatte. Denn der glaubte jedes Wort.

»Um mich so kurz wie möglich zu fassen, denn auch meine Zeit ist kostbar«, fuhr der graue

Herr fort, »mache ich Ihnen folgendes Angebot : Wir geben Ihnen das Kind zurück unter der

Bedingung, daß Sie nie wieder ein Wort über uns und unsere Tätigkeit verlieren. Außerdem

fordern wir von Ihnen, sozusagen als Lösegeld, die Summe von hunderttausend Stunden

eingesparter Zeit. Machen Sie sich keine Sorgen darüber, wie wir in den Besitz dieser Zeit

kommen werden, das ist unsere Sache. Sie haben lediglich die Aufgabe, diese Zeit

einzusparen. Wie, das ist Ihre Sache. Wenn Sie damit einverstanden sind, dann werden wir

dafür sorgen, daß Sie im Laufe der nächsten Tage hier entlassen werden. Wenn nicht, dann

bleiben Sie eben für immer hier, und Momo bleibt für immer bei uns. Überlegen sie sich’s.

Wir machen dieses großzügige Angebot nur dies eine Mal. Also?« Beppo schluckte zweimal

und krächzte dann: »Einverstanden.« »Sehr vernünftig«, sagte der graue Herr zufrieden, »also

denken Sie daran: Völliges Stillschweigen und hunderttausend Stunden. Sobald

wir die haben, bekommen Sie die kleine Momo wieder. Machen Sie’s gut, mein Bester.«

Damit verließ der graue Herr den Schlafsaal. Die Rauchfahne, die hinter ihm zurückblieb,

schien in der Dunkelheit matt zu leuchten wie ein Irrlicht.

Von dieser Nacht an erzählte Beppo seine Geschichte nicht mehr. Und wenn man ihn fragte,

warum er sie früher erzählt habe, dann zuckte er nur traurig die Schultern. Wenige Tage

später schon schickte man ihn nach Hause.

Aber Beppo ging nicht nach Hause, sondern geradewegs zu jenem großen Haus mit dem Hof,

wo er und seine Kollegen immer ihre Besen und Karren in Empfang nahmen. Er holte seinen

Besen, ging damit in die große Stadt und fing an zu kehren.

Aber nun kehrte er nicht mehr wie früher, bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem

Atemzug einen Besenstrich, sondern jetzt tat er es hastig und ohne Liebe zur Sache und nur

um Stunden einzubringen. Mit peinigender Deutlichkeit wußte er, daß er damit seine tiefste

Überzeugung, ja, sein ganzes bisheriges Leben verleugnete und verriet, und das machte ihn

krank vor Widerwillen gegen das, was er tat. Wäre es nur um ihn gegangen, er wäre lieber

verhungert, als sich selbst so untreu zu werden. Aber es ging ja um Momo, die er freikaufen

mußte, und dies war die einzige Art Zeit zu sparen, die er kannte. Er kehrte bei Tag und bei

Nacht, ohne jemals nach Hause zu gehen. Wenn die Erschöpfung ihn übermannte, setzte er

sich auf eine Anlagenbank oder auch einfach auf den Rinnstein und schlief ein wenig. Dann

fuhr er nach kurzem wieder auf und kehrte weiter. Ebenso hastig würgte er zwischendurch

rasch einmal irgend etwas zu essen hinunter. Zu seiner Hütte bei dem Amphitheater ging er

nicht mehr zurück. Er kehrte durch Wochen und durch Monate. Es kam der Herbst, und es

kam der Winter. Beppo kehrte.Und es kam der Frühling und wieder der Sommer. Beppo

bemerkte es kaum, er kehrte und kehrte, um die hunderttausend Stunden Lösegeld

zu ersparen.

Die Leute in der großen Stadt hatten keine Zeit, um auf den kleinen alten Mann zu achten.

Und die wenigen, die es doch taten, tippten sich hinter seinem Rücken an die Stirn, wenn er

keuchend an ihnen vorüberhastete und den Besen schwang, als gelte es sein Leben. Aber daß

man ihn für närrisch hielt, war ja nichts Neues für Beppo, und er beachtete es kaum.

Nur wenn ihn manchmal jemand fragte, warum er es denn so eilig habe, dann unterbrach er

seine Arbeit für einen Augenblick, schaute den Frager ängstlich und voll Trauer an und legte

den Finger an die Lippen. –

Die schwierigste Aufgabe stellte es für die grauen Herren dar, die Kinder unter Momos

Freunden nach ihren Plänen zu lenken. Nachdem Momo verschwunden war, hatten die Kinder

sich dennoch, sooft es nur ging, im alten Amphitheater versammelt. Sie hatten immer neue

Spiele erfunden, ein paar alte Kisten und Schachteln genügten ihnen, um darin fabelhafte

Weltreisen zu unternehmen oder um daraus Burgen und Schlösser zu errichten. Sie hatten

weiterhin ihre Pläne geschmiedet und einander Geschichten erzählt, kurzum, sie hatten

einfach so getan, als sei Momo noch mitten unter ihnen. Und es hatte sich erstaunlicherweise

gezeigt, daß es dadurch fast so war, als sei sie tatsächlich noch da.

Außerdem hatten diese Kinder keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Momo

wiederkommen würde. Darüber war zwar niemals gesprochen worden, aber das war auch gar

nicht nötig. Die stillschweigende Gewißheit verband die Kinder miteinander. Momo gehörte

zu ihnen und war ihr heimlicher Mittelpunkt, ganz gleich, ob sie nun da war oder nicht.

Dagegen hatten die grauen Herren nicht ankommen können. Wenn sie die Kinder nicht

unmittelbar unter ihren Einfluß bringen konnten, um sie von Momo loszureißen, dann mußten

sie es eben über einen Umweg zuwege bringen. Und dieser Umweg waren die Erwachsenen,

die ja über die Kinder zu bestimmen hatten. Nicht alle Erwachsenen, versteht sich, aber

diejenigen, die sich als Helfershelfer eigneten, und das waren leider gar nicht wenige.

Obendrein waren es nun die eigenen Waffen der Kinder, welche die grauen Herren gegen sie

verwendeten.

Plötzlich erinnerten sich nämlich einige Leute an die Umzüge, an die Plakate und Inschriften

der Kinder.

»Wir müssen etwas unternehmen«, hieß es, »denn es geht nicht an, daß immer mehr und mehr

Kinder allein sind und vernachlässigt werden. Den Eltern ist kein Vorwurf zu machen, denn

das moderne Leben läßt ihnen eben keine Zeit, sich genügend mit ihren Kindern zu

beschäftigen. Aber die Stadtverwaltung muß sich darum kümmern.« »Es geht nicht an«,

sagten andere, »daß der reibungslose Ablauf des Straßenverkehrs durch herumlungernde

Kinder gefährdet wird. Die Zunahme von Unfällen, die durch Kinder auf den Straßen

verursacht werden, kostet immer mehr Geld, das man anderweitig vernünftiger ausgeben

könnte.«

»Kinder ohne Aufsicht«, erklärten wieder andere, »verwahrlosen moralisch und werden zu

Verbrechern. Die Stadtverwaltung muß dafür sorgen, daß alle diese Kinder erfaßt werden.

Man muß Anstalten schaffen, wo sie zu nützlichen und leistungsfähigen Mitgliedern der

Gesellschaft erzogen werden.«

Und abermals andere meinten : »Kinder sind das Menschenmaterial der Zukunft. Die Zukunft

wird eine Zeit der Düsenmaschinen und der Elektrogehirne. Ein Heer von Spezialisten und

Facharbeitern wird notwendig sein, um alle diese Maschinen zu bedienen. Aber anstatt unsere

Kinder auf diese Welt von morgen vorzubereiten, lassen wir es noch immer zu, daß viele

von ihnen Jahre ihrer kostbaren Zeit mit nutzlosen Spielen verplempern. Es ist eine Schande

für unsere Zivilisation und ein Verbrechen an der künftigen Menschheit!« Das alles leuchtete

den Zeit-Sparern ungemein ein. Und da schon sehr viele Zeit-Sparer in der großen Stadt

waren, gelang es ihnen in ziemlich kurzer Zeit, die Stadtverwaltung von der Notwendigkeit zu

überzeugen, etwas für die vielen vernachlässigten Kinder zu tun. Daraufhin wurden in allen

Stadtvierteln sogenannte »Kinder-Depots« gegründet. Das waren große Häuser, wo alle

Kinder, um die sich niemand kümmern konnte, abgeliefert werden mußten und je nach

Möglichkeit wieder abgeholt werden konnten.

Es wurde strengstens verboten, daß Kinder auf den Straßen oder in den Grünanlagen oder

sonstwo spielten. Wurde ein Kind doch einmal dabei erwischt, so war sofort jemand da, der es

in das nächste Kinder-Depot brachte. Und die Eltern mußten mit einer gehörigen Strafe

rechnen.

Auch Momos Freunde entgingen dieser neuen Regelung nicht. Sie wurden voneinander

getrennt, je nach der Gegend, aus der sie kamen, und wurden in verschiedene Kinder-Depots

gesteckt. Davon, daß sie sich hier selbst Spiele einfallen lassen durften, war natürlich keine

Rede mehr. Die Spiele wurden ihnen von Aufsichtspersonen vorgeschrieben, und es waren

nur solche, bei denen sie irgend etwas Nützliches lernten. Etwas anderes verlernten sie freilich

dabei, und das war: sich zu freuen, sich zu begeistern und zu träumen. Nach und nach

bekamen die Kinder Gesichter wie kleine Zeit-Sparer. Verdrossen, gelangweilt und feindselig

taten sie, was man von ihnen verlangte. Und wenn sie doch einmal sich selbst überlassen

blieben, dann fiel ihnen nichts mehr ein, was sie hätten tun können. Das einzige, was sie nach

all dem noch konnten, war Lärm machen –

aber es war natürlich kein fröhlicher Lärm, sondern ein wütender und böser.

Aber die grauen Herren selbst kamen zu keinem der Kinder. Das Netz, das sie über die große

Stadt gewebt hatten, war nun dicht und — wie es schien – unzerreißbar. Selbst den schlausten

Kindern gelang es nicht, durch die Maschen zu schlüpfen. Der Plan der grauen Herren war

ausgeführt. Alles war für Momos Rückkehr vorbereitet. Von da an hatte das alte

Amphitheater leer und verlassen dagelegen.

Und nun saß Momo also auf den steinernen Stufen und wartete auf ihre Freunde. Den ganzen

Tag seit ihrer Rückkehr hatte sie so gesessen und gewartet. Aber niemand war gekommen.

Niemand. Die Sonne senkte sich dem westlichen Horizont zu. Die Schatten wuchsen, und es

wurde kalt.

Endlich stand Momo auf. Sie war hungrig, denn niemand hatte daran gedacht, ihr etwas zu

essen zu bringen. Das war noch nie geschehen. Selbst Gigi und Beppo mußten sie heute

vergessen haben. Aber sicher, dachte Momo, war das Ganze nur ein Versehen, irgendein

dummer Zufall, der sich morgen aufklären würde.

Sie stieg zur Schildkröte hinunter, die sich schon zum Schlafen in ihr Gehäuse zurückgezogen

hatte. Momo hockte sich neben sie und klopfte mit dem Fingerknöchel schüchtern auf den

Rückenpanzer. Die Schildkröte schob ihren Kopf hervor und blickte Momo an. »Entschuldige

bitte«, sagte Momo, »es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber kannst du mir sagen,

warum heute den ganzen Tag kein einziger von meinen Freunden gekommen ist?« Auf dem

Panzer erschienen die Worte: »KEINER MEHR DA.« Momo las sie, verstand aber nicht, was sie

bedeuten sollten. »Naja«, sagte sie zuversichtlich, »morgen wird sich’s schon herausstellen.

Morgen kommen meine Freunde bestimmt.«»NIE MEHR«, war die Antwort.

Momo starrte die matt leuchtenden Buchstaben eine Weile an. »Was meinst du damit?« fragte

sie schließlich bang. »Was ist denn mit meinen Freunden?«

»ALLE FORT«, las Sie.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise, »das kann nicht sein. Du irrst dich bestimmt,

Kassiopeia. Gestern waren sie ja noch alle da zur großen Versammlung, aus der nichts

geworden ist.« »HAST LANG GESCHLAFEN«, lautete Kassiopeias Antwort. Momo erinnerte

sich, daß Meister Hora gesagt hatte, sie müsse einen Sonnenkreis hindurch schlafen wie ein

Samenkorn in der Erde. Sie hatte nicht bedacht, wieviel Zeit das sein mochte, als sie

zugestimmt hatte. Aber nun begann sie es zu ahnen. »Wie lang?« fragte sie flüsternd.

»JAHR UND TAG.«

Momo brauchte eine Weile, ehe sie diese Antwort begriffen hatte. »Aber Beppo und Gigi«,

stammelte sie schließlich, »die beiden warten doch bestimmt noch auf mich!« »NIEMAND

MEHR DA«, stand auf dem Panzer.

»Wie kann denn das sein?« Momos Lippen zitterten. »Es kann doch nicht einfach alles weg

sein – alles, was war …» Und langsam erschien auf Kassiopeias Rücken das Wort:

»VERGANGEN.« Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Momo mit voller Gewalt, was

dieses Wort bedeutet. Ihr Herz wurde schwer wie nie zuvor.

»Aber ich«, murmelte sie fassungslos, »ich bin doch noch da . . .«

Sie hätte gern geweint, aber sie konnte nicht.

Nach einer Weile fühlte sie, daß die Schildkröte sie an ihrem nackten

Fuß berührte.

»ICH BIN BEI DIR!« stand auf ihrem Panzer.

»Ja«, sagte Momo und lächelte tapfer, »du bist bei mir, Kassiopeia. Und ich bin froh darüber.

Komm, wir wollen schlafen gehen.« Sie nahm die Schildkröte hoch und trug sie durch das

Einstiegsloch in der Mauer in ihren Raum hinunter. Im Licht der untergehenden Sonne sah

Momo, daß alles noch so war, wie sie es verlassen hatte. (Beppo hatte das Zimmer damals

wieder aufgeräumt.) Aber überall lag dicker Staub und hingen Spinnweben.

Auf dem Tischchen aus Kistenbrettern lehnte an einer Blechbüchse ein Brief. Auch er war

von Spinnweben bedeckt. »An Momo«, stand darauf.

Momos Herz begann schneller zu klopfen. Sie hatte noch nie einen Brief bekommen. Sie

nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten, dann riß sie das Kuvert auf und

nahm einen Zettel heraus.

»Liebe Momo!« las sie. »Ich bin umgezogen. Falls du zurückkommst, melde dich bitte gleich

bei mir. Ich mache mir große Sorgen um dich. Du fehlst mir sehr. Hoffentlich ist dir nichts

passiert. Wenn du Hunger hast, dann geh bitte zu Nino. Er schickt mir die Rechnung, ich

bezahle alles. Also iß nur, soviel du willst, hörst du? Alles Weitere sagt dir dann Nino.

Behalte mich lieb ! Ich behalte dich auch lieb !

Immer

dein Gigi«

Es dauerte lang, bis Momo diesen Brief buchstabiert hatte, obwohl Gigi

sich offensichtlich alle Mühe gegeben hatte, schön und deutlich zu

schreiben. Als sie endlich damit fertig war, erlosch gerade das letzte

Restchen Tageslicht.

Aber Momo war getröstet.

Sie hob die Schildkröte hoch und legte sie neben sich auf das Bett. Während sie sich in die

staubige Decke hüllte, sagte sie leise: »Siehst du, Kassiopeia, ich bin doch nicht allein.«

Aber die Schildkröte schien bereits zu schlafen. Und Momo, die beim Lesen des Briefes Gigi

ganz deutlich vor sich gesehen hatte, kam nicht auf den Gedanken, daß dieser Brief schon fast

ein Jahr hier lag. Sie legte ihre Wange auf das Papier. Jetzt war ihr nicht mehr kalt.

VIERZEHNTES KAPITEL

Zu viel zu essen und zu wenig Antworten

Am nächsten Mittag nahm Momo die Schildkröte unter den Arm und machte sich auf den

Weg zu Ninos kleinem Lokal. »Du wirst sehen, Kassiopeia«, sagte sie, »jetzt wird sich alles

aufklären. Nino weiß, wo Gigi und Beppo jetzt sind. Und dann gehen wir und holen die

Kinder, und wir sind wieder alle zusammen. Vielleicht kommen Nino und seine Frau auch mit

und die anderen alle. Sie werden dir bestimmt gut gefallen, meine Freunde. Vielleicht machen

wir heute abend ein kleines Fest. Ich werde ihnen von den Blumen erzählen und von der

Musik und von Meister Hora und allem. Ach, ich freu’ mich schon drauf, sie alle

wiederzusehen. Aber jetzt freu’ ich mich erst mal auf ein schönes Mittagessen. Ich hab’ schon

richtigen Hunger, weißt du.«

So schwatzte sie fröhlich weiter. Immer wieder faßte sie nach Gigis Brief, den sie in der

Jackentasche bei sich trug. Die Schildkröte schaute sie nur mit ihren uralten Augen an,

antwortete aber nichts. Momo begann im Gehen zu summen und schließlich zu singen.

Wieder waren es die Melodien und die Worte der Stimmen, die in ihrer Erinnerung noch

ebenso deutlich weiterklangen wie am Tage zuvor. Momo wußte jetzt, daß sie sie nie mehr

verlieren würde. Aber dann brach sie plötzlich ab. Vor ihr lag Ninos Lokal. Momo dachte im

ersten Augenblick, sie hätte sich im Wege geirrt. Statt des alten Hauses mit dem

regenfleckigen Verputz und der kleinen Laube vor der Tür stand dort jetzt ein langgestreckter

Betonkasten mit großen Fensterscheiben, welche die ganze Straßenfront ausfüllten. Die

Straße selbst war inzwischen asphaltiert, und viele Autos fuhren auf ihr. Auf der

gegenüberliegenden Seite waren eine große Tankstelle und in nächster Nähe ein riesiges

Bürohaus entstanden. Viele Fahrzeuge parkten vor dem neuen Lokal, über dessen Eingangstür

in großen Lettern die

Inschrift prangte:

NINOS SCHNELLRESTAURANT

Momo trat ein und konnte sich zunächst kaum zurechtfinden. An der Fensterseite entlang

standen viele Tische mit winzigen Platten auf hohen Beinen, so daß sie wie sonderbare Pilze

aussahen. Sie waren so hoch, daß ein Erwachsener im Stehen an ihnen essen konnte. Stühle

gab es keine mehr.

Auf der anderen Seite befand sich eine lange Barriere aus blitzenden Metallstangen, eine Art

Zaun. Dahinter zogen sich in kleinem Abstand lange Glaskästen hin, in denen Schinken- und

Käsebrote, Würstchen, Teller mit Salaten, Pudding, Kuchen und alles mögliche andere stand,

das Momo nicht kannte. Aber alles das konnte Momo erst nach und nach wahrnehmen, denn

der

«

Raum war gedrängt voller Menschen, denen sie immerfort im Wege zu stehen schien; wo sie

auch hintrat, wurde sie beiseite geschubst und weitergedrängt. Die meisten Leute balancierten

Tabletts mit Tellern und Flaschen darauf und versuchten einen Platz an den Tischchen zu

ergattern. Hinter denen, die dort standen und hastig aßen, warteten schon jeweils andere auf

deren Platz. Da und dort wechselten die Wartenden und die Essenden unfreundliche Worte.

Überhaupt machten die Leute alle einen ziemlich mißvergnügten Eindruck. Zwischen dem

Metallzaun und den Glaskästen schob sich langsam eine Schlange von Leuten weiter. Jeder

nahm sich da und dort einen Teller oder eine Flasche und einen Pappbecher aus den

Glaskästen. Momo staunte. Hier konnte sich also jeder nehmen, was er wollte ! Sie konnte

niemand sehen, der die Leute daran gehindert hätte oder wenigstens Geld dafür forderte.

Vielleicht gab es hier alles umsonst! Das wäre freilich eine Erklärung für das Gedränge

gewesen.

Nach einer Weile gelang es Momo, Nino zu erspähen. Er saß, von den vielen Leuten verdeckt,

ganz am Ende der langen Reihe der Glaskästen hinter einer Kasse, auf der er ununterbrochen

tippte, Geld einnahm und Wechselgeld herausgab. Also bei ihm bezahlten die Leute! Und

durch den Metallzaun wurde jeder so gelenkt, daß er nicht zu den Tischchen kommen konnte,

ohne an Nino vorbei zu müssen. »Nino !« rief Momo und versuchte sich zwischen den Leuten

durchzudrängen. Sie winkte mit Gigis Brief, aber Nino hörte sie nicht. Die Kasse machte zu

viel Lärm und beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.

Momo faßte sich ein Herz, kletterte über den Zaun und drängte sich durch die

Menschenschlange zu Nino durch. Er blickte auf, weil einige Leute laut zu schimpfen

anfingen.

Als er Momo sah, verschwand plötzlich der mißmutige Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Momo !« rief er und strahlte, ganz wie früher, »du bist wieder da ! Das ist aber eine

Überraschung!«

»Weitergehen!« riefen Leute aus der Reihe, »das Kind soll sich hinten anstellen wie wir auch.

Einfach vordrängen, das gibt’s nicht! So ein unverschämtes Gör!«

»Moment ! « rief Nino und hob beschwichtigend die Hände, »ein kleines bißchen Geduld,

bitte!«

»Da könnte ja jeder kommen ! « schimpfte einer aus der Reihe der Wartenden. »Weiter,

weiter! Das Kind hat mehr Zeit als wir.« »Gigi bezahlt alles für dich, Momo«, flüsterte Nino

dem Mädchen hastig zu, »also nimm dir zu essen, was du willst. Aber stell dich hinten an wie

die anderen. Du hörst ja selbst!«

Ehe Momo noch etwas fragen konnte, schoben die Leute ‘sie einfach weiter. Es blieb ihr also

nichts anderes übrig, als es genauso zu machen wie alle anderen. Sie stellte sich ans Ende der

Menschenschlange und nahm sich aus einem Regal ein Tablett und aus einem Kasten Messer,

Gabel und Löffel. Dann wurde sie langsam und schrittweise weitergeschoben.

Da sie beide Hände für das Tablett benötigte, setzte sie Kassiopeia einfach darauf. Im

Vorbeigehen holte sie sich aus den Glaskästen da und dort etwas heraus und stellte es um die

Schildkröte herum. Momo war von alledem etwas verwirrt, und so wurde es eine recht

merkwürdige Zusammenstellung. Ein Stück gebratenen Fisch, ein Marmeladebrot, ein

Würstchen, eine kleine Pastete und ein Pappbecher Limonade. Kassiopeia in der Mitte zog es

vor, sich gänzlich in ihr Gehäuse zu verkriechen und sich nicht dazu zu äußern.

Als Momo endlich zur Kasse kam, fragte sie Nino schnell: »Weißt du, wo Gigi ist?«

»Ja«, sagte Nino, »unser Gigi ist berühmt geworden. Wir sind alle sehr stolz auf ihn, denn

immerhin, er ist doch einer von uns ! Man kann ihn oft im Fernsehen sehen, und im Radio

spricht er auch. Und in den Zeitungen steht immer wieder etwas von ihm. Neulich sind sogar

zwei Reporter zu mir gekommen und haben sich von früher erzählen lassen. Ich hab’ ihnen die

Geschichte erzählt, wie Gigi einmal. . .« »Weiter da vorne!« riefen einige Stimmen aus der

Schlange. »Aber, warum kommt er denn nicht mehr?« fragte Momo. »Ach, weißt du«,

flüsterte Nino, der schon ein bißchen nervös wurde, »er hat eben keine Zeit mehr. Er hat jetzt

Wichtigeres zu tun, und am alten Amphitheater ist ja sowieso nichts mehr los.« »Was ist denn

mit euch?« riefen mehrere unwillige Stimmen von hinten. »Glaubt ihr, wir haben Lust, hier

ewig herumzustehen?« »Wo wohnt er denn jetzt?« erkundigte Momo sich hartnäckig. »Auf

dem Grünen Hügel irgendwo«, antwortete Nino, »«r hat eine schöne Villa, wie man hört, mit

einem Park drumherum. Aber geh jetzt erst mal weiter, bitte!«

Momo wollte eigentlich nicht, denn sie hatte ja noch viele, viele Fragen, aber sie wurde

einfach weitergeschoben. Sie ging mit ihrem Tablett zu einem der Pilztischchen und erwischte

tatsächlich nach kurzem Warten einen Platz. Allerdings war das Tischchen für sie so hoch,

daß sie gerade eben mit der Nase über die Platte reichte. Als sie ihr Tablett hinauf schob,

schauten die Umstehenden mit angeekelten Gesichtern auf die Schildkröte.

»So was«, sagte einer zu seinem Nachbarn, »muß man sich heutzutage bieten lassen.«

Und der andere brummte: »Was wollen Sie – die Jugend von heute!« Aber sonst sagten sie

nichts und kümmerten sich nicht weiter um Momo. Doch das Essen gestaltete sich auch so

schon schwierig genug für sie, weil sie eben kaum auf ihren Teller gucken konnte. Da sie aber

sehr hungrig war, verzehrte sie alles bis auf den letzten Rest. Nun war sie zwar satt, wollte

aber unbedingt noch erfahren, was aus Beppo geworden war. Also stellte sie sich noch einmal

in die Reihe. Und weil sie befürchtete, daß die Leute sonst vielleicht wieder ärgerlich auf sie

werden würden, wenn sie bloß so dazwischenstand, nahm sie sich im Vorübergehen noch

einmal allerhand aus den Glaskästen. Als sie schließlich wieder bei Nino ankam, fragte sie:

»Und wo ist Beppo Straßenkehrer?«

»Er hat lang auf dich gewartet«, erklärte Nino hastig, weil er neuerlichen Unwillen seiner

Kunden befürchtete. »Er dachte, es wäre dir was Schreckliches passiert. Er hat immer

irgendwas von grauen Herren erzählt, ich weiß nicht mehr was. Na, du kennst ihn ja, er war ja

immer schon ein bißchen wunderlich.«

»He, ihr zwei da vorn!« rief jemand aus der Schlange, »schlaft ihr?« »Sofort, mein Herr!« rief

Nino ihm zu. »Und dann?« fragte Momo. »Dann hat er die Polizei rebellisch gemacht«, fuhr

Nino fort und strich sich nervös mit der Hand übers Gesicht. »Er wollte unbedingt, daß sie

dich suchen sollten. Soviel ich weiß, haben sie ihn schließlich in eine Art Sanatorium

gebracht. Mehr weiß ich auch nicht.« »Verdammt noch mal !« schrie jetzt eine wütende

Stimme von hinten, »ist das hier eigentlich ein Schnellrestaurant oder ein Wartesaal? Ihr habt

wohl ein Familientreffen da vorne, wie?« »Sozusagen!« rief Nino flehend. »Ist er noch dort?«

erkundigte sich Momo.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Nino, »es heißt, sie haben ihn wieder laufen lassen, weil er

harmlos ist.« »Ja, aber wo ist er denn jetzt?«

»Keine Ahnung, wirklich, Momo. Aber, bitte, geh jetzt weiter!« Abermals wurde Momo

einfach von den nachdrängenden Leuten weitergeschoben. Wieder ging sie zu einem der

Pilztischchen, wartete, bis sie einen Platz fand und verdrückte die Mahlzeit, die auf ihrem

Tablett stand. Diesmal schmeckte es ihr schon sehr viel weniger gut. Auf die Idee, das Essen

einfach stehen zu lassen, kam Momo natürlich nicht. Nun mußte sie aber noch erfahren, was

mit den Kindern war, die sie früher immer besucht hatten. Da half nichts, sie mußte sich

wieder in die Reihe der Wartenden stellen, an den Glaskästen vorübermaschieren und ihr

Tablett mit Speisen füllen, damit die Leute nicht böse auf sie würden.

Endlich war sie wieder bei Nino an der Kasse. »Und die Kinder?« fragte sie. »Was ist mit

denen?« »Das ist jetzt alles anders geworden«, erklärte Nino, dem bei Momos neuerlichem

Anblick der Schweiß auf die Stirn trat. »Ich kann dir das jetzt nicht so erklären, du siehst ja,

wie es zugeht hier!« »Aber warum kommen sie nicht mehr?« beharrte Momo eigensinnig auf

ihrer Frage. »Alle Kinder, um die sich niemand kümmern kann, sind jetzt in Kinder-

Depots untergebracht. Die dürfen sich nicht mehr selbst überlassen bleiben, weil . . . na,

kurz und gut, für sie ist jetzt gesorgt.« »Beeilt euch doch, ihr Trantanten da vorne!« riefen

wieder Stimmen aus der Schlange. »Wir wollen schließlich auch mal zum Essen kommen.«

»Meine Freunde?« fragte Momo ungläubig. »Haben sie das wirklich selber gewollt?«

»Das hat man sie nicht gefragt«, erwiderte Nino und zappelte fahrig mit den Händen auf den

Tasten seiner Kasse herum. »Kinder können doch über so was nicht entscheiden. Es ist dafür

gesorgt, daß sie von der Straße wegkommen. Das ist schließlich das Wichtigste, nicht wahr?«

Momo sagte darauf gar nichts, sondern schaute Nino nur prüfend an. Und das machte Nino

nun vollends konfus.

»Zum Kuckuck noch mal!« schrie nun wieder eine erboste Stimme aus dem Hintergrund,

»das ist ja zum Auswachsen, wie hier heute getrödelt wird. Müßt ihr euer gemütliches

Schwätzchen denn ausgerechnet jetzt abhalten?«

»Und was soll ich jetzt machen«, fragte Momo leise, »ohne meine Freunde?«

Nino zuckte die Schultern und knetete seine Finger. »Momo«, sagte er und holte tief Luft wie

einer, der mit Gewalt seine Fassung zu bewahren sucht, »sei vernünftig und komm

irgendwann wieder, ich habe jetzt wirklich keine Zeit, mit dir zu beraten, was du anfangen

sollst. Du kannst hier immer essen, das weißt du ja. Aber ich an deiner Stelle würde eben

einfach auch in solch ein Kinder-Depot gehen, wo du beschäftigt wirst und aufgehoben bist

und sogar noch was lernst. Aber da werden sie dich sowieso hinbringen, wenn du so allein

durch die Welt läufst.«

Momo sagte wieder nichts und sah Nino nur an. Die Menge der Nachdrängenden schob sie

weiter. Automatisch ging sie zu einem der Tischchen, und ebenso automatisch verdrückte sie

auch noch das dritte Mittagessen, obwohl sie es kaum hinunterwürgen konnte und es wie

Pappendeckel und Holzwolle schmeckte. Danach fühlte sie sich elend. Sie nahm Kassiopeia

unter den Arm und ging still und ohne sich noch einmal umzudrehen hinaus.

»He, Momo!« rief Nino ihr nach, der sie im letzten Augenblick noch erspäht hatte, »warte

doch mal ! Du hast mir ja gar nicht erzählt, wo du inzwischen gesteckt hast!«

Aber dann drängten die nächsten Leute heran, und er tippte wieder auf der Kasse, nahm Geld

ein und gab Wechselgeld heraus. Das Lächeln auf seinem Gesicht war schon lange wieder

verschwunden. — »Viel zu essen«, sagte Momo zu Kassiopeia, als sie wieder im alten

Amphitheater waren, »viel zu essen hab’ ich ja schon gekriegt, viel zuviel.

Aber ich hab’ trotzdem das Gefühl, als ob ich nicht satt bin.« Und nach einer Weile fügte

sie hinzu: »Ich hätte Nino auch nicht von den Blumen und der Musik erzählen können.« Und

abermals nach einer Weile sagte sie: »Aber morgen gehen wir und suchen Gigi. Er wird dir

bestimmt gefallen, Kassiopeia. Du wirst schon sehen.« Aber auf dem Rücken der Schildkröte

erschien nur ein großes Fragezeichen.

FÜNFZEHNTES KAPITEL

Gefunden und verloren

Am nächsten Tag machte Momo sich schon früh am Morgen auf, um Gigis Haus zu suchen.

Die Schildkröte nahm sie natürlich wieder mit. Wo der Grüne Hügel war, wußte Momo. Es

war ein Villenvorort, der weit entfernt lag von jener Gegend um das alte Amphitheater. Er lag

in der Nähe jener gleichförmigen Neubauviertel, also auf der anderen Seite der großen Stadt.

Es war ein weiter Weg. Momo war zwar daran gewöhnt, barfuß zu laufen, aber als sie endlich

auf dem Grünen Hügel ankam, taten ihr doch

die Füße weh.

Sie setzte sich auf einen Rinnstein, um sich einen Augenblick auszuruhen.

Es war wirklich eine sehr vornehme Gegend. Die Straßen waren hier breit und sehr sauber

und beinahe menschenleer. In den Gärten hinter den hohen Mauern und Eisengittern erhoben

uralte Bäume ihre Wipfel in den Himmel. Die Häuser in den Gärten waren meist

langgestreckte Gebäude aus Glas und Beton mit flachen Dächern. Die glattrasierten Wiesen

vor den Häusern waren saftiggrün und luden förmlich ein, auf ihnen Purzelbaume zu machen.

Aber nirgends sah man jemand in den Gärten Spazierengehen oder auf dem Rasen spielen.

Wahrscheinlich hatten die Besitzer keine Zeit dazu.

»Wenn ich nur wüßte«, sagte Momo zur Schildkröte, »wie ich jetzt

herauskriegen kann, wo Gigi hier wohnt.«

»WIRST’S GLEICH WISSEN«, stand auf Kassiopeias Rücken.

»Meinst du?« fragte Momo hoffnungsvoll.

»He, du Dreckspatz«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr, »was

suchst du denn hier?«

Momo drehte sich um. Da stand ein Mann, der eine sonderbare gestreifte Weste anhatte.

Momo wußte nicht, daß Diener von reichen Leuten solche Westen tragen. Sie stand auf und

sagte: »Guten Tag, ich suche das Haus von Gigi. Nino hat mir gesagt, daß er jetzt hier

wohnt.« »Wessen Haus suchst du?«

»Von Gigi Fremdenführer. Er ist nämlich mein Freund.« Der Mann mit der gestreiften Weste

guckte das Kind mißtrauisch an. Hinter ihm war das Gartentor ein wenig offen geblieben, und

Momo konnte einen Blick hineinwerfen. Sie sah einen weiten Rasen, auf dem einige

Windhunde spielten und ein Springbrunnen plätscherte. Und auf einem Baum voller Blüten

saß ein Pfauenpärchen. »Oh!« rief Momo bewundernd, »was für schöne Vögel!«

Sie wollte hineingehen, um sie aus der Nähe zu betrachten, aber der Mann mit der Weste hielt

sie am Kragen zurück. »Hiergeblieben!« sagte er. »Was fällt dir ein, Dreckspatz!« Dann ließ

er Momo wieder los und wischte sich die Hand mit seinem Taschentuch ab, als habe er etwas

Unappetitliches angefaßt. »Gehört das alles dir?« fragte Momo und zeigte durch das Tor.

»Nein«, sagte der Mann mit der Weste noch eine Spur unfreundlicher, »verschwinde jetzt! Du

hast hier nichts zu suchen.« »Doch«, versicherte Momo mit Nachdruck, »Gigi Fremdenführer

muß ich suchen. Er wartet nämlich auf mich. Kennst du ihn denn nicht?« »Hier gibt es keine

Fremdenführer«, erwiderte der Mann mit der Weste und drehte sich um. Er ging in den Garten

zurück und wollte das Tor schließen, doch im fetzten Augenblick schien ihm noch etwas

einzufallen.

»Du meinst doch nicht etwa Girolamo, den berühmten Erzähler?« »Na ja, Gigi Fremdenführer

eben«, antwortete Momo erfreut, »so heißt er doch. Weißt du, wo sein Haus ist?«»Und er

erwartet dich wirklich?« wollte der Mann wissen. »Ja«, meinte Momo, »ganz bestimmt. Er ist

mein Freund, und er bezahlt für mich alles, was ich bei Nino esse.« Der Mann mit der Weste

zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den

Kopf.

»Diese Künstler !« sagte er säuerlich, »was sie doch manchmal für ausgefallene Launen

haben! Aber wenn du wirklich glaubst, daß er Wert auf deinen Besuch legt: Sein Haus ist das

letzte ganz oben an der Straße.«

Und das Gartentor fiel ins Schloß.

»LACKAFFE!« stand auf Kassiopeias Panzer, aber die Schrift erlosch sogleich wieder.

Das letzte Haus ganz oben an der Straße war von einer übermannshohen Mauer umgeben.

Und auch das Gartentor war, ähnlich wie das bei dem Mann mit der Weste, aus Eisenplatten,

so daß man nicht hineinsehen konnte. Nirgends war ein Klingelknopf oder ein Namensschild

zu finden.

»Ich möchte wissen«, sagte Momo, »ob das überhaupt Gigis neues Haus ist. Es sieht

eigentlich gar nicht nach ihm aus.« »IST ES ABER«, stand auf dem Rücken der Schildkröte.

»Warum ist denn alles so zu?« fragte Momo. »Da komm’ ich nicht ‘rein.«

»WARTE!« erschien als Antwort.

»Na ja«, meinte Momo seufzend, »da kann ich aber vielleicht lang warten. Woher soll Gigi

wissen, daß ich hier draußen stehe – falls er überhaupt drin ist.«

»ER KOMMT GLEICH«, war auf dem Panzer zu lesen. Also setzte Momo sich geradewegs vor

das Tor und wartete geduldig. Lange Zeit geschah gar nichts, und Momo begann zu

überlegen, ‘ob Kassiopeia sich nicht vielleicht doch einmal geirrt hatte.

»Bist du wirklich ganz sicher?« fragte sie nach einer Weile. Statt jeder erwarteten Antwort

erschien aber auf dem Rückenpanzer das Wort: »LEBEWOHL!«

Momo erschrak. »Was meinst du denn damit, Kassiopeia? Willst du mich denn wieder

verlassen? Was hast du denn vor?« »ICH GEH’ DICH SUCHEN!« war Kassiopeias noch

rätselhaftere Auskunft.

In diesem Augenblick flog plötzlich das Tor auf, und ein langes, elegantes Auto schoß in

voller Fahrt heraus. Momo konnte sich gerade noch durch einen Sprung nach rückwärts retten

und fiel hin. Das Auto raste noch ein Stückchen weiter, dann bremste es, daß die Reifen

quietschten. Eine Tür wurde aufgerissen, und Gigi sprang heraus.

»Momo!« schrie er und breitete die Arme aus, »das ist doch wirklich und wahrhaftig meine

kleine Momo!«

Momo war aufgesprungen und lief auf ihn zu, und Gigi fing sie auf und hob sie hoch, küßte

sie hundert Mal auf beide Backen und tanzte mit ihr auf der Straße herum.

»Hast du dir weh getan?« fragte er atemlos, aber er wartete gar nicht ab, was sie sagte,

sondern redete aufgeregt weiter. »Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, aber ich hab’s

schrecklich eilig, verstehst du? Ich bin schon wieder mal zu spät dran. Wo hast du denn nur

gesteckt die ganze Zeit? Du mußt mir alles erzählen. Also ich habe nicht mehr geglaubt, daß

du zurückkommen würdest. Hast du meinen Brief gefunden ? Ja ? War er noch da ? Gut, und

bist du zu Nino essen gegangen ? Hat es dir geschmeckt? Ach, Momo, wir müssen uns so viel

erzählen, es ist ja so schrecklich viel passiert inzwischen. Wie geht es dir denn? So rede doch

endlich ! Und unser alter Beppo, was macht er? Ich hab’ ihn schon ewig nicht mehr gesehen.

Und die Kinder? Ach, weißt du, Momo, ich denke oft an die Zeit, als wir noch alle zusammen

waren und ich euch Geschichten erzählt habe. Das waren schöne Zeiten. Aber jetzt ist alles

anders, ganz, ganz anders.«

Momo hatte mehrmals versucht, auf Gigis Fragen zu antworten. Aber da er seinen Redestrom

nicht unterbrach, wartete sie einfach ab und schaute ihn an. Er sah anders aus als früher, so

schön gepflegt, und er duftete gut. Aber irgendwie war er ihr seltsam fremd. Inzwischen

waren aus dem Auto noch vier andere Personen ausgestiegen und herangekommen: ein Mann

in einer ledernen Chauffeursuniform und drei Damen mit strengen, aber stark geschminkten

Gesichtern.

»Hat das Kind sich verletzt?« fragte die eine, eher vorwurfsvoll als besorgt.

»Nein, nein, keine Spur«, versicherte Gigi, »es hat sich nur erschreckt.« »Was lungert es aber

auch vor dem Tor herum!« sagte die zweite

Dame.

»Aber das ist doch Momo!« rief Gigi lachend. »Meine alte Freundin

Momo ist das!«

»Ach, dieses Mädchen gibt es also wirklich ?« fragte die dritte Dame erstaunt. »Ich hatte es

immer für eine Ihrer Erfindungen gehalten. -Aber das könnten wir doch gleich an Presse und

Rundfunk geben! »Wiedersehen mit der Märchenprinzessin« oder so, das wird bei den Leuten

fabelhaft ankommen! Ich werde das sofort veranlassen. Das wird der Knüller!«

»Nein«, sagte Gigi, »das möchte ich eigentlich nicht.« »Aber du, Kleine«, wandte sich die

erste Dame nun an Momo und lächelte, »du möchtest doch bestimmt gern in der Zeitung

stehen, nicht wahr?«

»Lassen Sie das Kind in Ruhe!« sagte Gigi ärgerlich. Die zweite Dame warf einen Blick auf

ihre Armbanduhr. »Wenn wir

jetzt nicht mächtig auf die Tube drücken, dann fliegt uns das Flugzeug wirklich noch vor der

Nase weg. Sie wissen ja selbst, was das bedeuten würde.«

»Mein Gott«, antwortete Gigi nervös, »kann ich denn nicht mal mehr mit Momo in Ruhe ein

paar Worte wechseln nach so langer Zeit ! Aber du siehst ja selbst, Kind, sie lassen mich

nicht, diese Sklaventreiber, sie lassen mich nicht!«

»Oh!« versetzte die zweite Dame spitz, »uns ist das völlig gleich. Wir erledigen nur unseren

Job. Wir werden von Ihnen dafür bezahlt, daß wir Ihre Termine organisieren, verehrter

Meister.« »Ja natürlich, natürlich!« lenkte Gigi ein. »Also fahren wir schon! Weißt du was,

Momo? Du fährst einfach mit zum Flugplatz. Dann können wir unterwegs reden. Und mein

Fahrer bringt dich anschließend nach Hause, einverstanden?«

Er wartete nicht ab, was Momo dazu sagen würde, sondern zog sie an der Hand hinter sich her

zum Auto. Die drei Damen nahmen auf dem Rücksitz Platz. Gigi setzte sich neben den Fahrer

und nahm Momo auf den Schoß. Und ab ging die Fahrt.

»Also«, sagte Gigi, »und jetzt erzähle, Momo! Aber hübsch der Reihe nach. Wieso bist du

damals so plötzlich verschwunden?« Momo wollte eben anfangen, von Meister Hora und den

Stunden-Blumen zu erzählen, als sich eine der Damen nach vorn beugte. »Entschuldigung«,

sagte sie, »aber mir kommt gerade eine fabelhafte Idee. Wir sollten Momo unbedingt der

Public-Film-Gesellschaft vorführen. Sie wäre doch haargenau der neue Kinderstar für Ihre

Vagabunden-Story, die als nächstes gedreht wird. Stellen Sie sich die Sensation vor! Momo

spielt Momo!«

»Haben Sie nicht verstanden?« fragte Gigi scharf. »Ich möchte auf keinen Fall, daß Sie das

Kind da hineinziehen!« »Ich weiß wirklich nicht, was Sie wollen«, entgegnete die Dame gekränkt.

»Jeder andere würde sich die Finger ablecken nach einer solchen

Gelegenheit.«

»Ich bin nicht jeder andere!« schrie Gigi plötzlich wütend. Und zu Momo gewandt fügte er

hinzu: »Entschuldige, Momo, du kannst das vielleicht nicht verstehen, aber ich will einfach

nicht, daß dieses Pack auch dich noch in die Finger kriegt.« Nun waren alle drei Damen

beleidigt.

Gigi griff sich stöhnend an den Kopf, dann holte er ein silbernes Döschen aus seiner

Westentasche, nahm eine Pille heraus und schluckte

sie.

Ein paar Minuten lang sagte niemand mehr etwas. Schließlich drehte sich Gigi nach hinten zu

den Damen. »Verzeihen Sie«, murmelte er abgekämpft, »Sie hab’ ich nicht gemeint. Ich bin

einfach mit den Nerven fertig.«

»Na ja, das kennt man ja allmählich schon«, antwortete die erste Dame. »Und nun«, fuhr Gigi

fort und lächelte Momo etwas schief an, »wollen wir nur noch von uns reden, Momo.«

»Nur eine Frage noch, ehe es zu spät ist«, mischte sich nun die zweite Dame dazwischen.

»Wir sind nämlich gleich da. Könnten Sie mich nicht wenigstens rasch ein Interview mit dem

Kind machen lassen?« »Schluß !« brüllte Gigi, aufs Äußerste gereizt. »Ich will jetzt mit

Momo reden, und zwar privat ! Das ist wichtig für mich ! Wie oft soll ich Ihnen das noch

erklären?«

»Sie selbst werfen mir doch dauernd vor«, erwiderte die Dame nun ebenfalls wütend, »daß

ich nicht genügend wirkungsvolle Reklame für Sie mache!«

»Richtig!« stöhnte Gigi. »Aber nicht jetzt! Nicht jetzt!« »Sehr schade !« meinte die Dame.

»So was würde bei den Leuten auf die Tränendrüsen drücken. Aber wie Sie wollen. Vielleicht

können wir’s ja auch später machen, wenn wir . . .«

»Nein!« fuhr ihr Gigi in die Rede. »Nicht jetzt und nicht später, sondern überhaupt nicht. Und

jetzt halten Sie gefälligst Ihren Mund, während ich mit Momo rede!«

»Na, erlauben Sie mal !« antwortete die Dame ebenso heftig. »Schließlich geht’s ja um Ihre

Publicity, nicht um meine! Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie sich’s zur Zeit leisten

können, eine solche Gelegenheit auszulassen!«

»Nein«, schrie Gigi verzweifelt, »ich kann es mir nicht leisten! Aber Momo bleibt aus dem

Spiel ! Und jetzt – ich flehe Sie an ! – lassen Sie uns beide für fünf Minuten in Ruhe!«

Die Damen schwiegen. Gigi fuhr sich mit der Hand erschöpft über die Augen.

»Da siehst du’s nun – so weit ist es mit mir gekommen.« Er ließ ein kleines bitteres Lachen

hören. »Ich kann nicht mehr zurück, selbst wenn ich wollte. Es ist vorbei mit mir. >Gigi bleibt

Gigi !< – Erinnerst du dich noch? Aber Gigi ist nicht Gigi geblieben. Ich sage dir eines,

Momo, das Gefährlichste, was es im Leben gibt, sind Wunschträume, die erfüllt werden.

Jedenfalls, wenn es so geht wie bei mir. Für mich gibt’s nichts mehr zu träumen. Ich könnte es

auch bei euch nicht wieder lernen. Ich hab’ alles so satt.« Er starrte trübe zum Wagenfenster

hinaus.

»Das einzige, was ich jetzt noch tun könnte, das wäre- den Mund halten, nichts mehr

erzählen, verstummen, vielleicht für den Rest meines Lebens, oder doch wenigstens so lang,

bis man mich vergessen hat und bis ich wieder ein unbekannter, armer Teufel bin. Aber arm

sein ohne Träume – nein, Momo, das ist die Hölle. Darum bleibe ich schon lieber, wo ich jetzt

bin. Das ist zwar auch eine Hölle, aber wenigstens eine bequeme. — Ach, was rede ich da?

Das kannst du natürlich alles nicht verstehen.« Momo sah ihn nur an. Sie verstand vor allem,

daß er krank war, todkrank. Sie ahnte, daß die grauen Herren dabei ihre Finger im Spiel

hatten. Und sie wußte nicht, wie sie ihm hätte helfen können, wo er es doch selbst gar nicht

wollte.

»Aber ich rede immerfort nur von mir«, sagte Gigi, »nun erzähle doch endlich mal, was du

inzwischen erlebt hast, Momo!« In diesem Augenblick hielt das Auto vor dem Flughafen. Sie

stiegen alle aus und eilten in die Halle. Hier wurde Gigi bereits von uniformierten

Stewardessen erwartet. Einige Zeitungsreporter knipsten ihn und stellten ihm Fragen. Aber

die Stewardessen drängten ihn, weil das Flugzeug in wenigen Minuten starten würde.

Gigi beugte sich zu Momo herunter und sah sie an. Und plötzlich hatte er Tränen in den

Augen.

»Hör zu, Momo«, sagte er so leise, daß die Umstehenden es nicht hören konnten, »bleib bei

mir! Ich nehme dich mit auf diese Reise und überallhin. Du wohnst bei mir in meinem

schönen Haus und gehst in Samt und Seide wie eine richtige kleine Prinzessin. Du sollst nur

da sein und mir zuhören. Vielleicht fallen mir dann wieder wirkliche Geschichten ein, solche

wie damals, weißt du? Du brauchst nur ja zu sagen, Momo, und alles kommt in Ordnung.

Bitte, hilf mir!« Momo wollte Gigi so gerne helfen. Das Herz tat ihr davon weh. Aber sie

fühlte, daß es so nicht richtig war, daß er wieder Gigi werden mußte und daß es ihm nichts

helfen würde, wenn sie nicht mehr Momo wäre. Auch ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie

schüttelte den Kopf. Und Gigi verstand sie. Er nickte traurig, dann wurde er von den Damen,

die er selbst dafür bezahlte, weggezogen. Er winkte noch einmal aus der Ferne, Momo winkte

zurück, und dann war er verschwunden. Momo hatte während der ganzen Begegnung mit Gigi

kein einziges Wort sagen können. Und sie hätte ihm doch so viel zu sagen gehabt. Ihr war, als

hätte sie ihn dadurch, daß sie ihn gefunden hatte, nun erst wirklich verloren.

Langsam drehte sie sich um und ging dem Ausgang der Halle zu. Und plötzlich durchfuhr sie

ein heißer Schreck: Auch Kassiopeia hatte sie verloren !

SECHZEHNTES KAPITEL

Die Not im Überfluß

»Also, wohin?« fragte der Fahrer, als Momo sich wieder zu ihm in Gigis langes elegantes

Auto setzte.

Das Mädchen starrte verstört vor sich hin. Was sollte sie ihm sagen? Wohin wollte sie denn

eigentlich? Sie mußte Kassiopeia suchen. Aber wo ? Wo und Wann hatte sie sie denn verloren

? Bei der ganzen Fahrt mit Gigi war sie schon nicht mehr dabeigewesen, das wußte Momo

ganz

sicher.

Also vor Gigis Haus ! Und nun fiel ihr auch ein, daß auf ihrem Rückenpanzer »LEBEWOHL!«

und »ICH GEH’ DICH SUCHEN« gestanden hatte. Natürlich hatte Kassiopeia vorher gewußt, daß

sie sich gleich verlieren würden. Und nun ging sie also Momo suchen. Aber wo sollte Momo

Kassiopeia suchen?

»Na, wird’s bald?« sagte der Chauffeur und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Ich

habe noch was anderes zu tun, als dich spazierenzufahren.«

»Zu Gigis Haus, bitte«, antwortete Momo.

Der Fahrer blickte etwas überrascht drein. »Ich denke, ich soll dich zu dir nach Hause

bringen. Oder wirst du jetzt etwa bei uns wohnen?« »Nein«, erwiderte Momo, »ich hab’ was

auf der Straße verloren. Das muß ich jetzt suchen.«

Dem Fahrer war es recht, denn dorthin mußte er ja sowieso. Als sie vor Gigis Villa ankamen,

stieg Momo aus und begann sofort, alles ringsum abzusuchen.

»Kassiopeia!« rief sie immer wieder leise, »Kassiopeia!« »Was suchst du denn eigentlich?«

fragte der Fahrer aus dem Wagenfenster.

»Meister Horas Schildkröte«, antwortete Momo, »sie heißt Kassiopeia und weiß immer eine

halbe Stunde die Zukunft voraus. Sie schreibt nämlich Buchstaben auf ihrem Rückenpanzer.

Ich muß sie unbedingt wiederfinden. Hilfst du mir bitte?«

»Ich hab’ keine Zeit für dumme Witze ! « knurrte er und fuhr durch das Tor, das hinter dem

Auto zufiel.

Momo suchte also allein. Sie suchte die ganze Straße ab, aber keine Kassiopeia war zu sehen.

»Vielleicht«, dachte Momo, »hat sie sich schon auf den Heimweg zum Amphitheater

gemacht.«

Momo ging also den gleichen Weg, den sie gekommen war, langsam zurück. Dabei spähte sie

in jede Mauerecke und suchte in jedem Straßengraben. Immer wieder rief sie den Namen der

Schildkröte. Aber vergebens.

Tief in der Nacht erst kam Momo im alten Amphitheater an. Auch hier suchte sie sorgfältig

alles ab, soweit es in der Dunkelheit möglich war. Sie hegte die zaghafte Hoffnung, daß die

Schildkröte durch ein Wunder schon vor ihr nach Hause gekommen wäre. Aber das war ja

natürlich gar nicht möglich, so langsam wie sie war.

Momo kroch in ihr Bett. Und nun war sie wirklich zum ersten Mal ganz allein.

Die nächsten Wochen verbrachte Momo damit, ziellos in der großen Stadt umherzuirren und

Beppo Straßenkehrer zu suchen. Da niemand ihr etwas über seinen Verbleib sagen konnte,

blieb ihr nur die verzweifelte Hoffnung, ihre Wege würden sich durch Zufall kreuzen. Aber

freilich, in dieser riesengroßen Stadt war die Möglichkeit, daß zwei Menschen sich zufällig

begegneten, so verschwindend gering wie die, daß eine Flaschenpost, die ein Schiffbrüchiger

irgendwo im weiten Ozean in die Wellen wirft, von einem Fischerboot an einer fernen Küste

aufgefischt wird.Und doch, so sagte sich Momo, waren sie sich vielleicht ganz nah. Wer weiß,

wie oft es geschah, daß sie just an einer Stelle vorüberkam, wo Beppo erst vor einer Stunde,

einer Minute, ja vielleicht erst vor einem Augenblick gewesen war. Oder umgekehrt, wie oft

mochte Beppo wohl kurz oder lang nach ihr über diesen Platz oder an diese Straßenecke

kommen. Momo wartete deshalb oft an einer Stelle viele Stunden. Aber schließlich mußte sie

doch irgendwann weitergehen, und so war es wieder möglich, daß sie sich nur um ein weniges

verfehlten. Wie gut hätte sie jetzt Kassiopeia brauchen können ! Wenn sie noch bei ihr

gewesen wäre, sie hätte ihr geraten »WARTE U oder »GEH WEITER ! «, aber so wußte Momo

nie, was sie tun sollte. Sie mußte fürchten, Beppo zu verfehlen, weil sie wartete, und sie

mußte fürchten, ihn zu verfehlen, weil sie es nicht tat.

Auch nach den Kindern, die früher immer zu ihr gekommen waren, hielt sie Ausschau. Aber

sie sah niemals eines. Sie sah überhaupt keine Kinder mehr auf den Straßen, und sie erinnerte

sich an Ninos Worte, daß für die Kinder jetzt gesorgt sei.

Daß Momo selbst niemals von einem Polizisten oder einem Erwachsenen aufgegriffen und in

ein Kinder-Depot gebracht wurde, lag an der heimlichen, unablässigen Überwachung durch

die grauen Herren. Denn das hätte ja nicht in die Pläne gepaßt, die sie mit Momo hatten. Aber

davon wußte Momo nichts.

Jeden Tag ging sie einmal zu Nino zum Essen. Aber mehr als bei ihrer ersten Begegnung

konnte sie nie mit ihm reden. Nino war immer in der gleichen Eile und hatte niemals Zeit.

Aus den Wochen wurden Monate. Und immer war Momo allein. Ein einziges Mal erblickte

sie, als sie in der Abenddämmerung auf dem Geländer einer Brücke saß, in der Ferne auf

einer anderen Brücke eine kleine gebückte Gestalt. Diese schwang hastig einen Besen, als

gelte es ihr Leben. Momo glaubte Beppo zu erkennen und schrie und winkte,

aber die Gestalt unterbrach ihre Tätigkeit keinen Augenblick. Momo rannte los, aber als sie

auf der anderen Brücke ankam, konnte sie niemand mehr entdecken.

»Es wird wohl nicht Beppo gewesen sein«, sagte Momo zu sich, um sich zu trösten. »Nein,

das kann er gar nicht gewesen sein. Ich weiß doch, wie Beppo kehrt.«

An manchen Tagen blieb sie auch zu Hause im alten Amphitheater, weil sie plötzlich hoffte,

Beppo könnte vielleicht vorbeikommen, um nachzusehen, ob sie schon zurückgekommen sei.

Wenn sie dann gerade nicht da wäre, mußte er natürlich glauben, sie sei noch immer

verschwunden. Auch hier quälte sie wieder die Vorstellung, daß genau das vielleicht schon

geschehen war, vor einer Woche oder gestern ! Also wartete sie, aber sie wartete natürlich

vergebens. Schließlich malte sie in großen Buchstaben an die Wand ihres Zimmers: BIN

WIEDER DA. Aber niemals las es jemand außer ihr selbst.

Eines jedoch verließ sie nicht in all dieser Zeit: Die lebendige Erinnerung an das Erlebnis bei

Meister Hora, an die Blumen und die Musik. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und in

sich hineinzuhorchen, so sah sie die glühende Farbenpracht der Blüten und hörte die Musik

der Stimmen. Und wie am ersten Tag konnte sie die Worte nachsprechen und die Melodien

mitsingen, obgleich diese sich immerfort neu bildeten und niemals die gleichen waren.

Manchmal saß sie ganze Tage lang allein auf den steinernen Stufen und sprach und sang vor

sich hin. Niemand war da, der ihr zuhörte, außer den Bäumen und den Vögeln und den alten

Steinen. Es gibt viele Arten von Einsamkeit, aber Momo erlebte eine, die wohl nur wenige

Menschen kennengelernt haben, und die wenigsten mit solcher Gewalt.

Sie kam sich vor wie eingeschlossen in einer Schatzhöhle voll unermeßlicher Reichtümer, die

immer mehr und mehr wurden und sie zu ersticken drohten. Und es gab keinen Ausgang!

Niemand konnte zu ihr dringen, und sie konnte sich niemand bemerkbar machen, so tief

vergraben unter einem Berg von Zeit.

Es kamen sogar Stunden, in denen sie sich wünschte, sie hätte die Musik nie gehört und die

Farben nie geschaut. Und dennoch, wäre sie vor die Wahl gestellt worden, sie hätte diese

Erinnerung um nichts in der Welt wieder hergegeben. Auch wenn sie daran sterben mußte.

Denn das war es, was sie nun erfuhr: Es gibt Reichtümer, an denen man zugrunde geht, wenn

man sie nicht mit anderen teilen kann. -Alle paar Tage lief Momo zu Gigis Villa und wartete

oft lange vor dem Gartentor. Sie hoffte, ihn noch einmal zu sehen. Sie war inzwischen mit

allem einverstanden. Sie wollte bei ihm bleiben, ihm zuhören und zu ihm sprechen, ganz

gleich, ob es so werden würde wie früher. Aber das Tor öffnete sich nie wieder.

Es waren nur einige Monate, die so vergingen — und doch war es die längste Zeit, die Momo

je durchlebte. Denn die wirkliche Zeit ist eben nicht nach der Uhr und dem Kalender zu

messen. Über eine solche Art von Einsamkeit kann man in Wahrheit auch nichts erzählen. Es

genügt vielleicht, nur dies eine noch zu sagen: Wenn Momo den Weg zu Meister Hora hätte

finden können – und sie versuchte es oft und oft — so wäre sie zu ihm hingegangen und hätte

ihn gebeten, ihr keine Zeit mehr zuzuteilen, oder ihr zu erlauben, bei ihm im Nirgend-Haus

für immer zu bleiben.

Aber ohne Kassiopeia konnte sie den Weg nicht wiederfinden. Und die war und blieb

verschwunden. Vielleicht war sie längst zu Meister Hora zurückgekehrt. Oder sie hatte sich

irgendwo auf der Welt verirrt. Jedenfalls kam sie nicht wieder. –

Statt dessen geschah etwas ganz anderes.

Eines Tages nämlich begegnete Momo in der Stadt drei Kindern, die

früher immer zu ihr gekommen waren. Es waren Paolo, Franco und das Mädchen Maria, das

früher immer das kleine Geschwisterchen Dedé herumgetragen hatte. Alle drei sahen ganz

verändert aus. Sie trugen eine Art grauer Uniform, und ihre Gesichter wirkten seltsam erstarrt

und leblos. Selbst als Momo sie jubelnd begrüßte, lächelten sie kaum. »Ich hab’ euch so

gesucht«, sagte Momo atemlos, »kommt ihr jetzt wieder zu mir?«

Die drei wechselten Blicke, dann schüttelten sie die Köpfe. »Aber morgen vielleicht, ja?«

fragte Momo. »Oder übermorgen?« Wiederum schüttelten die drei die Köpfe.

»Ach, kommt doch wieder!« bat Momo. »Früher seid ihr doch immer gekommen.«

»Früher !« antwortete Paolo, »aber jetzt ist alles anders. Wir dürfen unsere Zeit nicht mehr

nutzlos vertun.« »Das haben wir doch nie getan«, meinte Momo. »Ja, es war schön«, sagte

Maria, »aber darauf kommt es nicht an.« Die drei Kinder gingen eilig weiter. Momo lief

neben ihnen her. »Wo geht ihr denn jetzt hin?« wollte sie wissen. »In die Spielstunde«,

antwortete Franco. »Da lernen wir spielen.« »Was denn?« fragte Momo.

»Heute spielen wir Lochkarten«, erklärte Paolo, »das ist sehr nützlich, aber man muß höllisch

aufpassen.« »Und wie geht das?«

»Jeder von uns stellt eine Lochkarte dar. Jede Lochkarte enthält eine Menge verschiedener

Angaben: wie groß, wie alt, wie schwer, und so weiter. Aber natürlich nie das, was man

wirklich ist, sonst wäre es ja zu einfach. Manchmal sind wir auch nur lange Zahlen,

MUX/763/y zum Beispiel. Dann werden wir gemischt und kommen in eine Kartei. Und dann

muß einer von uns eine bestimmte Karte herausfinden. Er muß Fragen stellen, und zwar so,

daß er alle anderen Karten aussondert und nur die eine zum Schluß übrig bleibt. Wer es am

schnellsten kann, hat

gewonnen.«

»Und das macht Spaß?« fragte Momo etwas zweifelnd.

»Darauf kommt es nicht an«, meinte Maria ängstlich, »so darf man

nicht reden.«

»Aber worauf kommt es denn an?« wollte Momo wissen. »Darauf«, antwortete Paolo, »daß es

nützlich für die Zukunft ist.« Inzwischen waren sie vor dem Tor eines großen, grauen Hauses

angekommen. »Kinder-Depot« stand über der Tür. »Ich hätte euch so viel zu erzählen«, sagte

Momo. »Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder«, antwortete Maria

traurig.

Um sie herum waren noch mehr Kinder, die alle in das Tor hineingingen. Und alle sahen

ähnlich aus wie die drei Freunde von Momo. »Bei dir war’s viel schöner«, sagte Franco

plötzlich. »Da ist uns selber immer eine Menge eingefallen. Aber dabei lernt man nichts,

sagen sie.« »Könnt ihr denn nicht einfach ausreißen?« schlug Momo vor. Die drei schüttelten

die Köpfe und blickten sich um, ob es jemand gehört hatte.

»Ich hab’s schon ein paar Mal versucht, am Anfang«, flüsterte Franco, »aber es ist zwecklos.

Sie kriegen einen immer wieder.« »So darf man nicht reden«, meinte Maria, »schließlich wird

doch jetzt für uns gesorgt.«

Alle schwiegen und blickten vor sich hin. Schließlich faßte Momo sich ein Herz und fragte:

»Könntet ihr mich nicht vielleicht mitnehmen? Ich bin jetzt immer so allein.«

Doch nun geschah etwas Sonderbares: Ehe eines der Kinder antworten konnte, wurden sie

wie von einer riesigen Magnetkraft in das Haus hineingesaugt. Hinter ihnen schlug hallend

das Tor zu. Momo hatte es erschrocken beobachtet. Dennoch trat sie nach einer

Weile an das Tor heran, um zu klingeln oder zu klopfen. Sie wollte noch einmal bitten, daß

man sie mitspielen lassen sollte, ganz gleich was für Spiele es sein würden. Aber kaum hatte

sie einen Schritt auf das Tor zu gemacht, als sie vor Schreck erstarrte. Zwischen ihr und der

Tür stand plötzlich einer der grauen Herren.

»Zwecklos!« sagte er mit dünnem Lächeln, die Zigarre im Mundwinkel. »Versuche es gar

nicht erst! Es liegt nicht in unserem Interesse, daß du dort hineinkommst.«

»Warum?« fragte Momo. Sie fühlte wieder die eisige Kälte in sich aufsteigen.»Weil wir mit

dir etwas anderes vorhaben«, erklärte der Graue und paffte einen Rauchring, der sich wie eine

Schlinge um Momos Hals legte und nur langsam verging.

Leute gingen vorüber, aber sie hatten es alle sehr eilig. Momo zeigte mit dem Finger auf den

grauen Herrn und wollte um Hilfe rufen, aber sie brachte keinen Laut hervor. »Laß das doch!«

sagte der graue Herr und ließ ein freudloses, aschengraues Gelächter hören. »Kennst du uns

denn noch immer so wenig? Weißt du noch immer nicht, wie mächtig wir sind? Wir haben dir

alle deine Freunde genommen. Niemand kann dir mehr helfen. Und auch mit dir können wir

machen, was wir wollen. Aber wir verschonen dich, wie du siehst.«

»Warum?« brachte Momo mühsam hervor.

»Weil wir möchten, daß du uns einen kleinen Dienst erweist«, erwiderte der graue Herr.

»Wenn du vernünftig bist, kannst du viel dabei gewinnen für dich – und deine Freunde.

Möchtest du das?« »Ja«, flüsterte Momo.

Der graue Herr lächelte dünn. »Dann wollen wir uns heute um Mitternacht zur Besprechung

treffen.«

Momo nickte stumm. Aber der graue Herr war schon nicht mehr da. Nur der Rauch seiner

Zigarre hing noch in der Luft. Wo sie ihn treffen sollte, hatte er ihr nicht gesagt.

SIEBZEHNTES KAPITEL

Große Angst und größerer Mut

Momo fürchtete sich davor, ins alte Amphitheater zurückzukehren. Sicherlich würde der

graue Herr, der sie um Mitternacht treffen wollte, dort hinkommen.

Und bei dem Gedanken, dort ganz allein mit ihm zu sein, packte Momo das Entsetzen.

Nein, sie wollte ihm überhaupt nicht mehr begegnen, weder dort noch anderswo. Was auch

immer er ihr vorzuschlagen hatte – daß es in Wahrheit nichts Gutes für sie und ihre Freunde

sein würde, war ja mehr als deutlich gewesen. Aber wo konnte sie sich vor ihm verstecken?

Am sichersten schien es ihr mitten in der Menge anderer Menschen. Zwar hatte sie ja

gesehen, daß niemand auf sie und den grauen Herren geachtet hatte, aber wenn er ihr wirklich

etwas tun würde und sie um Hilfe schrie, dann würden die Leute doch wohl aufmerksam

werden und sie retten. Außerdem, so sagte sie sich, war sie mitten in einer dichten

Menschenmenge auch am schwersten zu finden. Den restlichen Nachmittag und den ganzen

Abend über bis tief in die Nacht hinein lief Momo also mitten im Gedränge der Passanten

über die belebtesten Straßen und Plätze, bis sie wie in einem großen Kreis wieder dorthin

zurückkam, wo sie diesen Weg begonnen hatte. Sie lief ihn ein zweites und ein drittes Mal.

Sie ließ sich einfach mittreiben in dem Strom der immer eiligen Menschenmassen. Aber sie

war ja schon den ganzen Tag über herumgelaufen, und allmählich schmerzten ihre Füße vor

Müdigkeit. Es wurde spät und später, und Momo marschierte halb im Schlaf dahin, immer

weiter, weiter, weiter . . .»Nur einen Augenblick ausruhen«, dachte sie endlich, »nur einen

winzigen Augenblick, dann kann ich wieder besser achtgeben . . .« Am Straßenrand stand

gerade ein kleiner, dreirädriger Lieferwagen, auf dessen Ladefläche allerlei Säcke und Kisten

lagen. Momo kletterte hinauf und lehnte sich gegen einen Sack, der angenehm weich war. Sie

zog die müden Füße hoch und steckte sie unter ihren Rock. Ach, das tat gut ! Sie seufzte

erleichtert, schmiegte sich gegen den Sack und war, ehe sie es selbst merkte, vor Erschöpfung

eingeschlafen. Wirre Träume suchten sie heim. Sie sah den alten Beppo, der seinen Besen als

Balancierstange benutzte, hoch über einem finsteren Abgrund auf einem Seil

dahinschwanken.

»Wo ist das andere Ende?« hörte sie ihn immer wieder rufen. »Ich kann das andere Ende nicht

finden!«

Und das Seil schien tatsächlich unendlich lang. Es verlor sich nach beiden Seiten in der

Dunkelheit.

Momo wollte Beppo so gerne helfen, aber sie konnte sich ihm nicht einmal bemerkbar

machen. Er war zu weit fort, zu hoch droben. Dann sah sie Gigi, der sich einen endlosen

Papierstreifen aus dem Munde zog. Er zog und zog immer weiter, aber der Papierstreifen

hörte nicht auf und riß auch nicht ab. Gigi stand schon auf einem ganzen Berg von

Papierstreifen. Und es schien Momo, als ob er sie flehend anblickte, als ob er keine Luft mehr

bekommen könne, wenn sie ihm nicht zu Hilfe käme.

Sie wollte zu ihm hinlaufen, aber ihre Füße verfingen sich in den Papierstreifen. Und je

heftiger sie sich zu befreien versuchte, desto mehr verwickelte sie sich darin.

Dann sah sie die Kinder. Sie waren alle ganz flach wie Spielkarten. Und in jede Karte waren

richtige Muster kleiner Löcher gestanzt. Die Karten wurden durcheinandergewirbelt, dann

mußten sie sich neu ordnen, und neue Löcher wurden in sie hineingestanzt. Die Kartenkinder

weinten lautlos, aber schon wurden sie wieder gemischt, und dabei fielen sie übereinander,

daß es knatterte und ratterte.

»Halt!« wollte Momo rufen und »aufhören!«, aber das Knattern und Rattern übertönte ihre

schwache Stimme. Und es wurde immer lauter und lauter, bis sie schließlich davon

aufwachte. Im ersten Augenblick wußte sie nicht mehr, wo sie sich befand, denn es war

dunkel um sie.

Doch dann fiel ihr wieder ein, daß sie sich auf den Lieferwagen gesetzt hatte. Und dieser

Wagen fuhr jetzt, und sein Motor machte solchen Lärm.

Momo wischte sich die Wangen ab, die noch naß von Tränen waren. Wo war sie überhaupt?

Der Wagen mußte wohl schon eine ganze Weile gefahren sein, ohne daß sie es gemerkt hatte,

denn er befand sich jetzt in einem Teil der Stadt, der um diese späte Nachtzeit wie

ausgestorben wirkte. Die Straßen waren menschenleer und die hohen Häuser dunkel. Der

Lieferwagen fuhr nicht sehr schnell, und Momo sprang ab, ehe sie sich’s recht überlegt hatte.

Sie wollte auf die belebten Straßen zurück, wo sie vor dem grauen Herren sicher zu sein

glaubte. Aber dann fiel ihr ein, was sie geträumt hatte, und sie blieb stehen. Das

Motorengeräusch verklang allmählich in den dunklen Straßen, und es wurde still.

Momo wollte nicht mehr fliehen. Sie war davongelaufen, in der Hoffnung, sich zu retten. Die

ganze Zeit hatte sie nur an sich, an ihr eigene Verlassenheit, an ihre eigene Angst gedacht !

Und dabei waren es doch in Wirklichkeit ihre Freunde, die in Not waren. Wenn es überhaupt

noch jemand gab, der ihnen Hilfe bringen konnte, dann war sie es. Mochte die Möglichkeit,

die grauen Herren dazu zu bewegen, ihre Freunde freizugeben, auch noch so winzig sein,

versuchen mußte sie es wenigstens.Als sie so weit gedacht hatte, fühlte sie plötzlich eine

seltsame Veränderung in sich. Das Gefühl der Angst und Hilflosigkeit war so groß geworden,

daß es plötzlich umschlug und sich ins Gegenteil verwandelte. Es war durchgestanden. Sie

fühlte sich nun so mutig und zuversichtlich, als ob keine Macht der Welt ihr etwas anhaben

könnte, oder vielmehr: es kümmerte sie überhaupt nicht mehr, was mit ihr geschehen

würde.

Jetzt wollte sie dem grauen Herren begegnen. Sie wollte es um jeden

Preis.

»Ich muß sofort zum alten Amphitheater«, sagte sie zu sich, »vielleicht ist es noch nicht zu

spät, vielleicht wartet er auf mich.« Aber das war nun leichter beschlossen als getan. Sie

wußte nicht, wo sie sich befand, und hatte nicht die leiseste Ahnung, in welche Richtung sie

überhaupt laufen mußte. Trotzdem lief sie aufs Geratewohl los. Sie lief immer weiter und

weiter durch die dunklen, totenstillen Straßen. Und da sie barfuß war, hörte sie nicht einmal

den Klang ihrer eigenen Schritte. Jedesmal, wenn sie in eine neue Straße einbog, hoffte sie,

irgend etwas zu entdecken, das ihr verriet, wie sie weiterlaufen mußte, irgendein Zeichen, das

sie wiedererkannte. Aber sie fand keines. Und fragen konnte sie auch niemand, denn das

einzige lebendige Wesen, das ihr begegnete, war ein magerer, schmutziger Hund, der in

einem Abfallhaufen nach Eßbarem suchte und ängstlich floh, als sie näher kam.

Schließlich gelangte Momo zu einem riesenhaften, leeren Platz. Es war keiner von den

schönen Plätzen, auf denen Bäume oder Brunnen stehen, sondern einfach eine weite, leere

Fläche. Nur am Rande hoben sich dunkel die Umrisse der Häuser gegen den nächtlichen

Himmel ab. Momo überquerte den Platz. Als sie eben dessen Mitte erreicht hatte, begann

ziemlich in der Nähe eine Turmuhr zu schlagen. Sie schlug viele Male, also war es nun

vielleicht schon Mitternacht. Wenn der

graue Herr jetzt im Amphitheater auf sie wartete, dachte Momo, dann konnte sie unmöglich

noch rechtzeitig hinkommen. Er würde unverrichteterdinge wieder fortgehen. Die

Möglichkeit, ihren Freunden zu helfen, würde vorüber sein – vielleicht ein für allemal! Momo

biß sich auf die Faust. Was sollte, was konnte sie jetzt noch tun? Sie wußte sich keinen Rat.

»Hier bin ich!« rief sie, so laut sie konnte, in die Dunkelheit hinein. Aber sie hatte keine

Hoffnung, daß der graue Herr sie hören würde. Doch darin hatte sie sich getäuscht.

Kaum war nämlich der letzte Glockenschlag verhallt, als gleichzeitig in allen Straßen, die

ringsum auf den großen, leeren Platz mündeten, ein schwacher Lichtschein auftauchte, der

rasch heller wurde. Und dann erkannte Momo, daß es die Scheinwerfer von vielen Autos

waren, die nun sehr langsam von allen Seiten auf die Mitte des Platzes zukamen, wo sie stand.

In welche Richtung sie sich auch wandte, von überallher strahlte ihr grelles Licht entgegen,

und sie mußte ihre Augen mit der Hand schützen. Sie kamen also!

Aber mit einem so gewaltigen Aufgebot hatte Momo nicht gerechnet. Für einen Augenblick

schwand ihr ganzer Mut wieder dahin. Und da sie eingekreist war und nicht weglaufen

konnte, verkroch sie sich, soweit das möglich war, in ihrer viel zu großen Männerjacke. Aber

dann dachte sie an die Blumen und an die Stimmen in der großen Musik, und im Nu fühlte sie

sich getröstet und gestärkt. Mit leise brummenden Motoren waren die Autos näher und näher

herangekommen. Schließlich blieben sie, Stoßstange neben Stoßstange, in einem Kreis

stehen, dessen Mittelpunkt Momo war. Dann stiegen die Herren aus. Momo konnte nicht

sehen, wie viele es waren, denn sie blieben im Dunkeln hinter den Scheinwerfern. Aber sie

spürte, daß viele Blicke auf sie gerichtet waren – Blicke, die nichts Freundliches enthielten.

Und ihr wurde kalt.Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort, Momo nicht und auch keiner

der grauen Herren.

»Das also«, hörte sie schließlich eine aschenfarbene Stimme, »ist dieses Mädchen Momo, das

uns einmal herausfordern zu können glaubte. Seht es euch jetzt an, dieses Häufchen

Unglück!« Diesen Worten folgte ein rasselndes Geräusch, das sich entfernt anhörte wie

vielstimmiges Gelächter.

»Vorsicht !« sagte eine andere aschenfarbene Stimme unterdrückt, »Sie wissen, wie

gefährlich uns die Kleine werden kann. Es hat keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen.« Momo

horchte auf.

»Na schön«, sagte die erste Stimme aus dem Dunkel hinter den Scheinwerfern, »versuchen

wir’s also mit der Wahrheit.« Wieder entstand eine lange Stille. Momo fühlte, daß die grauen

Herren sich davor fürchteten, die Wahrheit zu sagen. Es schien sie eine unvorstellbare

Anstrengung zu kosten. Momo hörte etwas, das wie ein Keuchen aus vielen Kehlen klang.

Endlich begann wieder einer zu reden. Die Stimme kam aus einer anderen Richtung, aber

klang genauso aschenfarben: »Reden wir also offen miteinander. Du bist allein, armes Kind.

Deine Freunde sind unerreichbar für dich. Es gibt niemand mehr, mit dem du deine Zeit teilen

kannst.

Das alles war unser Plan. Du siehst, wie mächtig wir sind. Es hat keinen Sinn, sich uns zu

widersetzen. Die vielen einsamen Stunden, was sind sie jetzt für dich? Ein Fluch, der dich

erdrückt, eine Last, die dich erstickt, ein Meer, das dich ertränkt, eine Qual, die dich versengt.

Du bist ausgesondert von allen Menschen.« Momo hörte zu und schwieg weiterhin.

»Einmal«, fuhr die Stimme fort, »kommt der Augenblick, wo du es nicht mehr erträgst,

morgen, in einer Woche, in einem Jahr. Uns ist es

gleich, wir warten einfach. Denn wir wissen, daß du einmal gekrochen

kommen wirst und sagst: Ich bin zu allem bereit, nur befreit mich von

dieser Last ! – Oder bist du schon so weit ? Du brauchst es nur zu sagen. «

Momo schüttelte den Kopf.

»Du willst dir nicht von uns helfen lassen?« fragte die Stimme eisig.

Eine Welle von Kälte kam von allen Seiten auf Momo zu, aber sie biß

die Zähne zusammen und schüttelte abermals den Kopf.

»Sie weiß, was die Zeit ist«, zischelte eine andere Stimme.

»Das beweist, daß sie wirklich beim Sogenannten war«, antwortete die

erste Stimme ebenso. Und dann fragte sie laut: »Kennst du Meister

Hora?«

Momo nickte.

»Und du warst tatsächlich bei ihm?«

Momo nickte wieder.

»Dann kennst du also die – Stunden-Blumen?«

Momo nickte zum dritten Mal. Oh, und wie gut sie sie kannte!

Wieder entstand eine längere Stille. Als die Stimme von neuem zu

reden anfing, kam sie abermals aus einer anderen Richtung.

»Du liebst deine Freunde, nicht wahr?«

Momo nickte.

»Und du würdest sie gern aus unserer Gewalt befreien?«

Wieder nickte Momo.

»Du könntest es, wenn du nur wolltest.«

Momo zog sich ihre Jacke ganz eng um den Leib, denn sie bebte an allen

Gliedern vor Kälte.

»Es würde dich wirklich nur eine Kleinigkeit kosten, deine Freunde zu

befreien. Wir helfen dir, und du hilfst uns. Das ist doch nicht mehr als

recht und billig.«

Momo blickte aufmerksam in die Richtung, aus welcher die Stimme

jetzt kam.»Wir möchten diesen Meister Hora nämlich auch gern einmal persönlich

kennenlernen, verstehst du? Aber wir wissen nicht, wo er wohnt. Wir wollen von dir nicht

mehr, als daß du uns zu ihm führst. Das ist alles. Ja, höre nur gut zu, Momo, damit du auch

sicher bist, daß wir vollkommen offen mit dir reden und es ehrlich meinen: Du bekommst

dafür deine Freunde zurück, und ihr könnt wieder euer altes, lustiges Leben führen. Das ist

doch ein lohnendes Angebot!« Jetzt tat Momo zum ersten Mal den Mund auf. Es kostete sie

Anstrengung zu sprechen, denn ihre Lippen waren wie eingefroren. »Was wollt ihr von

Meister Hora?« fragte sie langsam. »Wir wollen ihn kennenlernen«, antwortete die Stimme

scharf, und die Kälte nahm zu. »Damit laß dir genug sein.« Momo blieb stumm und wartete

  1. Unter den grauen Herren entstand eine Bewegung, sie schienen unruhig zu werden. »Ich

verstehe dich nicht«, sagte die Stimme, »denk doch an dich und deine Freunde ! Was machst

du dir Gedanken um Meister Hora. Das laß doch seine Sorge sein. Er ist alt genug, um für

sich selbst zu sorgen. Und außerdem – wenn er vernünftig ist und sich gütlich mit uns einigt,

dann werden wir ihm kein Haar krümmen. Andernfalls haben wir unsere Mittel, ihn zu

zwingen.« »Wozu?« fragte Momo mit blauen Lippen.

Plötzlich klang die Stimme nun schrill und überanstrengt, als sie antwortete: »Wir haben es

satt, uns die Stunden, Minuten und Sekunden der Menschen einzeln zusammenzuraffen. Wir

wollen die ganze Zeit aller Menschen. Die muß Hora uns überlassen!« Momo starrte entsetzt

ins Dunkel, woher die Stimme kam. »Und die Menschen?« fragte sie. »Was wird dann aus

denen?« »Menschen«, schrie die Stimme und überschlug sich,.»sind längst überflüssig. Sie

selbst haben die Welt so weit gebracht, daß für ihresgleichen kein Platz mehr ist. Wir werden

die Welt beherrschen!«

Die Kälte war jetzt so schrecklich, daß Momo nur noch mühsam die Lippen bewegen, aber

kein Wort mehr hervorbringen konnte. »Aber keine Sorge, kleine Momo«, fuhr die Stimme

nun plötzlich wieder leise und beinahe schmeichelnd fort, »du und deine Freunde, ihr seid

natürlich ausgenommen. Ihr werdet die letzten Menschen sein, die spielen und sich

Geschichten erzählen. Ihr mischt euch nicht mehr in unsere Angelegenheiten, und wir lassen

euch in Ruhe.« Die Stimme verstummte, begann aber gleich darauf aus anderer Richtung

wieder zu reden: »Du weißt, daß wir die Wahrheit gesagt haben. Wir werden unser

Versprechen halten. Und nun führst du uns zu Hora.«

Momo versuchte zu sprechen. Die Kälte raubte ihr fast die Besinnung. Nach mehreren

Versuchen brachte sie schließlich hervor : »Selbst wenn ich’s könnte, ich tat’s nicht.«

Von irgendwoher fragte die Stimme drohend : » Was heißt das, wenn du es könntest? Du

kannst es doch ! Du warst doch bei Hora, also weißt du den Weg!«

»Ich finde ihn nicht wieder«, flüsterte Momo, »ich hab’s versucht. Nur Kassiopeia weiß ihn.«

»Wer ist das?«

»Meister Horas Schildkröte.« »Wo ist sie jetzt?«

Momo, kaum noch bei Bewußtsein, stammelte : »Sie ist – mit mir – zurückgekommen — aber

– ich hab’ – sie – verloren.« Wie aus weiter Ferne hörte sie um sich her aufgeregtes

Stimmengewirr.

»Sofort Großalarm !« hörte sie rufen. »Man muß diese Schildkröte finden. Jede Schildkröte

muß geprüft werden! Diese Kassiopeia muß gefunden werden! Sie muß! Sie muß!« Die

Stimmen verklangen. Es wurde still. Langsam kam Momo wieder zu sich. Sie stand allein auf

dem großen Platz, über den nur noch ein kalter Windstoß hinfuhr, der wie aus einer großen

Leere zu kommen schien, ein aschengrauer Wind.

ACHTZEHNTES KAPITEL

Wenn man voraussieht ohne zurückzuschauen

Momo wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Die Turmuhr schlug manchmal, aber Momo

hörte es kaum. Nur sehr langsam kehrte die Wärme in ihre erstarrten Glieder zurück. Sie

fühlte sich wie gelähmt und konnte keinen Entschluß fassen.

Sollte sie nach Hause gehen ins alte Amphitheater und sich schlafen legen? Jetzt, nachdem

alle Hoffnung für sie und ihre Freunde ein für allemal dahin war? Denn nun wußte sie ja, daß

es nie wieder gut werden würde, nie wieder . . .

Dazu kam die Angst um Kassiopeia. Was, wenn die grauen Herren sie tatsächlich finden

würden ? Momo begann sich bittere Vorwürfe zu machen, daß sie die Schildkröte überhaupt

erwähnt hatte. Aber sie war so benommen gewesen, daß sie gar nicht dazu gekommen war,

sich all das zu überlegen.

»Und vielleicht«, versuchte Momo sich zu trösten, »ist Kassiopeia schon längst wieder bei

Meister Hora. Ja, hoffentlich sucht sie nicht mehr nach mir. Es wäre ein Glück für sie – und

für mich …» In diesem Augenblick berührte etwas sie zart an ihrem nackten Fuß. Momo

erschrak und beugte sich langsam hinunter. Vor ihr saß die Schildkröte ! Und in der

Dunkelheit leuchteten langsam die Buchstaben auf: »DA BIN ICH WIEDER.«

Ohne sich zu besinnen packte Momo sie und steckte sie unter ihre Jacke. Dann richtete sie

sich auf und horchte und spähte in die Dunkelheit ringsum, denn sie fürchtete, die grauen

Herren könnten noch in der Nähe sein. Aber alles blieb still. Kassiopeia strampelte heftig

unter der Jacke und versuchte sich zu be-freien. Momo hielt sie fest an sich gedrückt, guckte

aber zu ihr hinein

und flüsterte: »Bitte, halt dich ruhig!«

»WAS SOLL DER UNFUG?« stand leuchtend auf dem Panzer.

»Man darf dich nicht sehen!» raunte Momo.

Jetzt erschienen auf dem Rücken der Schildkröte die Worte: »FREUST

DICH WOHL GAR NICHT?«

»Doch«, sagte Momo und schluchzte fast, »doch Kassiopeia, und wie!«

Und sie küßte sie mehrmals auf die Nase.

Die Buchstaben auf dem Panzer der Schildkröte erröteten sichtlich, als

sie antwortete: »MUSS DOCH SEHR BITTEN!«

Momo lächelte.

»Hast du mich denn die ganze lange Zeit gesucht?«

»FREILICH.«

»Und wieso hast du mich ausgerechnet jetzt und ausgerechnet hier

gefunden?«

»WUSSTE ES VORHER«, war die Antwort.

Also hatte die Schildkröte offenbar all die Zeit davor nach Momo gesucht, obgleich sie wußte,

daß sie sie nicht finden würde? Dann hätte sie ja eigentlich gar nicht zu suchen brauchen? Das

war wieder so eines von Kassiopeias Rätseln, bei dem einem der Verstand stillstand, wenn

man zu lange darüber nachdachte. Aber jetzt war jedenfalls nicht der geeignete Augenblick,

über diese Frage zu grübeln. Flüsternd berichtete Momo nun der Schildkröte, was inzwischen

geschehen war.

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte sie zuletzt.

Kassiopeia hatte aufmerksam zugehört. Nun erschienen auf ihrem Panzer die Worte: »WIR

GEHEN zu HORA.«

»Jetzt?« rief Momo ganz entsetzt. »Aber sie suchen dich überall! Nur gerade hier sind sie

nicht. Ist es nicht gescheiter, hier zu bleiben?« Aber auf der Schildkröte stand nur: »ICH

WEISS, WIR GEHEN.«

»Dann«, sagte Momo, »werden wir ihnen geradewegs in die Arme laufen.«

»WIR BEGEGNEN KEINEM«, war Kassiopeias Antwort. Nun, wenn sie das so sicher wußte, dann

konnte man sich freilich darauf verlassen. Momo setzte Kassiopeia auf den Boden. Aber dann

dachte sie an den langen mühevollen Weg, den sie damals gegangen waren, und plötzlich

fühlte sie, daß ihre Kräfte dazu nicht mehr ausreichen würden.

»Geh allein, Kassiopeia«, sagte sie leise, »ich kann nicht mehr. Geh allein und grüß Meister

Hora schön von mir.« »ES IST GANZ NAH!« stand auf Kassiopeias Rücken. Momo las es und

schaute sich erstaunt um. Nach und nach dämmerte ihr, daß dies der armselige und wie

ausgestorben wirkende Stadtteil war, von dem aus sie damals in jene andere Gegend mit den

weißen Häusern und dem seltsamen Licht gelangt waren. Wenn es so war, dann konnte sie es

vielleicht tatsächlich noch bis zur Niemals-Gasse und zum Nirgend-Haus schaffen.

»Gut«, sagte Momo, »ich geh’ mit dir. Aber könnte ich dich nicht vielleicht tragen, damit es

schneller geht?« »LEIDER NEIN«, war auf Kassiopeias Rücken zu lesen. »Warum mußt du denn

unbedingt selbst krabbeln?« fragte Momo. Darauf erschien die rätselhafte Antwort: »DER WEG

IST IN MIR.« Damit setzte sich die Schildkröte in Bewegung, und Momo folgte ihr, langsam

und Schrittchen für Schrittchen.

Kaum waren das Mädchen und die Schildkröte in einer der einmündenden Gassen

verschwunden, als es rund um den Platz in den finsteren Schatten der Häuser lebendig wurde.

Ein knisterndes Rascheln ging über den Platz hin wie tonloses Kichern. Es waren die grauen

Herren, die die ganze Szene belauscht hatten. Ein Teil von ihnen war zurückgeblieben, um

heimlich das Mädchen zu beobachten. Sie hatten lange warten müssen, aber daß dieses

Warten einen solchen unverhofften Erfolg zeitigen würde, hatten sie selbst nicht geahnt. »Da

gehen sie !« flüsterte eine aschengraue Stimme. »Sollen wir zupacken?«

»Natürlich nicht«, raunte eine andere. »Wir lassen sie laufen.«

»Wieso?« fragte die erste Stimme. »Wir müssen doch die Schildkröte

fangen. Um jeden Preis, hieß es.«

»Stimmt. Und wozu brauchen wir sie?«

»Damit sie uns zu Hora führt.«

»Eben. Und genau das tut sie jetzt. Und wir brauchen sie nicht einmal

dazu zu zwingen. Sie tut es freiwillig – wenn auch nicht absichtlich.«

Wieder wehte tonloses Kichern durch die finsteren Schatten rund um

den Platz.

»Geben Sie sofort Nachricht an alle Agenten in der Stadt. Die Suche kann abgebrochen

werden. Alle sollen sich uns anschließen. Aber höchste Vorsicht, meine Herren ! Keiner von

uns darf sich ihnen in den Weg stellen. Man soll ihnen überall freie Bahn geben. Sie dürfen

keinem von uns begegnen. Und nun, meine Herren, lassen Sie uns in aller Ruhe unseren

beiden ahnungslosen Führern folgen!«

Und so kam es, daß Momo und Kassiopeia tatsächlich keinem einzigen ihrer Verfolger

begegneten. Denn wohin auch immer sie ihre Schritte wandten, die Verfolger wichen aus und

verschwanden rechtzeitig, um sich hinter dem Mädchen und der Schildkröte ihren Genossen

anzuschließen. Eine größer und größer werdende Prozession von grauen Herren, immer durch

Mauern und Häuserecken verborgen, folgte lautlos dem Weg der beiden Fliehenden. –

Momo war so müde wie noch nie in ihrem ganzen Leben zuvor. Manchmal glaubte sie, daß

sie im nächsten Augenblick einfach hinfallen und einschlafen würde. Aber dann zwang sie

sich noch zum nächsten Schritt und wieder zum nächsten. Und dann wurde es für ein kleines

Weilchen wieder ein wenig besser.

Wenn nur die Schildkröte nicht so schrecklich langsam gekrabbelt wäre! Aber daran war ja

nun nichts zu ändern. Momo schaute nicht mehr nach links und nach rechts, sondern nur noch

auf ihr eigenen Füße und auf Kassiopeia.

Nach einer Ewigkeit, wie es ihr vorkam, bemerkte sie, daß die Straße unter ihren Füßen

plötzlich heller wurde. Momo hob ihre Augenlider, die ihr schwer wie Blei zu sein schienen,

und blickte umher. Ja, sie waren endlich in den Stadtteil gelangt, in dem jenes Licht herrschte,

das nicht Morgen- noch Abenddämmerung war und wo alle Schatten in verschiedene

Richtungen fielen. Blendend weiß und unnahbar standen die Häuser mit den schwarzen

Fenstern. Und dort war auch wieder jenes seltsame Denkmal, das nichts darstellte als ein

riesengroßes Ei auf einem schwarzen Steinquader. Momo schöpfte Mut, denn nun konnte es

nicht mehr allzulange dauern, bis sie bei Meister Hora sein würden.

»Bitte«, sagte sie zu Kassiopeia, »können wir nicht ein bißchen schneller gehen?«

»JE LANGSAMER, DESTO SCHNELLER«, war die Antwort der Schildkröte. Sie krabbelte weiter,

eher noch langsamer als vorher. Und Momo bemerkte – wie schon beim vorigen Mal – daß sie

hier gerade dadurch schneller vorwärts kamen. Es war geradezu, als glitte die Straße unter

ihnen dahin, immer schneller, je langsamer sie beide gingen. Denn dies war das Geheimnis

jenes weißen Stadtteils: Je langsamer man voranschritt, desto schneller kam man vom Fleck.

Und je mehr man sich beeilte, desto langsamer kam man voran. Das .hatten die grauen Herren

damals, als sie Momo mit den drei Autos verfolgten, nicht gewußt. So war Momo ihnen

entkommen.Damals !

Aber jetzt war die Sache anders. Denn jetzt wollten sie das Mädchen und die Schildkröte ja

gar nicht einholen. Jetzt folgten sie den beiden genauso langsam wie diese gingen. Und so

entdeckten sie nun auch dieses Geheimnis. Langsam füllten sich die weißen Straßen hinter

den beiden mit dem Heer der grauen Herren. Und da diese nun wußten, wie man sich hier

bewegen mußte, gingen sie sogar noch etwas langsamer als die Schildkröte, und dadurch

holten sie auf und kamen näher und näher heran. Es war wie ein umgekehrter Wettlauf, ein

Wettlauf der Langsamkeit.

Kreuz und quer ging der Weg durch diese Traumstraßen, immer tiefer und tiefer hinein ins

Innere des weißen Stadtteils. Dann war die Ecke der Niemals-Gasse erreicht.

Kassiopeia war schon eingebogen und lief auf das Nirgend-Haus zu. Momo erinnerte sich,

daß sie in dieser Gasse nicht hatte weiterkommen können, bis sie sich umgedreht hatte und

rückwärts gegangen war. Und deshalb tat sie es jetzt wieder. Und nun blieb ihr fast das Herz

stehen vor Schreck. Wie eine graue, wandernde Mauer kamen die Zeit-Diebe heran, einer

neben dem anderen, die ganze Straßenbreite ausfüllend, und Reihe hinter Reihe, so weit man

sehen konnte.

Momo schrie auf, aber sie konnte ihr eigene Stimme nicht hören. Sie lief rückwärts in die

Niemals-Gasse hinein und starrte mit aufgerissenen Augen auf das nachfolgende Heer der

grauen Herren. Aber nun geschah abermals etwas Seltsames: Als die ersten der Verfolger in

die Niemals-Gasse einzudringen versuchten, lösten sie sich buchstäblich vor Momos Augen

in Nichts auf. Zuerst verschwanden ihre vorgestreckten Hände, dann die Beine und Körper

und schließlich auch die Gesichter, auf denen ein überraschter und entsetzter Ausdruck lag.

Aber nicht nur Momo hatte diesen Vorgang beobachtet, sondern natürlich auch die anderen

nachdrängenden grauen Herren. Die ersten stemmten sich gegen die Masse der

nachfolgenden, und für einen Augenblick entstand eine Art Handgemenge unter ihnen. Momo

sah ihre zornigen Gesichter und ihre drohend geschüttelten Fäuste. Aber keiner wagte es, ihr

weiter zu folgen.

Dann hatte Momo endlich das Nirgend-Haus erreicht. Die große schwere Tür aus grünem

Metall öffnete sich. Momo stürzte hinein, rannte durch den Gang mit den steinernen Figuren,

öffnete die ganz kleine Tür am anderen Ende, schlüpfte hindurch, lief durch den Saal mit den

unzähligen Uhren auf das kleine Zimmerchen in der Mitte der Standuhren zu, warf sich auf

das zierliche Sofa und versteckte ihr Gesicht unter einem Kissen, um nichts mehr zu sehen

und zu hören.

NEUNZEHNTES KAPITEL

Die Eingeschlossenen müssen sich entschließen

Eine leise Stimme sprach.

Langsam tauchte Momo aus der Tiefe ihres traumlosen Schlafes empor. Sie fühlte sich auf

wunderbare Weise erquickt und ausgeruht. »Das Kind kann nichts dafür«, hörte sie die

Stimme sagen, »aber du, Kassiopeia – warum hast du das nur getan?«

Momo schlug die Augen auf. Am Tischchen vor dem Sofa saß Meister Hora. Er blickte mit

kummervollem Gesicht vor sich auf den Boden nieder, wo die Schildkröte saß. »Konntest du

dir nicht denken, daß die Grauen euch folgen würden?«

»WEISS NUR VORHER«, erschien auf Kassiopeias Rücken, »DENKE NICHT NACH!«

Meister Hora schüttelte seufzend den Kopf. »Ach, Kassiopeia, Kassiopeia-, manchmal bist du

auch mir ein Rätsel!« Momo setzte sich auf.

»Ah, unsere kleine Momo ist aufgewacht ! « sagte Meister Hora freundlich. »Ich hoffe, du

fühlst dich wieder gut?«

»Sehr gut, danke«, antwortete Momo, »entschuldige bitte, daß ich hier einfach eingeschlafen

bin.«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, erwiderte Hora. »Das war ganz in Ordnung. Du

brauchst mir nichts zu erklären. Soweit ich nicht alles selbst durch meine Allsicht-Brille

beobachtet habe, hat Kassiopeia mir inzwischen berichtet.«

»Und was ist mit den grauen Herren?« fragte Momo. Meister Hora zog ein großes blaues

Taschentuch aus seiner Jacke. »Sie belagern uns. Sie haben das Nirgend-Haus von allen

Seiten umstellt. Das heißt, soweit sie eben herankommen können.«

»Zu uns hereinkommen«, fragte Momo, »können sie doch nicht?« Meister Hora schneuzte

sich. »Nein, das nicht. Du hast ja selbst gesehen, daß sie sich einfach in Nichts auflösen, wenn

sie die Niemals-Gasse betreten.«

»Wie kommt denn das?« wollte Momo wissen. »Das macht der Zeit-Sog«, antwortete Meister

Hora. »Du weißt ja, daß man dort alles rückwärts tun muß, nicht wahr? Rings um das

Nirgend-Haus läuft die Zeit nämlich umgekehrt. Sonst ist es doch so, daß die Zeit in dich

hineingeht. Dadurch, daß du immer mehr Zeit in dir hast, wirst du älter. Aber in der Niemals-

Gasse geht die Zeit aus dir heraus. Man kann sagen, daß du jünger geworden bist, während du

durch sie hindurchgegangen bist. Nicht viel, nur eben die Zeit, die du dazu gebraucht hast, sie

zu durchqueren.«

»Davon hab’ ich gar nichts gemerkt«, meinte Momo verwundert. »Nun ja«, erklärte Meister

Hora lächelnd, »für einen Menschen bedeutet das nicht so viel, weil er sehr viel mehr ist, als

bloß die Zeit, die in ihm steckt. Aber bei den grauen Herren ist das anders. Sie bestehen nur

aus gestohlener Zeit. Und die geht im Handumdrehen aus ihnen heraus, wenn sie in den Zeit-

Sog geraten, so wie die Luft aus einem geplatzten Luftballon. Nur bleibt vom Ballon

wenigstens noch die Hülle übrig, von ihnen aber gar nichts.« Momo dachte angestrengt nach.

»Könnte man dann«, fragte sie nach einer Weile, »nicht einfach alle Zeit umgekehrt laufen

lassen ? Nur ganz kurz, meine ich. Dann würden alle Leute ein bißchen jünger, das würde ja

nichts machen. Aber die Zeit-Diebe würden sich in Nichts auflösen.«

Meister Hora lächelte. »Das wäre freilich schön. Aber es geht leider nicht. Die beiden

Strömungen halten sich im Gleichgewicht. Wenn man die eine aufhebt, verschwindet auch die

andere. Dann gäbe es gar keine Zeit mehr … «Er hielt inné und schob seine Allsicht-Brille auf

die Stirn.

»Das heißt. . .«, murmelte er, stand auf und ging einige Male tief in

Gedanken in dem kleinen Zimmer auf und ab. Momo beobachtete ihn

gespannt, auch Kassiopeia verfolgte ihn mit den Augen.

Schließlich setzte er sich wieder und sah Momo prüfend an.

»Du hast mich da auf eine Idee gebracht«, sagte er, »aber es hängt nicht

allein von mir ab, ob sie auszuführen ist.«

Er wandte sich an die Schildkröte zu seinen Füßen: »Kassiopeia, meine

Teure! Was ist nach deiner Ansicht das Beste, das man während einer

Belagerung tun kann?«

»FRÜHSTÜCKEN!« erschien als Antwort auf deren Panzer. »Ja«, sagte Meister Hora. »Auch

keine schlechte Idee!«

Im gleichen Augenblick war der Tisch auch schon gedeckt. Oder war er es eigentlich schon

die ganze Zeit gewesen, und Momo hatte es nur bisher nicht bemerkt? Jedenfalls standen da

wieder die kleinen goldenen Täßchen und das ganze übrige goldschimmernde Frühstück: Die

Kanne mit dampfender Schokolade, der Honig, die Butter und die knusprigen Brötchen.

Momo hatte in der Zwischenzeit oft mit Sehnsucht an diese köstlichen Sachen zurückgedacht

und begann sofort mit Heißhunger zu schmausen. Und diesmal schmeckte es ihr fast noch

besser als beim ersten Mal. Übrigens griff jetzt auch Meister Hora herzhaft zu. »Sie wollen«,

sagte Momo nach einer Weile, mit vollen Backen kauend, »daß du ihnen die ganze Zeit aller

Menschen gibst. Aber das wirst du doch nicht tun?«

Nein, Kind«, antwortete Meister Hora, »das werde ich niemals tun. Die Zeit hat einmal

angefangen, und sie wird einmal enden, aber erst, wenn die Menschen sie nicht mehr

brauchen. Von mir werden die grauen Herren nicht den kleinsten Augenblick bekommen.«

»Aber sie sagen«, fuhrt Momo fort, »sie können dich dazu zwingen.«

»

»Ehe wir uns darüber weiter unterhalten«, sagte er sehr ernst, »möchte ich, daß du sie dir

selber ansiehst.«

Er nahm seine kleine goldene Brille ab und reichte sie Momo hinüber, die sie sich aufsetzte.

Zuerst war da wieder der Wirbel aus Farben und Formen, der sie schwindelig machte wie

beim ersten Mal. Aber diesmal ging es bald vorüber. Nach einer kleinen Weile schon hatten

sich ihre Augen auf die Allsicht eingestellt.

Und nun sah sie das Heer der Belagerer !

Schulter an Schulter standen die grauen Herren in einer unabsehbar langen Reihe

nebeneinander. Sie standen nicht nur vor der Niemals-Gasse, sondern weiter noch, immer

weiter in einem großen Kreis, der sich durch den Stadtteil mit den schneeweißen Häusern zog

und dessen Mittelpunkt das Nirgend-Haus war. Die Umzingelung war lückenlos. Aber dann

bemerkte Momo noch etwas anderes, etwas Befremdliches. Zuerst meinte sie nur, die Gläser

der Allsicht-Brille seien vielleicht beschlagen, oder sie könne noch immer nicht ganz deutlich

sehen, denn ein merkwürdiger Nebel ließ die Umrisse der grauen Herren nur verschwommen

erkennen.

Aber dann begriff sie, daß dieser Dunst nichts mit der Brille und nichts mit ihren Augen zu

tun hatte, sondern daß er dort draußen in den Straßen aufstieg. An manchen Stellen war er

schon dicht und undurchsichtig, an anderen begann er erst, sich zu bilden. Die grauen Herren

standen unbeweglich. Jeder hatte wie immer seinen steifen runden Hut auf dem Kopf, seine

Aktentasche in der Hand, und in seinem Mund qualmte die kleine graue Zigarre. Aber diese

Rauchwolken verteilten sich nicht, wie sie es sonst in gewöhnlicher Luft taten. Hier, wo sich

kein Windhauch regte, in dieser gläsernen Luft zog sich der Rauch in zähen Schleiern wie

Spinnweben dahin, kroch über die Straßen an den Fassaden der schneeweißen Häuser empor

und spannte sich in langen Fahnen von Vorsprung zu Vorsprung. Er ballte sich zu ekligen,

bläulich-grünen Schwaden, die sich langsam aber stetig immer höher übereinander türmten

und das Nirgend-Haus von allen Seiten wie mit einer unaufhaltsam wachsenden Mauer

umgaben.

Momo sah auch, daß ab und zu neue Herren ankamen und an Stelle anderer, die durch sie

abgelöst wurden, in die Reihe traten. Aber warum geschah dies alles? Welchen Plan

verfolgten die Zeit-Diebe? Sie nahm die Brille ab und schaute Meister Hora fragend an. »Hast

du genug gesehen?« fragte er. »Dann gib mir bitte die Brille wieder.«

Während er sie sich aufsetzte, fuhr er fort: »Du hast gefragt, ob sie mich zu etwas zwingen

können. Mich selbst können sie nicht erreichen, wie du nun weißt. Aber sie können den

Menschen einen Schaden zufügen, der viel schlimmer ist, als alles, was sie bis jetzt getan

haben. Und damit versuchen sie, mich zu erpressen.« »Etwas noch Schlimmeres?« fragte

Momo erschrocken. Meister Hora nickte. »Ich teile jedem Menschen seine Zeit zu. Dagegen

können die grauen Herren nichts tun. Sie können die Zeit, die ich aussende, auch nicht

aufhalten. Aber sie können sie vergiften.« »Die Zeit vergiften?« fragte Momo entgeistert.

»Mit dem Rauch ihrer Zigarren«, erklärte Meister Hora. »Hast du jemals einen von ihnen

ohne seine kleine graue Zigarre gesehen? Gewiß nicht, denn ohne sie könnte er nicht mehr

existieren.« »Was sind denn das für Zigarren?« wollte Momo wissen. »Du erinnerst dich an

die Stunden-Blumen«, sagte Meister Hora. »Ich habe dir damals gesagt, daß jeder Mensch

einen solchen goldenen Tempel der Zeit besitzt, weil jeder ein Herz hat. Wenn die Menschen

dort die grauen Herren einlassen, dann gelingt es denen, mehr und mehr von diesen Blüten an

sich zu reißen. Aber die Stunden-Blumen, die so herausgerissen sind aus dem Herzen eines

Menschen, können nicht

sterben, denn sie sind ja nicht wirklich vergangen. Sie können aber auch nicht leben, denn sie

sind ja von ihrem wirklichen Eigentümer getrennt. Sie streben mit allen Fasern ihres Wesens

zurück zu dem Menschen, dem sie gehören.« Momo hörte atemlos zu.

»Du mußt wissen, Momo, daß auch das Böse sein Geheimnis hat. Ich weiß nicht, wo die

grauen Herren die geraubten Stunden-Blumen aufbewahren. Ich weiß nur, daß sie diese durch

ihr eigene Kälte einfrieren, bis die Blüten hart sind wie gläserne Kelche. Dadurch werden sie

gehindert, zurückzukehren. Irgendwo tief unter der Erde müssen sich riesige Speicher

befinden, in welchen die ganze gefrorene Zeit liegt. Doch auch dort sterben die Stunden-

Blumen noch immer nicht.« Momos Wangen begannen vor Empörung zu glühen. »Aus

diesen Vorratskellern versorgen die grauen Herren sich immerzu. Sie reißen den Stunden-

Blumen die Blütenblätter aus, lassen sie verdorren, bis sie grau und hart werden, und daraus

drehen sie sich ihre kleinen Zigarren. Aber bis zu diesem Augenblick ist noch immer ein Rest

von Leben in den Blättern. Lebendige Zeit ist jedoch für die grauen Herren unbekömmlich.

Darum zünden sie die Zigarren an und rauchen sie. Denn erst in diesem Rauch ist die Zeit nun

wirklich ganz und gar tot. Und von solcher toten Menschenzeit fristen sie ihr Dasein.« Momo

war aufgestanden. »Ach!« sagte sie, »soviel tote Zeit. . .« »Ja, diese Mauer von Rauch, die sie

dort draußen rund um das Nirgend-Haus wachsen lassen, besteht aus toter Zeit. Noch ist

genügend freier Himmel da, noch kann ich den Menschen ihre Zeit unversehrt zusenden. Aber

wenn die finstere Qualmglocke sich rundherum und über uns geschlossen haben wird, dann

mischt sich in jede Stunde, die von mir ausgeschickt wird, etwas von der abgestorbenen,

gespenstischen Zeit der grauen Herren. Und wenn die Menschen die empfangen, dann werden

sie krank davon, todkrank sogar.«Momo starrte Meister Hora fassungslos an. Leise fragte sie:

»Und was ist das für eine Krankheit?«

»Am Anfang merkt man noch nicht viel davon. Man hat eines Tages keine Lust mehr, irgend

etwas zu tun. Nichts interessiert einen, man ödet sich. Aber diese Unlust verschwindet nicht

wieder, sondern sie bleibt und nimmt langsam immer mehr zu. Sie wird schlimmer von Tag

zu Tag, von Woche zu Woche. Man fühlt sich immer mißmutiger, immer leerer im Innern,

immer unzufriedener mit sich und der Welt. Dann hört nach und nach sogar dieses Gefühl auf,

und man fühlt gar nichts mehr. Man wird ganz gleichgültig und grau, die ganze Welt kommt

einem fremd vor und geht einen nichts mehr an. Es gibt keinen Zorn mehr und keine

Begeisterung, man kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr trauern, man verlernt das

Lachen und das Weinen. Dann ist es kalt geworden in einem, und man kann nichts und

niemand mehr lieb haben. Wenn es einmal soweit gekommen ist, dann ist die Krankheit

unheilbar. Es gibt keine Rückkehr mehr. Man hastet mit leerem, grauem Gesicht umher, man

ist genauso geworden wie die grauen Herren selbst. Ja, dann ist man einer der ihren. Diese

Krankheit heißt: Die tödliche Langeweile.« Momo überlief ein Schauder.

»Und wenn du ihnen also nicht die Zeit aller Menschen gibst«, fragte sie, »dann machen sie,

daß alle Menschen so werden wie sie?« »Ja«, antwortete Meister Hora, »damit wollen sie

mich erpressen.« Er stand auf und wandte sich ab.

»Ich habe bis jetzt darauf gewartet, daß die Menschen selbst sich von diesen Plagegeistern

befreien würden. Sie hätten es gekonnt, denn sie selbst haben ihnen ja auch zum Dasein

verholfen. Aber nun kann ich nicht länger warten. Ich muß etwas tun. Aber ich kann es nicht

allein.« Er blickte Momo an. »Willst du mir helfen?« »Ja«, flüsterte Momo.

»Ich muß dich in eine Gefahr schicken, die gar nicht zu ermessen ist«, sagte Meister Hora.

»Und es wird von dir abhängen, Momo, ob die Welt für immer still stehen wird, oder ob sie

von neuem beginnen wird, zu leben. Willst du es wirklich wagen?« »Ja«, wiederholte Momo,

und diesmal klang ihre Stimme fest. »Dann«, sagte Meister Hora, »gib jetzt genau acht auf

das, was ich dir sage, denn du wirst ganz und gar auf dich gestellt sein, und ich werde dir

nicht mehr helfen können. Ich nicht und niemand sonst.« Momo nickte und schaute Meister

Hora mit äußerster Aufmerksamkeit an.

»Du mußt wissen«, begann er, »daß ich niemals schlafe. Wenn ich einschliefe, würde im

gleichen Augenblick alle Zeit aufhören. Die Welt würde still stehen. Wenn es aber keine Zeit

mehr gibt, dann können die grauen Herren auch niemand mehr bestehlen. Zwar können sie

noch eine Weile weiterexistieren, da sie ja große Vorräte an Zeit besitzen. Aber wenn diese

verbraucht sind, müssen sie sich in Nichts auflösen.« »Aber dann«, meinte Momo, »ist es

doch ganz einfach!« »Leider ist es eben nicht so einfach, sonst brauchte ich ja nicht deine

Hilfe, Kind. Wenn es nämlich keine Zeit mehr gibt, dann kann ich ja auch nicht wieder

aufwachen. Und damit bliebe die Welt still und starr für alle Ewigkeit. Aber es liegt in meiner

Macht, dir, Momo, dir ganz allein eine Stunden-Blume zu geben. Freilich nur eine einzige,

weil ja immer nur eine blüht. Wenn also alle Zeit auf der Welt aufgehört hat, so hättest du

noch eine Stunde.« »Dann kann ich dich doch wecken!« sagte Momo. »Damit allein«,

versetzte Meister Hora, »hätten wir nichts erreicht, denn die Vorräte der grauen Herren sind

viel, viel größer. In einer einzigen Stunde hätten sie davon so gut wie nichts verbraucht. Sie

wären also danach noch immer da. Die Aufgaben, die du lösen müßtest, sind viel schwerer !

Sobald die grauen Herren merken, daß die Zeit aufgehört hat – und das werden sie sehr schnell

merken, weil ihr Zigarren-Nachschub ausbleiben wird – werden sie die Belagerung abbrechen

und zu ihren Zeitvorräten streben. Und dorthin mußt du ihnen folgen, Momo. Wenn du ihr

Versteck gefunden hast, dann mußt du sie daran hindern, an ihre Zeitvorräte zu kommen.

Sobald ihre Zigarren zu Ende sind, geht es auch mit ihnen zu Ende. Aber danach bleibt noch

etwas zu tun, und das wird vielleicht von allem das Schwerste sein. Wenn der letzte Zeit-Dieb

verschwunden ist, dann mußt du die ganze geraubte Zeit befreien. Denn nur, wenn diese

zurückkehrt zu den Menschen, wird die Welt aufhören, still zu stehen, und ich selbst kann

wieder aufwachen. Und für alles das bleibt dir nur eine einzige Stunde.« Momo sah Meister

Hora ratlos an. Mit einem solchen Berg von Schwierigkeiten und Gefahren hatte sie nicht

gerechnet. »Willst du es trotzdem versuchen?« fragte Meister Hora. »Es ist die einzige und

letzte Möglichkeit.« Momo schwieg.

Es schien ihr unmöglich, daß sie das schaffen konnte. »ICH GEH MIT DIR!« las sie plötzlich auf

Kassiopeias Rücken. Was konnte die Schildkröte ihr bei all dem helfen ! Und doch war es ein

winziger Hoffnungsstrahl für Momo. Die Vorstellung, nicht ganz allein zu sein, machte ihr

Mut. Es war zwar ein Mut ohne jeden vernünftigen Grund, aber er bewirkte, daß sie sich auf

einmal entscheiden konnte.

»Ich will es versuchen«, sagte sie entschlossen. Meister Hora blickte sie lange an und begann

zu lächeln. »Vieles wird leichter sein, als du jetzt glaubst. Du hast die Stimmen der Sterne

gehört. Du mußt keine Angst haben.«

Dann wandte er sich der Schildkröte zu und fragte: »Und du, Kassiopeia, willst also

mitgehen?« »NATÜRLICH !« stand auf dem Panzer. Die Schrift verschwand, und es

erschienen die Worte: »JEMAND MUSS DOCH AUF SIE AUFPASSEN!« Meister Hora und Momo

lächelten sich an. »Kriegt sie auch eine Stunden-Blume?« fragte Momo. »Kassiopeia braucht

das nicht«, erklärte Meister Hora und kraulte die Schildkröte zärtlich am Hals, »sie ist ein

Wesen von außerhalb der Zeit. Sie trägt ihre eigene kleine Zeit in sich selbst. Sie könnte auch

über die Welt krabbeln, wenn alles für immer still stünde.« »Gut«, sagte Momo, in der nun

plötzlich der Tatendrang erwachte, »und was sollen wir jetzt tun?«

»Jetzt«, antwortete Meister Hora, »wollen wir Abschied nehmen.« Momo schluckte, dann

fragte sie leise: »Werden wir uns denn nicht mehr wiedersehen?«

»Wir werden uns wiedersehen, Momo«, entgegnete Meister Hora, »und bis dahin wird jede

Stunde deines Lebens dir einen Gruß von mir bringen. Denn wir bleiben doch Freunde, nicht

wahr?« »Ja«, sagte Momo und nickte.

»Ich werde nun gehen«, fuhr Meister Hora fort, »und du darfst mir nicht folgen und auch

nicht fragen, wohin ich gehe. Denn mein Schlaf ist kein gewöhnlicher Schlaf, und es ist

besser, wenn du nicht dabei bist. Nur eines noch: Sowie ich fort bin, mußt du sogleich die

beiden Türen öffnen, die kleine, auf der mein Name steht, und die große aus grünem Metall,

die auf die Niemals-Gasse hinausführt. Denn sobald die Zeit aufhört, steht alles still, und auch

diese Türen sind durch keine Macht der Welt mehr zu bewegen; Hast du alles gut verstanden

und behalten, mein Kind?«

»Ja«, sagte Momo, »aber woran soll ich erkennen, daß die Zeit aufgehört hat?«

»Sei unbesorgt, du wirst es bemerken.«

Meister Hora stand auf, und auch Momo erhob sich. Er strich ihr leise mit der Hand über

ihren struppigen Haarschopf.»Leb wohl, kleine Momo«, sagte er, »es war eine große Freude

für mich, daß du auch mir zugehört hast.«

»Ich werde allen von dir erzählen«, antwortete Momo, »später.« Und nun sah Meister Hora

plötzlich wieder unbegreiflich alt aus, ganz wie damals, als er sie in den goldenen Tempel

getragen hatte, alt wie ein Felsenberg oder ein uralter Baum.

Er wandte sich ab und ging rasch aus dem kleinen Zimmer, das aus Uhrenkästen gebildet war.

Momo hörte seine Schritte immer ferner und ferner, und dann waren sie von dem Ticken der

vielen Uhren nicht mehr zu unterscheiden. Vielleicht war er in dieses Ticken hineingegangen.

Momo hob Kassiopeia hoch und drückte sie fest an sich. Ihr größtes Abenteuer hatte

unwiderruflich begonnen.

ZWANZIGSTES KAPITEL

Die Verfolgung der Verfolger

Als erstes ging Momo nun hin und öffnete die kleine innere Tür, auf

der Meister Horas Name stand. Dann lief sie geschwind durch den

Gang mit den großen Steinfiguren und machte auch die äußere große

Tür aus grünem Metall auf. Sie mußte all ihre Kraft aufwenden, denn

die riesigen Torflügel waren sehr schwer.

Als sie damit fertig war, lief sie in den Saal mit den unzähligen Uhren

zurück und wartete, Kassiopeia auf dem Arm, was nun geschehen

würde.

Und dann geschah es!

Es gab plötzlich eine Art Erschütterung, die aber nicht den Raum beben

machte, sondern die Zeit, ein Zeit-Beben sozusagen. Es gibt keine

Worte dafür, wie sich das anfühlte. Dieses Ereignis wurde von einem

Klang begleitet, wie ihn zuvor noch nie ein Mensch gehört hat. Es war

wie ein Seufzen, das aus der Tiefe von Jahrhunderten kam.

Und dann war alles vorüber.

Im gleichen Augenblick hörte das vielstimmige Ticken und Schnarren

und Klingen und Schlagen der unzähligen Uhren ganz plötzlich auf.

Die schwingenden Perpendikel blieben stehen, wie sie eben standen.

Nichts, gar nichts regte sich mehr. Und eine Stille breitete sich aus, so

vollkommen, wie sie nie und nirgends zuvor auf der Welt geherrscht

hatte. Die Zeit hatte aufgehört.

Und Momo wurde gewahr, daß sie in ihrer Hand eine wunderbare, sehr

große Stunden-Blume trug. Sie hatte nicht gefühlt, wie diese Blume in

ihre Hand hineingekommen war. Sie war einfach ganz plötzlich da, als

sei sie immer schon da gewesen.

Vorsichtig machte Momo einen Schritt. Tatsächlich, sie konnte sich bewegen, mühelos wie

immer. Auf dem Tischchen standen noch die Reste des Frühstücks. Momo setzte sich auf

eines der Polsterstühlchen, aber die Polster waren jetzt hart wie Marmelstein und gaben nicht

mehr nach. In ihrer Tasse war noch ein Schluck Schokolade, aber das Täßchen war nicht mehr

von der Stelle zu bewegen. Momo wollte den Finger in die Flüssigkeit tauchen, aber sie war

hart wie Glas. Das gleiche war mit dem Honig. Sogar die Brotkrümchen, die auf dem Teller

lagen, waren vollkommen unbeweglich. Nichts, nicht die winzigste Kleinigkeit konnte jetzt

mehr verändert werden, wo es keine Zeit mehr gab. Kassiopeia strampelte, und Momo

schaute sie an. »ABER DEINE ZEIT VERLIERST DU!« stand auf ihrem Rückenpanzer. Um

Himmels willen, ja ! Momo raffte sich auf. Sie lief durch den Saal, schlüpfte durch das kleine

Türchen, lief weiter durch den Gang und spähte bei der großen Tür um die Ecke und fuhr im

gleichen Augenblick zurück. Ihr Herz begann rasend zu klopfen. Die Zeit-Diebe liefen gar

nicht fort! Im Gegenteil, sie kamen durch die Niemals-Gasse, in der ja nun auch die

rückwärtslaufende Zeit aufgehört hatte, auf das Nirgend-Haus zu ! Das war im Plan nicht

vorgesehen gewesen ! Momo rannte zurück in den großen Saal und versteckte sich, mit

Kassiopeia im Arm, hinter einer großen Standuhr. »Das fängt ja schon gut an«, murmelte sie.

Dann hörte sie die Schritte der grauen Herren draußen im Gang hallen. Einer nach dem

anderen zwängte sich durch das kleine Türchen, bis ein ganzer Trupp von ihnen im Saal

stand. Sie schauten sich um. »Eindrucksvoll!« sagte einer von ihnen. »Das ist also unser neues

Heim.«

»Das Mädchen Momo hat uns die Tür geöffnet«, sagte eine andere aschengraue Stimme, »ich

habe es genau beobachtet. Ein vernünftiges Kind! Ich bin gespannt, wie sie es angestellt hat,

den Alten herumzukriegen.«

Und eine dritte, ganz ähnliche Stimme antwortete: »Nach meiner Ansicht hat der Sogenannte

selbst klein beigegeben. Denn daß der Zeit-Sog in der Niemals-Gasse ausgesetzt hat, kann nur

bedeuten, daß er ihn abgestellt hat. Er hat also eingesehen, daß er sich uns fügen muß. Jetzt

werden wir kurzen Prozeß mit ihm machen. Wo steckt er denn?« Die grauen Herren sahen

sich suchend um, dann sagte plötzlich einer von ihnen, und seine Stimme klang noch eine

Spur aschenfarbener: »Da stimmt was nicht, meine Herren ! Die Uhren ! Sehen Sie sich doch

nur die Uhren an! Sie stehen alle. Sogar die Sanduhr hier.« »Er hat sie eben angehalten«,

meinte ein anderer unsicher. »Eine Sanduhr kann man nicht anhalten!« rief der erste. »Und

doch, sehen Sie nur, meine Herren, der rinnende Sand ist mitten im Fall stehengeblieben !

Man kann die Uhr auch nicht bewegen ! Was bedeutet das?«

Noch während er redete, klangen laufende Schritte aus dem Gang herein, dann quetschte sich

ein weitere grauer Herr aufgeregt gestikulierend durch die kleine Tür und rief: »Soeben ist

Nachricht unserer Agenten aus der Stadt gekommen. Ihre Autos stehen. Alles steht. Die Welt

steht still. Es ist unmöglich, irgendeinem Menschen noch das kleinste bißchen Zeit zu

entreißen. Unser gesamter Nachschub ist zusammengebrochen ! Es gibt keine Zeit mehr !

Hora hat die Zeit abgestellt!«

Einen Augenblick herrschte Totenstille. Dann fragte einer: »Was sagen Sie? Unser

Nachschub ist zusammengebrochen? Aber was wird dann aus uns, wenn unsere mitgeführten

Zigarren verbraucht sind?« »Das wissen Sie selbst, was dann aus uns wird!« schrie ein

anderer. »Das ist eine fürchterliche Katastrophe, meine Herren!« Und nun schrien plötzlich

alle durcheinander: »Hora will uns vernichten ! – Wir müssen sofort die Belagerung

abbrechen ! – Wir müssen versuchen, zu unseren Zeit-Speichern zu kommen! – Ohne Wagen?

Das können wir nicht rechtzeitig schaffen! Meine Zigarren reichen nur noch für

siebenundzwanzig Minuten! – Meine für achtundvierzig! -Dann geben Sie her! – Sind Sie

verrückt? – Rette sich, wer kann!« Alle waren auf das kleine Türchen zugerannt und drängten

gleichzeitig hinaus. Momo konnte aus ihrem Versteck beobachten, wie sie sich in ihrer Panik

gegenseitig wegboxten, schoben und zogen und immer heftiger in ein Handgemenge gerieten.

Jeder wollte vor dem anderen hinaus und kämpfte um sein graues Leben. Sie schlugen sich

die Hüte von den Köpfen, sie rangen miteinander und rissen sich gegenseitig die kleinen

grauen Zigarren aus den Mündern. Und jeder, dem das widerfuhr, schien plötzlich alle Kraft

zu verlieren. Er stand da, die Hände ausgestreckt, mit einem greinenden, angstvollen

Ausdruck im Gesicht, wurde rasch immer durchsichtiger und verschwand zuletzt. Nichts blieb

von ihm übrig, nicht einmal sein Hut.

Schließlich waren nur noch drei der grauen Herren im Saal, und denen gelang es nun doch,

nacheinander durch das kleine Türchen hinauszuschlüpfen und davonzukommen.

Momo, unter einem Arm die Schildkröte, in der anderen Hand die Stunden-Blume, lief hinter

ihnen her. Jetzt kam alles darauf an, daß sie die grauen Herren nicht mehr aus den Augen

verlor. Als sie aus dem großen Tor trat, sah sie, daß die Zeit-Diebe schon bis zum Anfang der

Niemals-Gasse gelaufen waren. Dort standen in den Rauchschwaden andere Gruppen von

grauen Herren, die aufgeregt gestikulierend aufeinander einredeten.

Als sie die aus dem Nirgend-Haus Gekommenen rennen sahen, begannen sie ebenfalls zu

rennen, andere schlössen sich den Fliehenden an, und binnen kurzem befand sich das ganze

Heer Hals über Kopf auf dem Rückzug. Eine schier endlose Karawane grauer Herren rannte

stadteinwärts durch die seltsame Traumgegend mit den schneeweißen Häusern und den

verschieden fallenden Schatten. Durch das Verschwinden

der Zeit hatte nun natürlich auch hier die geheimnisvolle Umkehrung von schnell und

langsam aufgehört.

Der Zug der grauen Herren führte vorbei an dem großen Ei-Denkmal und weiter bis dorthin,

wo die ersten gewöhnlichen Häuser standen, jene grauen, verfallenen Mietskasernen, in denen

die Menschen wohnten, die eben am Rande der Zeit lebten. Aber auch hier war nun alles starr.

In gebührendem Abstand hinter den letzten Nachzüglern folgte Momo. Und so begann nun

eine umgekehrte Jagd durch die große Stadt, eine Jagd, bei welcher die riesige Schar der

grauen Herren floh und ein kleines Mädchen mit einer Blume in der Hand und einer

Schildkröte unter dem Arm sie verfolgte.

Aber wie sonderbar sah diese Stadt nun aus ! Auf den Fahrbahnen standen die Autos Reihe

neben Reihe, hinter den Steuerrädern saßen bewegungslos die Fahrer, die Hände an der

Schaltung oder auf der Hupe (einer tippte sich gerade mit dem Finger an die Stirn und starrte

wütend zu seinem Nachbarn hinüber), Radfahrer, die den Arm ausgestreckt hielten, um zu

zeigen, daß sie abbiegen wollten, und auf den Gehsteigen all die Fußgänger, Männer, Frauen,

Kinder, Hunde und Katzen vollkommen reglos und starr, sogar der Rauch aus den

Auspuffrohren. Auf den Straßenkreuzungen waren die Verkehrspolizisten, ihre Trillerpfeife

im Mund, mitten im Winken stehen geblieben. Ein Schwarm Tauben schwebte über einem

Platz unbeweglich in der Luft. Hoch über allem stand ein Flugzeug wie gemalt am Himmel.

Das Wasser der Springbrunnen sah aus wie Eis. Blätter, die von Bäumen fielen, lagen reglos

mitten in der Luft. Und ein kleiner Hund, der gerade ein Bein an einem Lichtmast hob, stand,

als wäre er ausgestopft. Mitten durch diese Stadt, die leblos war wie eine Fotografie, rannten

und jagten die grauen Herren. Und Momo immer hinterdrein, doch immer vorsichtig darauf

bedacht, von den Zeit-Dieben nicht bemerkt zu werden. Aber die achteten sowieso auf nichts

mehr, denn ihre Flucht gestaltete sich immer schwieriger und anstrengender. Sie waren ja

nicht daran gewöhnt, so große Strecken im Laufschritt zurückzulegen. Sie keuchten und

rangen nach Atem. Dabei mußten sie immer noch ihre kleinen grauen Zigarren, ohne die sie ja

verloren waren, im Mund behalten. Manch einem entglitt die seine im Laufen, und ehe er sie

noch auf dem Boden wiederfinden konnte, löste er sich bereits auf.

Aber nicht nur diese äußeren Umstände machten ihre Flucht immer beschwerlicher, sondern

mehr und mehr drohte jetzt schon Gefahr von seilen der eigenen Leidensgenossen. Manche

nämlich, deren eigene Zigarren zu Ende brannten, rissen in der Verzweiflung einfach einem

anderen die seine aus dem Mund. Und so verringerte sich ihre Anzahl langsam, aber ständig.

Diejenigen, die noch einen kleinen Vorrat von Zigarren in ihren Aktentaschen trugen, mußten

sehr achtgeben, daß die anderen nichts davon merkten, sonst stürzten sich die, welche keine

mehr hatten, auf die Reicheren und versuchten, ihnen ihre Schätze zu entreißen. Es gab wilde

Schlägereien. Ganze Haufen von ihnen warfen sich aufeinander, um etwas von den Vorräten

zu grapschen. Dabei rollten die Zigarren über die Straße und wurden im Tumult zertreten. Die

Angst, von der Welt verschwinden zu müssen, hatte die grauen Herren vollkommen kopflos

gemacht.

Und noch etwas bereitete ihnen immer zunehmende Schwierigkeiten, je weiter stadteinwärts

sie kamen. An manchen Stellen der großen Stadt stand die Menschenmenge so dicht, daß sich

die grauen Herren nur mühsam zwischen den Leuten durchschieben konnten, als seien diese

Bäume in einem dichten Wald. Momo, die ja klein und schmal war, hatte es da natürlich

bedeutend leichter. Aber selbst ein Flaumfederchen, das reglos in der Luft hing, war so

unbeweglich, daß die

grauen Herren sich fast die Köpfe daran einschlugen, wenn sie aus Versehen dagegen rannten.

Es war ein langer Weg, und Momo hatte keine Ahnung, wie lang er noch sein würde. Besorgt

blickte sie auf ihre Stunden-Blume. Aber die war inzwischen erst voll aufgeblüht. Noch

bestand also kein Grund zur Sorge.

Doch dann geschah etwas, was Momo augenblicklich alles andere vergessen ließ: Sie

erblickte in einer kleinen Seitenstraße Beppo Straßenkehrer !

»Beppo!« schrie sie, außer sich vor Freude, und rannte zu ihm hin. »Beppo, ich hab’ dich

überall gesucht! Wo warst du denn die ganze Zeit? Warum bist du nie gekommen? Ach,

Beppo, lieber Beppo!« Sie wollte ihm um den Hals fallen, aber sie prallte von ihm ab, als ob

er aus Eisen wäre. Momo hatte sich ziemlich weh getan, und die Tränen schössen ihr in die

Augen. Schluchzend stand sie vor ihm und schaute ihn an.

Seine kleine Gestalt wirkte noch gebückter als früher. Sein gutes Gesicht war ganz schmal

und ausgezehrt und sehr blaß. Um das Kinn war ihm ein weißer, struppiger Stoppelbart

gewachsen, denn zum Rasieren hatte er sich keine Zeit mehr genommen. In den Händen hielt

er einen alten Besen, der schon ganz abgenützt war vom vielen Kehren. So stand er da, reglos

wie alles andere, und schaute durch seine kleine Brille vor sich auf den Schmutz der Straße.

Jetzt endlich hatte Momo ihn also gefunden, jetzt, wo es gar nichts mehr half, weil sie sich

ihm nicht mehr bemerkbar machen konnte. Und vielleicht würde es das letzte Mal sein, daß

sie ihn sah. Wer konnte wissen, wie alles ausgehen würde. Wenn es schlecht ausging, würde

der alte Beppo in alle Ewigkeit so hier stehen. Die Schildkröte zappelte in Momos Arm.

»WEITER!« stand auf ihrem Panzer.Momo rannte auf die Hauptstraße zurück und erschrak.

Keiner der Zeit-Diebe war mehr zu sehen ! Momo lief ein Stück in der Richtung, in welcher

vorher die grauen Herren geflüchtet waren, aber vergebens. Sie hatte ihre Spur verloren !

Ratlos blieb sie stehen. Was sollte sie nun tun? Fragend blickte sie auf Kassiopeia.

»DU FINDEST SIE, LAUF WEITER!« lautete der Rat der Schildkröte. Nun, wenn Kassiopeia

vorherwußte, daß sie die Zeit-Diebe finden würde, dann war es ja auf jeden Fall richtig, ganz

gleich, welchen Weg Momo einschlug.

Sie lief also einfach weiter, wie es ihr gerade in den Sinn kam, mal links, mal rechts, mal

geradeaus.

Inzwischen war sie in jenen Teil am nördlichen Rande der großen Stadt gekommen, wo die

Neubauviertel mit den immer gleichen Häusern und den schnurgeraden Straßen sich bis zum

Horizont dehnten. Momo lief weiter und weiter, aber da ja alle Häuser und Straßen einander

vollkommen glichen, hatte sie bald das Gefühl, gar nicht vom Fleck zu kommen und an der

gleichen Stelle zu laufen. Es war ein wahrer Irrgarten, aber ein Irrgarten der Regelmäßigkeit

und Gleichheit.

Momo war schon nahe daran, den Mut zu verlieren, als sie plötzlich einen letzten grauen

Herren um eine Ecke biegen sah. Er humpelte, seine Hose war zerrissen, Hut und Aktentasche

fehlten ihm, nur in seinem verbissen zusammengepreßten Mund qualmte noch der Stummel

einer kleinen grauen Zigarre.

Momo folgte ihm, bis zu einer Stelle, wo in der endlosen Reihe der Häuser plötzlich eines

fehlte. Statt dessen war dort ein hoher Bauzaun aus rohen Brettern errichtet, der ein weites

Geviert umgab. In diesem Bauzaun war ein Tor, das ein wenig offenstand, und dort hinein

huschte der letzte Nachzügler der grauen Herren.

Über dem Tor befand sich ein Schild, und Momo blieb stehen, um es zu entziffern.

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Das Ende, mit dem etwas Neues beginnt

Momo hatte sich mit dem Buchstabieren der Warntafel aufgehalten. Als sie nun durch das Tor

schlüpfte, war auch von dem letzten grauen Herren nichts mehr zu sehen.

Vor ihr lag eine riesige Baugrube, die wohl zwanzig, dreißig Meter tief sein mochte. Bagger

und andere Baumaschinen standen umher. Auf einer schrägen Rampe, die zum Grunde der

Grube hinunterführte, waren einige Lastwagen mitten in der Fahrt stehengeblieben. Da und

dort standen Bauarbeiter, reglos in ihren jeweiligen Haltungen erstarrt. Aber wohin nun?

Momo konnte keinen Eingang entdecken, den der graue Herr benutzt haben mochte. Sie

schaute auf Kassiopeia, aber diese schien auch nicht weiterzuwissen. Keine Buchstaben

erschienen auf ihrem Panzer.

Momo kletterte auf den Grund der Baugrube hinunter und schaute sich um. Und nun sah sie

plötzlich noch mal ein bekanntes Gesicht. Da stand Nicola, der Maurer, der ihr damals das

schöne Blumenbild an die Wand ihres Zimmers gemalt hatte. Natürlich war auch er reglos,

wie alle anderen, aber seine Haltung war seltsam. Er stand da, eine Hand an den Mund gelegt,

als ob er irgendwem etwas zuriefe, und mit der anderen Hand zeigte er auf die Öffnung eines

riesenhaften Rohres, das neben ihm aus dem Boden der Baugrube ragte. Und es ergab sich

gerade so, daß er dabei Momo anzublicken schien.

Momo überlegte nicht lang, sie nahm es einfach als ein Zeichen und kletterte in das Rohr

hinein. Kaum war sie drin, geriet sie ins Rutschen, denn das Rohr führte steil abwärts. Es

machte allerlei Windungen, so daß sie wie auf einer Rutschbahn hin und her geschleudert

wurde. Hören und Sehen verging ihr beinahe bei der rasenden Fahrt, tiefer und

tiefer hinunter. Manchmal trudelte sie um sich selbst, so daß sie mit dem Kopf voran

dahinsauste. Aber sie ließ dabei weder die Schildkröte noch die Blume los. Je tiefer sie kam,

desto kälter wurde es. Einen Augenblick dachte sie auch daran, wie sie wohl je wieder hier

herauskommen könne, aber noch ehe sie recht dazu kam, sich Gedanken zu machen, endete

die Röhre plötzlich in einem unterirdischen Gang.

Hier war es nicht mehr finster. Es herrschte ein aschengraues Halblicht, das von den Wänden

selbst auszugehen schien. Momo stand auf und lief weiter. Da sie barfuß war, machten ihre

Schritte kein Geräusch, wohl aber die des grauen Herrn, die sie nun wieder vor sich hörte. Sie

folgte dem Klang.

Von dem Gang zweigten nach allen Seiten andere Gänge ab, ein unterirdisches

Aderngeflecht, das sich, wie es schien, unter dem ganzen Neubau-Viertel hinzog.

Dann hörte sie Stimmengewirr. Sie ging ihm nach und lugte vorsichtig um eine Ecke.

Vor ihren Augen lag ein riesiger Saal mit einem schier endlosen Konferenztisch in der Mitte.

Um diesen Tisch saßen in zwei langen Reihen die grauen Herren – oder vielmehr, das

Häuflein, das von ihnen noch übrig war. Und wie armselig sahen diese letzten Zeit-Diebe jetzt

aus ! Ihre Anzüge waren zerfetzt, sie hatten Beulen und Schrunden auf ihren grauen Glatzen,

und ihre Gesichter wirkten verzerrt von Angst. Nur ihre Zigarren brannten noch.

Momo sah, daß ganz hinten an der Rückwand des Saales eine riesige Panzertür ein wenig

offenstand. Eisige Kälte wehte aus dem Saal. Obwohl Momo wußte, daß es nichts half,

kauerte sie sich nieder und wickelte die nackten Füße in ihren Rock.

»Wir müssen«, hörte sie nun einen grauen Herrn sagen, der ganz oben am Konferenztisch vor

der Panzertür saß, »sparsam mit unseren Vorräten umgehen, denn wir wissen nicht, wie lange

wir mit ihnen auskommen müssen. Wir müssen uns einschränken.« »Wir sind nur noch

wenige!« schrie ein anderer. »Die Vorräte reichen auf Jahre hinaus!«

»Je eher wir zu sparen beginnen«, fuhr der Redner ungerührt fort, »desto länger werden wir

durchhalten. Und Sie wissen, meine Herren, was ich mit sparen meine. Es genügt völlig, wenn

einige von uns diese Katastrophe überstehen. Wir müssen die Dinge sachlich betrachten ! So,

wie wir hier sitzen, meine Herren, sind wir zu viele ! Wir müssen unsere Zahl beträchtlich

verringern. Das ist ein Gebot der Vernunft. Darf ich Sie bitten, meine Herren, nun

abzuzählen?«

Die grauen Herren zählten ab. Danach zog der Vorsitzende eine Münze aus der Tasche und

erklärte : »Wir werden losen. Zahl bedeutet, daß die Herren mit den geraden Zahlen bleiben,

Kopf bedeutet die mit den ungeraden.«

Er warf die Münze in die Luft und fing sie auf. »Zahl!« rief er. »Die Herren mit den geraden

Zahlen bleiben, die mit den ungeraden werden ersucht, sich unverzüglich aufzulösen!« Ein

tonloses Stöhnen lief durch die Reihe der Verlierer, aber keiner wehrte sich.

Die Zeit-Diebe mit den geraden Zahlen nahmen den anderen ihre Zigarren fort, und die

Verurteilten lösten sich in Nichts auf. »Und nun«, sagte der Vorsitzende in die Stille hinein,

»dasselbe noch einmal, wenn ich bitten darf.«

Die gleiche schauerliche Prozedur erfolgte ein zweites, ein drittes und schließlich sogar ein

viertes Mal. Zuletzt waren nur noch sechs der grauen Herren übrig. Sie saßen sich zu drei und

drei am Kopfende des endlosen Tisches gegenüber und sahen sich eisig an. Momo hatte den

Vorgang mit Schaudern beobachtet. Sie bemerkte, daß jedesmal, wenn die Zahl der grauen

Herren geringer wurde, die

fürchterliche Kälte merklich nachließ. Im Vergleich zu vorher war es jetzt schon beinahe

erträglich.

»Sechs«, sagte einer der grauen Herren, »ist eine häßliche Zahl.« »Genug jetzt«, antwortete

einer von der anderen Seite des Tisches, »es hat keinen Zweck mehr, unsere Zahl noch weiter

zu verringern. Wenn es uns sechsen nicht gelingt, die Katastrophe zu überdauern, dann

gelingt es dreien auch nicht.«

»Das ist nicht gesagt«, meinte ein anderer, »aber falls es nötig sein sollte, können wir ja

immer noch darüber reden. Später, meine ich.« Eine Weile war es still, dann erklärte einer:

»Wie gut, daß die Tür zu den Vorrats-Speichern gerade offenstand, als die Katastrophe

begann. Wäre sie im entscheidenden Augenblick geschlossen gewesen, dann könnte sie jetzt

keine Macht der Welt öffnen. Wir wären verloren.« »Leider haben Sie nicht ganz recht, mein

Bester«, antwortete ein anderer. »Indem das Tor offensteht, entweicht die Kälte aus den

Gefrier-Kellern. Nach und nach werden die Stunden-Blumen auftauen. Und Sie alle wissen,

daß wir sie dann nicht mehr daran hindern können, dorthin zurückzukehren, wo sie

hergekommen sind.« »Sie meinen«, fragte ein dritter, »daß unsere Kälte jetzt nicht mehr

ausreicht, die Vorräte tiefgekühlt zu halten?« »Wir sind leider nur sechs«, erwiderte der

zweite Herr, »und Sie können sich selbst ausrechnen, wieviel wir ausrichten können. Mir

scheint, es war ziemlich voreilig, unsere Anzahl derartig rigoros zu vermindern. Wir werden

nichts dabei gewinnen.« »Für eine von beiden Möglichkeiten mußten wir uns entscheiden«,

rief der erste Herr, »und wir haben uns entschieden.« Wieder entstand eine Stille.

»So werden wir also nun vielleicht jahrelang sitzen und nichts tun, als uns gegenseitig

bewachen«, meinte einer. »Ich muß gestehen – eine trostlose Vorstellung. «Momo dachte

nach. Hier nur zu sitzen und weiter zu warten, hatte gewiß keinen Sinn. Wenn es keine grauen

Herren mehr gab, dann würden die Stunden-Blumen also von selbst auftauen. Aber vorläufig

gab es die grauen Herren ja noch. Und es würde sie immer weiter geben, wenn sie nichts tat.

Aber was konnte sie tun, da die Tür zu den Vorrats-Speichern ja offenstand und die Zeit-

Diebe sich nach Belieben Nachschub holen konnten? Kassiopeia strampelte, und Momo

schaute sie an. »DU MACHST DIE TÜR zu!« stand auf ihrem Panzer. »Das geht nicht!« flüsterte

Momo. »Sie ist doch unbeweglich.« »MIT DER BLUME BERÜHREN!« war die Antwort. »Ich

kann sie bewegen, wenn ich sie mit der Stunden-Blume berühre?« wisperte Momo.

»DU WIRST ES TUN«, stand auf dem Panzer.

Wenn Kassiopeia es vorauswußte, dann mußte es wohl auch so sein. Momo setzte die

Schildkröte vorsichtig auf den Boden. Dann steckte sie die Stundenblume, die inzwischen

schon ziemlich welk war und nicht mehr sehr viele Blütenblätter hatte, unter ihre Jacke.

Ungesehen von den sechs grauen Herren gelang es ihr, unter den langen Konferenztisch zu

kriechen. Dort lief sie auf allen vieren weiter, bis sie das andere Ende des langen Tisches

erreichte. Nun saß sie zwischen den Füßen der Zeit-Diebe. Das Herz klopfte ihr zum

Zerspringen. Leise, leise zog sie die Stunden-Blume hervor, nahm sie zwischen die Zähne und

krabbelte zwischen den Stühlen hindurch, ohne daß einer der grauen Herren es bemerkte.

Sie erreichte die offenstehende Tür, berührte sie mit der Blüte und schob gleichzeitig mit der

Hand. Die Tür drehte sich geräuschlos in ihren Angeln, drehte sich wirklich, und fiel

donnernd ins Schloß. Der Hall löste ein vielfaches Echo im Saal und in den tausend

unterirdischen Gängen aus.

Momo sprang auf. Die grauen Herren, die nicht im entferntesten damit gerechnet hatten, daß

außer ihnen noch irgendein anderes Wesen vom völligen Stillstand ausgenommen sein

könnte, saßen vor Schreck erstarrt auf ihren Stühlen und stierten das Mädchen an. Ohne sich

zu besinnen, rannte Momo an ihnen vorbei auf den Ausgang des Saales zu. Und nun rafften

sich auch die grauen Herren auf und jagten hinter ihr drein.

»Das ist doch dieses schreckliche kleine Mädchen!« hörte sie einen rufen. »Das ist Momo!«

» Das gibt es nicht ! « schrie ein anderer. » Wieso kann sie sich bewegen ?« »Sie hat eine

Stunden-Blume!« brüllte ein dritter. »Und damit«, fragte der vierte, »konnte sie die Tür

bewegen?« Der fünfte schlug sich wild vor den Kopf: »Dann hätten wir das ja auch gekonnt!

Wir haben doch genügend davon!« »Gehabt, gehabt!« kreischte der sechste, »aber jetzt ist die

Tür zu ! Es gibt nur noch eine Rettung: Wir müssen die Stunden-Blume des Mädchens

kriegen, sonst ist alles aus!«

Inzwischen war Momo schon irgendwo in den Gängen verschwunden, die sich immer wieder

verzweigten. Aber hier wußten die grauen Herren natürlich besser Bescheid. Momo jagte

kreuz und quer, manchmal lief sie einem Verfolger fast in die Arme, aber immer wieder

gelang es ihr zu entwischen.

Und auch Kassiopeia beteiligte sich auf ihre Art an diesem Kampf. Sie konnte zwar nur

langsam krabbeln, aber da sie ja immer im voraus wußte, wo die Verfolger laufen würden,

erreichte sie die Stelle rechtzeitig und legte sich so in den Weg, daß die Grauen über sie

stolperten und sich auf dem Boden überkugelten. Die Nachkommenden fielen über die

Liegenden, und so rettete die Schildkröte mehrmals das Mädchen vor dem fast schon sicheren

Gefaßtwerden. Natürlich flog sie dabei selbst oft, von einem Fußtritt getroffen, gegen die

Wand. Aber das hielt sie nicht ab, weiterhin das zu tun, wovon sie eben vorherwußte, daß sie

es tun würde.

Bei dieser Verfolgung verloren einige der grauen Herren – besinnungslos vor Gier nach der

Stunden-Blume- ihre Zigarren und lösten sich, einer nach dem ändern, in Nichts auf.

Schließlich waren nur noch zwei von ihnen übrig.

Momo war in den großen Saal mit dem langen Tisch zurückgeflohen. Die beiden Zeit-Diebe

verfolgten sie rund um den Tisch, konnten sie aber nicht einholen. Dann teilten sie sich und

liefen in entgegengesetzten Richtungen.

Und nun gab es für Momo kein Entrinnen mehr. Sie stand in eine Ecke des Saales gepreßt und

blickte den beiden Verfolgern angsterfüllt entgegen. Die Blume hielt sie an sich gedrückt. Nur

noch drei schimmernde Blütenblätter hingen daran.

Der erste Verfolger wollte eben die Hand nach der Blume ausstrecken, als der zweite ihn

zurückriß. »Nein«, schrie er, »mir gehört die Blume! Mir!« Die beiden fingen an sich

gegenseitig zurückzureißen. Dabei schlug der erste dem zweiten die Zigarre aus dem Mund,

und der drehte sich mit einem geisterhaften Wehlaut um sich selbst, wurde durchsichtig und

verschwand. Und nun kam der letzte der grauen Herren auf Momo zu. In seinem Mundwinkel

qualmte noch ein winziger Stummel. »Her mit der Blume !« keuchte er, dabei fiel ihm der

winzige Stummel aus dem Mund und rollte fort. Der Graue warf sich auf den Boden und

grapschte mit ausgestrecktem Arm danach, konnte ihn aber nicht mehr erreichen. Er wandte

Momo sein aschengraues Gesicht zu, richtete sich mühsam halb auf und hob zitternd seine

Hand. »Bitte«, flüsterte er, »bitte, liebes Kind, gib mir die Blume!« Momo stand noch immer

in die Ecke gepreßt, drückte die Blume an sich und schüttelte, keines Wortes mehr mächtig,

den Kopf.

Der letzte graue Herr nickte langsam. »Es ist gut«, murmelte er, »es ist gut-, daß nun – alles –

vorbei – ist—« Und dann war auch er verschwunden.

Momo starrte fassungslos auf die Stelle, wo er gelegen hatte. Aber dort krabbelte jetzt

Kassiopeia, auf deren Rücken stand: »DU MACHST DIE TÜR AUF.«

Momo ging zu der Tür, berührte sie wieder mit ihrer Stunden-Blume, an der nur noch ein

einziges, letztes Blütenblatt hing, und öffnete sie weit.

Mit dem Verschwinden des letzten Zeit-Diebes war auch die Kälte gewichen.

Momo ging mit staunenden Augen in die riesigen Vorratsspeicher hinein. Unzählige Stunden-

Blumen standen hier wie gläserne Kelche aufgereiht in endlosen Regalen, und eine war

herrlicher anzusehen als die andere, und keine war einer anderen gleich – Hunderttausende,

Millionen von Lebensstunden. Es wurde warm und wärmer wie in einem Treibhaus.

Während das letzte Blatt von Momos eigener Stunden-Blume abfiel, begann mit einem Mal

eine Art Sturm. Wolken von Stunden-Blumen wirbelten um sie her und an ihr vorüber. Es war

wie ein warmer Frühlingssturm, aber ein Sturm aus lauter befreiter Zeit. Momo schaute wie

im Traum umher und sah Kassiopeia vor sich auf dem Boden. Und auf ihrem Rückenpanzer

stand in leuchtender Schrift:

»FLIEGE HEIM, KLEINE MOMO, FLIEGE HEIM!«

Und dies war das letzte, was Momo von Kassiopeia sah. Denn nun verstärkte sich der Sturm

der Blüten ganz unbeschreiblich, wurde so gewaltig, daß Momo aufgehoben und

davongetragen wurde, als sei sie selbst eine der Blumen, hinaus, hinaus aus den finsteren

Gängen, hinauf über die Erde und hinauf über die große Stadt. Sie flog dahin über die Dächer

und Türme in einer riesigen Wolke aus Blumen, die immer größer und größer wurde. Und es

war wie ein übermütiger Tanz nach einer herrlichen Musik, in dem sie auf und nieder

schwebte und sich um sich selbst drehte.

Dann senkte sich die Blütenwolke langsam und sacht hernieder, und die Blumen fielen wie

Schneeflocken auf die erstarrte Welt. Und wie Schneeflocken, so lösten sie sich sanft auf und

wurden wieder unsichtbar, um dorthin zurückzukehren, wohin sie eigentlich gehörten: in die

Herzen der Menschen.

Im selben Augenblick begann die Zeit wieder, und alles regte und bewegte sich von neuem.

Die Autos rühren, die Verkehrsschutzleute pfiffen, die Tauben flogen und der kleine Hund am

Lichtmast machte sein Bächlein.

Davon, daß die Welt für eine Stunde still gestanden hatte, hatten die Menschen nichts

bemerkt. Denn es war ja tatsächlich keine Zeit verstrichen zwischen dem Aufhören und dem

neuen Beginn. Es war für sie vorübergegangen wie ein Wimpernschlag. Und doch war etwas

anders geworden als vorher. Alle Leute hatten nämlich plötzlich unendlich viel Zeit. Natürlich

war darüber jedermann außerordentlich froh, aber niemand wußte, daß es in Wirklichkeit

seine eigene gesparte Zeit war, die nun auf wunderbare Weise zu ihm zurückkehrte.

Als Momo wieder recht zur Besinnung kam, fand sie sich auf einer Straße wieder. Es war die

Seitenstraße, wo sie vorher Beppo gefunden hatte, und wirklich, dort stand er noch ! Stand

mit dem Rücken zu ihr, auf seinen Besen gestützt, und schaute nachdenklich vor sich hin,

ganz wie früher. Er hatte es auf einmal gar nicht mehr eilig und konnte sich selbst nicht

erklären, wieso er sich plötzlich so getröstet und voller Hoffnung fühlte.

»Vielleicht«, dachte er, »habe ich jetzt die hunderttausend Stunden eingespart und Momo

freigekauft.«

Und genau in diesem Augenblick zupfte ihn jemand an der Jacke, und er drehte sich um, und

die kleine Momo stand vor ihm. Es gibt wohl keine Worte, die das Glück des Wiedersehens

beschreiben können. Beide lachten und weinten abwechselnd und redeten fortwährend

durcheinander und natürlich lauter dummes Zeug, wie das eben so ist, wenn man vor Freude

wie betrunken ist. Und sie umarmten sich immer wieder, und die Leute, die vorübergingen,

blieben stehen und freuten sich und lachten und weinten mit, denn sie hatten ja nun alle

genügend Zeit dazu.

Endlich schulterte Beppo seinen Besen, denn es versteht sich wohl von selbst, daß er für

diesen Tag nicht mehr ans Arbeiten dachte. So wanderten die beiden Arm in Arm durch die

Stadt, heimwärts zum alten Amphitheater. Und jeder hatte dem anderen unendlich viel zu

erzählen.

Und in der großen Stadt sah man, was man seit langem nicht mehr gesehen hatte : Kinder

spielten mitten auf der Straße, und die Autofahrer, die warten mußten, guckten lächelnd zu,

und manche stiegen aus und spielten einfach mit. Überall standen Leute, plauderten

freundlich miteinander und erkundigten sich ausführlich nach dem gegenseitigen

Wohlergehen. Wer zur Arbeit ging, hatte Zeit, die Blumen in einem Fenster zu bewundern

oder einen Vogel zu füttern. Und die Ärzte hatten jetzt Zeit, sich jedem ihrer Patienten

ausführlich zu widmen. Die Arbeiter konnten ruhig und mit Liebe zur Sache arbeiten, denn es

kam nicht mehr darauf an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit fertigzubringen. Jeder

konnte sich zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte, denn von nun an

war ja wieder genug davon da.

Aber viele Leute haben nie erfahren, wem das alles zu verdanken war, und was in

Wirklichkeit während jenes Augenblicks, der ihnen wie ein Wimpernschlag vorkam,

geschehen ist. Die meisten Leute hätten es wohl auch nicht geglaubt. Geglaubt und gewußt

haben es nur Momos Freunde.

Denn als die kleine Momo und der alte Beppo an diesem Tag ins alte Amphitheater

zurückkamen, waren sie alle schon da und warteten: Gigi Fremdenführer, Paolo, Massimo,

Franco, das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé, Claudio und alle

anderen Kinder, Nino, der Wirt, mit Liliana, seiner dicken Frau, und seinem Baby, Nicola, der

Maurer, und alle Leute aus der Umgebung, die früher immer gekommen waren, und denen

Momo zugehört hatte. Dann wurde ein Fest gefeiert, so vergnügt, wie nur Momos Freunde es

zu feiern verstehen, und es dauerte, bis die alten Sterne am Himmel standen. Und nachdem

der Jubel und das Umarmen und Händeschütteln und Lachen und Durcheinanderschreien sich

gelegt hatte, setzten alle sich rundherum auf die grasbewachsenen steinernen Stufen. Es

wurde ganz still.

Momo stellte sich in die Mitte des freien runden Platzes. Sie dachte an die Stimmen der

Sterne und an die Stunden-Blumen. Und dann begann sie mit klarer Stimme zu singen.

Im Nirgend-Haus aber saß Meister Hora, den die zurückgekehrte Zeit aus seinem ersten und

einzigen Schlaf erweckt hatte, auf seinem Stuhl an dem kleinen zierlichen Tischchen und

schaute Momo und ihren Freunden lächelnd durch seine Allsicht-Brille zu. Er war.noch sehr

blaß und sah aus, als sei er eben von einer schweren Krankheit genesen. Aber seine Augen

strahlten.

Da fühlte er, wie etwas ihn am Fuß berührte. Er nahm seine Brille ab und beugte sich

hinunter. Vor ihm saß die Schildkröte. »Kassiopeia«, sagte er zärtlich und kraulte sie am Hals,

»das habt ihr beide sehr gut gemacht. Du mußt mir alles erzählen, denn diesmal konnte ich

euch ja nicht zusehen.«

»SPÄTER!« stand auf dem Rückenpanzer. Dann nieste Kassiopeia. »Du hast dich doch nicht

etwa erkältet?« fragte Meister Hora besorgt. »UND WIE!« war Kassiopeias Antwort.

»Das wird durch die Kälte der grauen Herren gekommen sein«, meinte Meister Hora. »Ich

kann mir denken, daß du sehr erschöpft bist und dich erst einmal gründlich ausruhen

möchtest. Also ziehe dich ruhig zurück.«

»DANKE!« stand auf dem Panzer.

Dann hinkte Kassiopeia davon und suchte sich einen stillen und dunklen Winkel. Sie zog

ihren Kopf und ihre vier Glieder ein, und auf ihrem Rücken, für niemand mehr sichtbar als

nur für den, der diese Geschichte gelesen hat, erschienen langsam die Buchstaben:

                                ENDE

 

 

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